S 70 SO 1726/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 70 SO 1726/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

zum Nachweis der finanziellen Hilfebedürftigkeit des Patienten im Spannungsfeld zwischen materieller Beweislast des Krankenhauses und Amtsermittlungspflicht des Sozialhilfeträgers (bzw. des Gerichts)

GSW

Sozialgericht Berlin

 

 

S 70 SO 1726/19

 

 

 

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

         … gGmbH,
vertreten durch die Geschäftsführer … & …
,

 

In Sachen: S., J. geb. … 1967

- Kläger -

Proz.-Bev.:

Rechtsanwältin …,
… Klinikverbund … g GmbH  c/o Klinikum … gGmbH

gegen

         das Land Berlin vertreten durch das Bezirksamt Spandau von Berlin,
Amt für Soziales 

Galenstr. 14, 13578 Berlin,
 

- Beklagter -

 

 

hat die 70. Kammer des Sozialgerichts Berlin ohne mündliche Verhandlung am 14. Juni 2024 durch die Richterin am Sozialgericht … sowie die ehrenamtlichen Richter … und … für Recht erkannt:

 

 

            Die Klage wird abgewiesen.

            Kosten sind nicht zu erstatten.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Erstattung von Kosten in Höhe von 8.886,93 Euro als Nothelferin. 

 

Am Montag, den 22. Januar 2018 um 20.04 Uhr, außerhalb der Geschäftszeiten des Beklagten, wurde der am 17. Mai 1967 geborene Patient J. S. aufgrund einer akuten Fußverbrennung 2. Grades als Notfall bei der Klägerin aufgenommen und bis zum 30. Januar 2018 stationär behandelt. Hierfür fielen Kosten in Höhe von 8.886,93 Euro an.

 

Der Patient trug bei Aufnahme bei der Klägerin keine Ausweispapiere bei sich. Er gab gegenüber der Klägerin in einem Fragebogen an, die polnische Staatsangehörigkeit inne zu haben, seit drei Jahren in Berlin zu sein, zuvor in Polen gelebt zu haben, vor dem Krankenhausaufenthalt gearbeitet zu haben mit einem Lohn von 400 Euro. Zudem gab er als Wohnort eine Adresse in Polen an. Zu einer etwaigen Krankenversicherung machte er keine Angaben. Der Fragebogen ist nicht unterschrieben worden. Der Patient legte zudem eine Freistellungsbescheinigung zum Steuerabzug bei Bauleistungen vom Finanzamt Cottbus aus dem Jahr 2015 vor, wo das Geburtsdatum des Patienten und eine polnische Adresse in L. aufgeführt wurden.

 

Die Klägerin beantragte am 23. Januar 2018 bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten der Behandlung.

 

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Kostenübernahme ab (Bescheid vom 8. Mai 2019, Widerspruchsbescheid vom 11. November 2019). Das Tatbestandsmerkmal „Leistungen, die bei rechtzeitigen Einsetzen von Leistungen des Sozialamtes vom Nothelfer nicht zu erbringen gewesen wären“ sei nicht erfüllt. Leistungen wären an den Patienten wegen fehlender Identität, ungeklärter Versicherungsverhältnisse sowie nicht nachgewiesener Bedürftigkeit vom Sozialamt nicht erbracht worden. Der Nothelfer trage die materielle Beweislast, dass ein Eilfall vorgelegen habe. Eine Person mit den im Antrag angegebenen Personalien sei im Land Berlin nicht erfasst. Es läge kein Identitätsnachweis vor, weshalb keine korrekte Prüfung eines Leistungsanspruchs nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) möglich sei. Das Schreiben des Finanzamtes reiche nicht für eine Identifizierung.

 

Die Klägerin hat am 9. Dezember 2019 Klage erhoben. Es habe sich aufgrund der akuten Verbrennungen medizinisch um einen Eilfall gehandelt. Auch das sozialhilferechtliche Moment sei gegeben. Eine frühere Mitteilung des Beklagten sei aufgrund der späten Aufnahme um 20:04 Uhr nicht möglich gewesen. Die Leistungspflicht scheitere auch nicht am Nachrang der Sozialhilfe. Der Patient sei nicht gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in der Auffangversicherung pflichtversichert gewesen, da er keinen Wohnort in Deutschland hatte (§ 5 Abs. 11 S. 2 SGB V). Außerdem seien die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung aufgrund des geringen monatlichen Einkommens von 400 Euro nicht erfüllt. Der Beklagte habe seine Amtsermittlungspflichten verletzt, da er weitere Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit hätte anstellen müssen.

 

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 8. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. November 2019 zu verurteilen, der Klägerin für die Behandlung des Patienten J. S. in der Zeit vom 22. Bis zum 30. Januar 2018 Kosten von 8.886,93 Euro zu erstatten.

 

Der Beklagte beantragt,

            die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte hat auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen und ergänzend ausgeführt, dass das Heimatland des Patienten ein obligatorisches Sozialversicherungssystem für alle Einwohnerinnen besitze – ohne Ausnahmen von der Versicherungspflicht. Der Patient habe einen Wohnsitz in Polen angegeben. Daher bestehe ein Krankenversicherungsschutz.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese haben der Kammer vorgelegen und sind Gegenstand der geheimen Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

 

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

 

Die als Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG zulässige Klage ist unbegründet.

 

Der Bescheid vom 8. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. November 2019 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der Kosten für die stationäre Krankenhausbehandlung des Patienten J. S. vom 22. bis zum 30. Januar 2018 in Höhe von 8.886,93 Euro.

Als Anspruchsgrundlage kommt allein § 25 SGB XII in Betracht. Danach hat eine Person einen Anspruch auf Erstattung ihrer Aufwendungen in gebotenem Umfang, wenn sie in einem Eilfall einem Anderen Leistungen erbracht hat, die bei rechtzeitigem Einsetzen der Sozialhilfe nicht zu erbringen gewesen wären, wenn sie sie nicht aufgrund rechtlicher oder sittlicher Pflicht selbst zu tragen hat. Dies gilt nur, wenn die Erstattung innerhalb angemessener Frist beim zuständigen Sozialhilfeträger beantragt wird.

Die Voraussetzungen des § 25 SGB XII liegen nicht vor.

Ein Eilfall im Sinne des § 25 SGB XII hat ein bedarfsbezogenes Moment (medizinischer Eilfall) wie auch ein sozialhilferechtliches (Unerreichbarkeit des Beklagten), vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 – B 8 SO 13/12 R. Das bedarfsbezogene Moment lag unstreitig vor. Der Patient ist aufgrund eines Notfalls eingeliefert worden, der sofortige medizinische Hilfe verlangte.

 

Das sozialhilferechtliche Moment war allerdings nur am 22. Januar 2018 gegeben.

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG beseht ein eigenständiger Anspruch des Nothelfers nach § 25 Satz 1 SGB XII in Abgrenzung zum Anspruch des Hilfebedürftigen nur dann, wenn und solange der Sozialhilfeträger keine Kenntnis vom Leistungsfall hat und ein Anspruch des Hilfebedürftigen gegen den Sozialhilfeträger (nur) deshalb nicht entsteht. Grundsätzlich darf eine rechtzeitige Leistung des Sozialhilfeträgers objektiv nicht zu erlangen sein; dieser darf nicht eingeschaltet werden können. Die (mögliche) Kenntnis des Sozialhilfeträgers bildet damit die Zäsur für die sich gegenseitig ausschließenden Ansprüche des Nothelfers und des Hilfebedürftigen (BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022 – B 8 SO 2/21 R, juris, Rn. 15). Ein Eilfall ist ausgeschlossen, soweit und sobald es dem Nothelfer möglich und zuzumuten ist, den Sozialhilfeträger von der Notlage zu unterrichten, damit dieser selbst leisten oder seine Leistungsverpflichtung prüfen kann (BeckOK SozR/Groth, 70. Ed. 1.9.2023, SGB XII § 25 Rn. 7).

Der Patient wurde wegen einer akuten Fußverbrennung am 22. Januar 2018 (einem Montag) um 20:04 Uhr aufgenommen, also nach den Geschäftszeiten des Beklagten. Daher war am 22. Januar 2018 ein Eilfall gegeben. Am 23. Januar 2018 hat die Klägerin den Beklagten von dem Leistungsfall in Kenntnis gesetzt, weshalb ein etwaiger Nothelferanspruch endet.

Ein Anspruch auf Kostenersatz besteht aber auch nicht für den 22. Januar 2018. Denn der Erstattungsanspruch scheitert am Erfordernis der hypothetischen Leistungspflicht des Beklagten. Ein Anspruch des Nothelfers gegen den Sozialhilfeträger besteht nur dann, wenn der Sozialhilfeträger die Kosten der gewährten Hilfe hätte tragen müssen, wäre ihm der Hilfebedarf rechtzeitig bekannt geworden.

 

Die Kammer ist dem Beklagten nicht dahingehend gefolgt, dass ein Nothelferanspruch bereits an dem fehlenden Identitätsnachweis des Patienten scheitert. Denn es ergeben sich aus der Akte keine Anhaltspunkte dafür (z.B. etwaige widersprüchliche Angaben oder Betrugsanzeigen), dass der Patient eine falsche Identität angegeben hat.

Die Kammer hat aber nicht die volle Überzeugung davon gewinnen können, dass der Patient hilfebedürftig war. Gem. § 19 Abs. 3 SGB XII werden Hilfen zur Gesundheit, darunter die hier in Rede stehende Hilfe bei Krankheit nach § 23 Abs. 1 Satz 1 iVm § 48 Satz 1 SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nicht zuzumuten ist.

Die Annahme der finanziellen Hilfebedürftigkeit des Patienten beruht lediglich auf seinen knappen Angaben, die er in dem – nicht unterschriebenen – Fragebogen gemacht hat, und die nicht bewiesen sind. Die Kammer konnte alleine aufgrund dieser Angaben nicht zu der Überzeugung gelangen, dass der Patient hilfebedürftig war. Er gab an, zum Arbeiten in Deutschland zu sein, ein Einkommen in Höhe von 400 Euro zu haben, aber in Polen zu wohnen. Es könnte sein, dass der Patient in Polen noch weitere Einnahmequellen hat, die er nicht angegeben hat. Das Pendeln nach Deutschland zum Arbeiten setzt gewisse finanzielle Mittel voraus. Zudem liegen keine Lohnnachweise oder sonstige Unterlagen (z.B. Kontoauszüge) vor, die die konstante Einkommenshöhe von 400 Euro nachweisen könnten.

Die Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen des § 25 SGB XII geht grundsätzlich zu Lasten des Nothelfers, hier also der Klägerin. Der materiellen Beweislast der Klägerin steht die Amtsermittlungspflicht des Beklagten gegenüber. Verschafft der Nothelfer dem Sozialhilfeträger also die Kenntnis vom Eilfall, obliegt diesem - nicht anders als im Falle der Vermittlung der Kenntnis durch den Hilfebedürftigen selbst - die weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen nach § 20 SGB X, auch wenn der Nothelfer die materielle Beweislast dafür trägt, dass der geltend gemachte Anspruch besteht (BSG, Urteil vom 18. November 2014 – B 8 SO 9/13 R). Da eine LABO-Anfrage des Beklagten ergebnislos lief, der Patient unbekannt blieb, die zum Zeitpunkt des Aufenthaltes aktuelle polnische Adresse im Fragebogen nicht lesbar war, waren keine weiteren Ermittlungen zu erwarten. Auch die im Schreiben des Finanzamtes angegebene Adresse hätte der Beklagte nicht anschreiben müssen, da das Schreiben drei Jahre vor dem Aufenthalt lag, und die wohl aktuellere Adresse im Fragebogen – soweit lesbar – von der Adresse auf dem Schreiben abwich (die Zahl 54 kommt in der Adresse nicht vor). Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht ist nicht zu sehen.

Die Klägerin hätte den neuntägigen Aufenthalt des Patienten nutzen können (und müssen), weitere Auskünfte bei ihm einzuholen. Er war ansprechbar. Es ist der Klägerin zuzumuten, mit Hilfe des hauseigenen Sozialdienstes den Patienten zu dessen genaueren Einkommensverhältnissen bzw. zu dessen Lebenslauf zu befragen (Eigentumsverhältnisse in Polen, Kontoauszüge ggf. durch Onlinebanking auf dem Handy, Lohnnachweise ggf. auf dem Handy). Der oberflächliche Fragebogen, der nur mit knappen Worten ausgefüllt wurde und teilweise gar nicht (bzgl. der Krankenversicherungsdaten) bzw. nicht lesbar (Adresse), reicht nicht aus, eine Hilfebedürftigkeit nachzuweisen, zumal noch eine Unterschrift des Patienten fehlt. Für eine Obdachlosigkeit des Patienten, was möglicherweise zu einem anderen Ergebnis führen könnte, gibt es hier keine Anhaltspunkte. Aber auch für die Nothelferansprüche im Falle eines Obdachlosen sei angemerkt, dass ein oberflächliches Ausfüllen eines oberflächlichen Fragebogens einen Nothelferanspruch nicht belegen dürfte, sondern der Sozialdienst nach Überzeugung der Kammer gehalten ist, weitere Angaben zum Lebenslauf einzuholen (und ggf. gesondert zu vermerken), um eine ausreichende Tatsachengrundlage zu schaffen.

Angesichts der nach allem nicht festgestellten Hilfebedürftigkeit des Patienten konnte dahinstehen, ob einer Leistungspflicht der Beklagten außerdem der Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 SGB XII) wegen eines etwaigen Krankenversicherungsschutzes des Patienten entgegengestanden hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

 

Rechtskraft
Aus
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