L 11 KR 844/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 28 KR 3121/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 844/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 24. August 2021 geändert und die Klage abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Erstattung der von der verstorbenen Versicherten aufgewendeten Kosten für die Beschaffung des Arzneimittels Rytary.

 

Die 00.00.0000 geborene und am 00.00.0000 verstorbene Versicherte war bei der Beklagten versichert. Sie litt an einem idiopathischen Parkinson-Syndrom vom akinetisch rigiden Typ mit Wirkungsfluktuationen, Hoehn & Jahr Stadium 4, Erstdiagnose 2007 (ICD-10 620.11). Bei ihr war ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt.

 

Am 9. Juli 2019 verordnete der die Versicherte behandelnde Arzt O. des L. N. gGmbH das Arzneimittel Rytary. Dieses enthält eine Kombination der Wirkstoffe Levodopa und Carbidopa und wird eingesetzt, um die Symptome der Parkinson-Erkrankung zu behandeln. In der Europäischen Union verfügte das inhaltsgleiche Arzneimittel "Numient - levodopa/carbidopa" über eine Zulassung vom 19. November 2015 (Beschluss C (2015) 8294 [final]). Die Zulassung erfolgte für die symptomatische Behandlung der Parkinson-Krankheit bei Erwachsenen. Sie war gestützt auf zwei Studien, bei denen sich ergeben hatte, dass das Präparat bei der Linderung der Symptome sowohl im frühen als auch im späten Parkinson-Stadium wirksam war und der Nutzen die Risiken überwog.

 

Die Zulassung von Numient wurde auf Antrag des Zulassungsinhabers (Anmneal Pharma Europe Ltd.) vom 12. März 2019 mit Durchführungsbeschluss der Kommission vom 2. April 2019 (C [2019] 2705 [final]) widerrufen. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist das Arzneimittel unter dem Handelsnamen Rytary weiterhin zugelassen.

 

Die A. N. beantragte für die Versicherte unter Übersendung der Verordnung am 12. Juli 2019 die Kostenübernahme bei der Beklagten.

 

Bereits am 12. Juli 2019 beauftragte die Versicherte die A. mit der Beschaffung des Arzneimittels, das aus den Vereinigten Staaten von Amerika beschafft wurde. Für diesen Auftrag fielen 453,21 Euro an.

 

Mit Bescheid vom 16. Juli 2019 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab: Das Arzneimittel Rytary 23,75/95mg sei ein verschreibungspflichtiges und nur im Ausland erhältliches Arzneimittel. Die Voraussetzungen für die Kostenübernahme von aus dem Ausland importierten Arzneimitteln richte sich nach § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) und der dazu ergangenen Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 4. April 2009 (B 1 KR 7/05 R). Erforderlich sei die kumulative Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen, die hier nicht vorliege.

 

Gegen die Ablehnung erhob die Versicherte - vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten - mit Schreiben vom 22. Juli 2019 Widerspruch. Zur Begründung machte sie geltend (Schreiben vom 6. September 2019), dass sie einen ausnahmsweisen Anspruch aufgrund verfassungskonformer Auslegung der §§ 27, 31 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) habe. Sie sei infolge ihrer Parkinson-Erkrankung mehrfach gestürzt, da ihr Körper instabil sei und sie ihre Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren könne. Dies sei lebensbedrohlich. Durch die Einnahme von Rytary habe sich dieser Zustand erheblich verbessert. Das Arzneimittel sei im Rahmen einer Neueinstellung der Medikation in der Zeit vom 5. Juli 2019 bis zum 15. Juli 2019 ausführlich getestet worden. Es stehe in Europa kein Arzneimittel zur Verfügung, das in ähnlicher Weise die Dopamin-Dosis abgebe. Andere Therapieoptionen bestünden nicht.

 

Auf Anforderung der Beklagten übersandte die Klägerin den Entlassungsbericht der Klinik für Neurologie im L. N. vom 28. Juli 2019.

 

Auf Veranlassung der Beklagten (Schreiben vom 4. Oktober 2019) erstattete der Medizinische Dienst (MDK) der Krankenversicherung Nordrhein am 21. Oktober 2019 ein Gutachten nach Aktenlage. Er führte aus, dass es an einer unmittelbar lebensbedrohlichen bzw. regelmäßig tödlich verlaufenden oder die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigenden Erkrankung fehle.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2019 zurück: Ein Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit einem apothekenpflichtigen Arzneimittel bestehe nach §§ 31, 27 Abs. 1 Nr. 3 SGB V, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen seien. Gem. § 21 AMG dürften Fertigarzneimittel, die Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 seien, nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen seien oder wenn Genehmigung für das Inverkehrbringen durch die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union erteilt worden sei. Rytary sei in Deutschland nicht zugelassen. In Europa habe für das identische Präparat mit dem Handelsnamen Numient eine Zulassung bestanden, die durch die Europäische Kommission auf Antrag des Zulassungsinhabers widerrufen worden sei. Es fehle deshalb an der Zulassung des Arzneimittels. Nach dem Urteil des BSG vom 4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R - komme eine Kostenübernahme deshalb nur in Betracht, wenn die dort genannten Voraussetzungen kumulativ erfüllt seien, wozu insbesondere eine lebensbedrohliche Krankheit oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegen müsse und keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung stehen dürfe.

 

Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Nach den Ausführungen des MDK im Gutachten vom 21. Oktober 2019 fehle es an der schwerwiegenden, lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Krankheit, bei der ohne die beantragte Behandlung eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes mit Todesfolge oder eine schwere irreversible Behinderung eintreten werde. Nach dem restriktiven Maßstab des BSG müsse eine notstandsähnliche Situation gegeben sein, wie sie für einen zur Lebenserhaltung erforderlichen akuten Behandlungsbedarf erforderlich sei (Verweis auf Urteil vom 14. Dezember 2006, B 1 KR 12/06 R). Die Erweiterung des Leistungskataloges setze die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufes oder des nicht kompensierbaren Verlustes eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion voraus (Verweis auf Urteil vom 27. März 2007, B 1 KR 17/06 R). Bei dem Parkinson-Syndrom im Allgemeinen und bei der Versicherten im Speziellen handele es sich nicht um eine solche Erkrankung.

 

Die Versicherte hat am 12. Dezember 2019 Klage zum Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhoben. Zur Begründung hat sie ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt.

 

Die Versicherte hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2019 zu verurteilen, die Kosten für das Medikament Rytary gemäß Antrag vom 12. Juli 2019 zu übernehmen und rückwirkend die seitdem verauslagten Kosten zu erstatten.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat die angefochtene Entscheidung verteidigt.

 

Das SG hat von Amts wegen ein neurologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Y. (Direktor der Klinik für Neurologie des R.) hat sein Gutachten am 6. September 2020 nach ambulanter Untersuchung der Versicherten erstattet. Er hat dem SG Folgendes mitgeteilt:

 

Die Versicherte leide auf neurologischem Fachgebiet an einem idiopathischen Parkinsonsyndrom vom akinetisch-rigiden Typ mit Wirkungsfluktuationen, Hoehn & Yahr-Stadium 4, Erstdiagnose 2007 (ICD-10: G20.11).

 

Das idiopathische Parkinsonsyndrom sei charakterisiert durch das seitenbetonte Auftreten der Parkinsonsymptome Rigor (Steifigkeit), Akinesie (Unbeweglichkeit) und Tremor (Zittern) sowie posturaler Instabilität (Fallneigung). Bei der Versicherten bestehe ein ein linksseitig betonter Rigor und eine linksseitig betonte Bradykinesie. Das Hoehn & Yahr-Stadium 4 weise - bei einer Skala von 0-5 - auf eine starke Behinderung hin, bei der der Patient aber mit Hilfsmitteln gehen und stehen könne. Bei der Versicherten bestünden typische Komplikationen wie verlangsamtes Gehen, Sturzneigung und eine leichtgradige kognitive Einschränkung. Es bestünden darüberhinaus Wirkungsfluktuationen, Überbewegungen und Halluzinationen. Ferner bestehe eine sensible axonale Neuropathie (G60.3) sowie weitere nicht-neurologische Erkrankungen (Arterielle Hypertonie [I10.0], Aortenklappenstenose (I35.8), LWS- und HWS-Syndrom (M53.80), Typ-C-Gastritis [K52.1]).

 

Bei einem idiopathischen Parkinsonsyndrom handele es sich um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigende Erkrankung. Ohne Behandlung führe die Erkrankung zu einer stark erhöhten Pflegebedürftigkeit.

 

Die Schwierigkeit der Behandlung bestehe darin, einen ausreichenden, aber nicht zu hohen Medikamentenspiegel von dopaminergen Medikamtenen kontinuierlich im zentralen Nervensystem aufrecht zu erhalten. Im Verlauf des Tages könne es zum Abwechseln von Phasen der Unter- und Überbeweglichkeit kommen (Wirkungsfluktuationen). Die Behandlung mit Rytary ermögliche es, einen gleichmäßigen Medikamentenspiegel im Vergleich zur Standardtherapie zu erlangen. In Deutschland stünden auch zugelassene langwirksame Dopamin-Agonisten wie Pramiprexol, Rotigotin und Piribedil zur Verfügung, die aber gerade bei älteren Menschen über 70 Jahren zu Nebenwirkungen (z.B. Halluzinationen) führen könnten (Verweis auf Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Stand 1. Januar 2016). Bei der Versicherten seien verschiedene Therapiekonzepte durchgeführt worden: Es sei versucht worden, die Einnahmeintervalle des L-Dopa zu verkürzen und ein retardiertes L-Dopa-Präparat für die Nacht einzunehmen. Auch sei die Therapie mit einem COMT-Hemmer (Opicapon) zur Optimierung einer gleichmäßigen L-Dopa-Wirkung begonnen worden. Dies habe aber zu keiner Besserung der Wirkungsfluktuationen geführt. Außerdem seien bei einer erhöhten Dosierung der Dopamin-Agonisten Halluzinationen aufgetreten. Die Behandlung der Wirkungsfluktuationen sei mittels Rytary suffizient erfolgt.

 

Aktuell existierten keine verschreibungspflichtigen oralen Arzneimittel mit der betroffenen Wirkstoffkombination. In Deutschland stünden insbesondere im Fall von ausgeprägten Wirkungsfluktuationen zwei Pumpentherapien zur Verfügung: Zum einen existiere die Apomorphin-Pumpentherapie. Apomorphin sei ein Medikament aus der Gruppe der Dopamin-Agonisten. Durch die kontinuierliche Abgabe unter die Haut werde ein gleichbleibender Wirkspiegel aufrechterhalten. Zudem existiere die Duodopa-Pumpentherapie. Bei diesem Verfahren werde über eine Magen- bzw. Dünndarmspiegelung dauerhaft eine Sonde in den Zwölffingerdarm gelegt, über die das Medikament L-Dopa/Carbidopa in gelartiger Form kontinuierlich appliziert werde. Diese Therapien seien komplikationsreicher als eine orale Medikamententherapie, da sie einen deutlich höheren Pflegeaufwand durch geschultes Personal erforderten. Apomorphin führe zudem häufig zu starker Übelkeit und Halluzinationen. Bei der Versicherten sei es bei einer Therapie mit Dopaminagonisten (Pramipexol, Rotigotin und Piribedil) bereits zu dokumentierten Halluzinationen gekommen. Diese seien auch bei einer Therapie mittels Apomorphinpumpe zu erwarten. Bei der Duodupa-Sonde bestünde die Gefahr einer Infektion durch die Anlage der Sonde und das dauerhafte Einliegen von Fremdmaterial im Körper.

 

Grundsätzlich sei die Parkinson-Therapie inviduell anzupassen, wobei jede Umstellung der Medikation mit der Gefahr der Zunahme von Komplikationen verbunden sei. Zudem überstiegen die jährlichen Kosten der Pumpentherapien (25.000 Euro bzw. 35.000 Euro) die Kosten einer Rytary-Therapie (ca. 10.000 Euro). Es stünden zwar gleichermaßen geeignete Arzneimittel zur Verfügung, im konkreten Fall sei aber die off-label-Behandlung mit Rytary medizinisch gerechtfertigt und sinnvoll.

 

Die Datenlage bzgl. des Behandlungserfolges mittels Rytary sei gut und zeige positive Ergebnisse, gleiches gelte für die Sicherheit. In klinischen Prüfungen der Phase III habe eine gute Wirksamkeit nachgewiesen werden können.

 

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf ein vom MDK erstattetes Gutachten vom 18. November 2020 an ihrer Rechtsauffassung festgehalten. Der MDK hat ausgeführt, dass dem Untersuchungsbefund zuzustimmen sei. Auch sei die bei der Versicherten vorliegende Parkinson-Erkrankung eine solche, die die Lebensqualität deutlich beeinträchtige. Es sei auch zutreffend, dass die Pumpentherapien aufwendiger und teurer seien. Es sei aber mit dem BSG eine notstandsähnliche Situation zu fordern. Daran fehle es. Zudem bestehe mit den Pumpentherapien eine anderweitige Behandlungsmöglichkeit.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Das SG hat der Klage mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 24. August 2021 stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Es treffe zu, dass eine notstandsähnliche Situation bei der Versicherten (noch) nicht vorliege. Zu berücksichtigen sei aber die besondere Situation, dass die Versicherte in einer Fachklinik in einem zugelassenen Krankenhaus auf das Medikament Rytary eingestellt worden sei, als der Zulassungsinhaber die Zulassung schon zurückgezogen habe. Der Sachverständige habe die Wirksamkeit der Behandlung im Fall der Versicherten dargelegt. Er habe auf die Gefahren hingewiesen, die bei einer nicht-medizinisch begründeten Therapieumstellung gegeben seien. Ein solcher nicht-medizinischer Grund würde vorliegen, wenn der Versicherten nach Einstellung auf Rytary (nach dessen Zulassungsende) eine erneute Umstellung zugemutet würde. Dass dem Vertragskrankenhaus die Rückgabe der Zulassung möglicherweise nicht bekannt gewesen sei, müsse sich die Beklagte zurechnen lassen. Medizinische Gründe für ein Absetzen von Rytary bestünden nicht. Auch wirtschaftlich sei die Behandlung mit Rytary sinnvoll. Der Anspruch der Versicherten auf Erstattung nachgewiesener Kosten folge aus § 13 Abs. 3 SGB V, da die Beklagte die notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt habe.

 

Gegen die ihr am 8. Oktober 2021 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 21. Oktober 2021 eingelegte Berufung der Beklagten. Mit dieser macht sie geltend, dass eine notstandsähnliche Situation nicht vorgelegen habe. Auf die Auswirkungen einer Medikationsumstellung komme es nicht an. Für die Zurechnung der Handlungen des Krankenhauses fehle es an einer Rechtsgrundlage. Zudem habe die Versicherte die zukünftige Versorgung mit dem Arzneimittel nicht beantragt, weshalb insoweit keine Verurteilung habe erfolgen dürfen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 24. August 2021 zu ändern und die Klage abzuweisen.

 

Die Versicherte ist am 00.00.0000 verstorben und von den Klägern (ihren Söhnen) zu gleichen Teilen beerbt worden, die das Verfahren fortführen.

 

Die Kläger beantragen,

 

unter Neufassung ihres Klageantrages auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 44.327,18 Euro unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2019,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und reichen Rechnungen (insgesamt 44.327,18 Euro für die Zeit von Juli 2019 bis Januar 2023) sowie darauf bezogene ärztliche Verordnungen zur Akte.

 

Der Senat hat Befundberichte der die Versicherte behandelnden Ärzte eingeholt (Befundbericht K., Neurologische Klinik des L. N. vom 12. Mai 2022 [mit Anlagen: Entlassungsbericht vom 22. November 2021, Ambulanzbericht vom 21. März 2019]; Befundbericht H., Facharzt für Neurologie, vom 12. Mai 2022).

 

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf ein Gutachten des MDK vom 21. Oktober 2022 an ihrer Auffassung festgehalten (Schriftsatz vom 21. November 2022).

 

Der Sachverständige hat am 17. Juli 2023 ergänzend Stellung genommen. Er hat ausgeführt, dass eine Pumpentherapie nicht in Betracht gekommen sei aufgrund der Gefahr der Zunahme krankheitsbedingter Komplikationen. Aus dem Befundbericht aus November 2021 lasse sich ableiten, dass durch die Umstellung der Medikation auf Rytary die kumulative Tagesdosis von L-Dopa reduziert worden sei, was den Mehrwert von Rytary unterstreiche (Reduktion von Nebenwirkungen aufgrund L-Dopa).

 

Im Verhandlungstermin vom 26. Juni 2024 hat der Sachverständige sei Gutachten erläutert. Er im Wesentlichen ausgeführt: In Deutschland sei Morbus Parkinson die häufigste neuro-degenerative Erkrankung mit Erkrankungszahlen von mindestens 300.000. Die Behandlung sei stadienabhängig. Im Verlauf der Erkrankung seien immer höhere Dosierungen der Medikamente erforderlich, was durch Umstellungs- und Anpassungsprozesse bei ca. 80% der Patienten zu unerwünschten Nebenwirkungen wie Wirkungsfluktuation, Dyskinesie, Halluzinationen, Suchtverhalten und Suizidalität führe. Der Morbus Parkinson sein keine tödlich verlaufende Erkrankung. Im späteren Verlauf der Krankheit komme es allerdings häufig zu Komplikationen, die tödlich ausgehen könnten (sturzbedingter Oberschenkelhalsbruch; durch Schluckstörungen bedingte Aspirationen). Die alternative Therapiemöglichkeit der Apomorphinpumpe zeichne sich durch ihre einfache Handhabung aus, werde aber häufig schlechter vertragen. Häufigste Nebenwirkung sei eine massive Übelkeit, daneben träten auch Halluzinationen auf. Diese Nebenwirkungen seien zwar im Grundsatz behandelbar, dies führe aber zu einer Polypharmazie, die bei der Versicherten angesichts ihres Alters und Gesundheitszustandes nicht vertretbar gewesen sei. Bei der weiteren Therapiemöglichkeit der Duodupa-Sonde bestünden allgemeine Risiken, die auch bei der Versicherten beständen hätten, allerdings nicht in erhöhtem Maße. So komme es in 10 bis 20% der Fälle zu einer Infektion. Zudem könne eine Dislokation des Schlauches eintreten. Es handele sich im Ergebnis um einen invasiv durchgeführten Eingriff mit entsprechenden Risiken. Bei einer Umstellung der Medikation bestehe grundsätzlich das Risiko, dass Symptome wieder aufträten oder sich verschlimmerten. Gegebenenfalls sei dann die Pumpentherapie für eine Übergangszeit mit einer oralen Therapie zu kombinieren. Das gelte auch für die Umstellung von einer oralen Therapie ohne Rytary auf eine Duodupa-Sone. Bei der Versicherten könne sich ein solcher Übergangszeitraum auf einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten erstrecken. Es sei weiterhin davon auszugehen, dass die Kosten einer Pumpentherapie bei jährlich 30.000 Euro und die Kosten einer Therapie mit Rytary bei jährlich 10.000 Euro lägen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen hat.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.

 

I. Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2019, mit dem die Beklagte den Antrag der Versicherten auf Kostenerstattung aufgrund ärztlicher Verordnung vom 12. Juli 2019 abgelehnt hat. In sachlicher Hinsicht ist das Begehren der Kläger streitgegenständlich, die Kosten der Beschaffung des Medikaments Rytary seit dem Zeitpunkt der Antragstellung am 12. Juli 2019 bis zur letztmaligen Beschaffung vor dem Versterben der Versicherten zu übernehmen.

 

Nicht mehr streitgegenständlich ist das Begehren der Kläger auf Verzinsung der begehrten Kostenerstattung (vgl. dazu sogleich).

 

II. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Die am 21. Oktober 2021 bei dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) schriftlich eingelegte Berufung gegen das ihr am 8. Oktober 2021 zugestellte Urteil des SG Gelsenkirchen vom 24. August 2021 ist zulässig, insbesondere gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne gerichtliche Zulassung statthaft und form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 151 Abs. 1, 3, 64 Abs. 1, Abs. 2, 63 SGG).

 

III. Die Berufung der Beklagten ist auch begründet. Das SG hat die zulässige Klage zu Unrecht als begründet angesehen.

 

1. Die Klage ist zulässig.

 

a) Soweit die Kläger erstmals im Berufungsverfahren die Zahlung von Zinsen für die geltend gemachte Kostenerstattung verfolgt haben, haben sie ihre Klage im Verhandlungstermin zurückgenommen, nachdem die Beklagte eine entsprechende Verzinsung im Fall eines Obsiegens der Kläger zugesichert hatte.

 

b) Die im Verhandlungstermin erfolgte Neufassung des Klageantrages ist gem. § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG als privilegierte Klageänderung zulässig. Danach ist es nicht als eine Änderung der Klage anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes der Klageantrag in der Hauptsache oder in Bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird. Dies gilt hier zum einen für das Fallenlassen des zunächst verfolgten Sachleistungsanspruchs und zum anderen für die Erweiterung des Klageantrags um die weiter aufgelaufenen Kosten der Selbstbeschaffung.

 

c) Statthafte Klageart für das allein noch streitgegenständliche Begehren der Kläger als Rechtsnachfolger der Versicherten ist die (kombinierte) Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG).

 

d) Die Klage ist fristgerecht am 12. Dezember 2019 binnen eines Monats nach förmlicher Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2019 am 25. November 2019 (Angabe in der Klageschrift) erhoben worden (§ 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2; § 90; § 78 Abs. 1 Satz 1; § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG).

 

e) Die Kläger sind auch durch die gegenüber der Versicherten ergangene ablehnende Entscheidung weiterhin beschwert. Die die Behandlung mit Rytary zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ablehnende Entscheidung hat sich durch den Tod der Versicherten nicht erledigt (§ 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch; vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 10/16 R – BSGE 122, 181 ff., Rn. 10, für den Fall einer vorläufigen Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Rückforderung). Die Kläger sind Rechtsnachfolger der Versicherten. Ob die Kläger als Söhne der Versicherten nach § 56 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) Sonderrechtsnachfolger geworden sind, bedarf hier keiner weiteren Prüfung, da anderweitige Sonderrechtsnachfolger der Versicherten nicht ersichtlich sind und die Kläger jedenfalls Gesamtrechtsnachfolger nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geworden sind, weshalb ihnen fällige Ansprüche auf Geldleistungen (wie der hier im Streit stehende Erstattungsanspruch) zustehen (vgl. § 58 SGB I). Denn das gesamte Vermögen der Versicherten, zu dem auch der hier geltend gemachte Erstattungsanspruch gegen die Beklagte gehört, ist mit ihrem Tod gemäß § 1922 Abs. 1 BGB auf die Kläger übergegangen. Als Erben stehen ihnen daher alle bis dahin begründeten Ansprüche aus der Rechtsbeziehung der Versicherten zu der Beklagten zu. Aus dieser Aktivlegitimation folgt das prozessuale Recht der Kläger, den auf sie übergegangenen Anspruch in eigenem Namen geltend zu machen (vgl. BSG, Urteil vom 28. September 2006 – B 3 P 3/05 R – SozR 4-3300 § 23 Nr. 5, Rn. 9, insoweit kann für den Fall der noch ausstehenden Kostenerstattung kann nichts anderes gelten als für den o.g. Fall der vorläufigen Versorgung).

 

f) Der Zulässigkeit der Klage hinsichtlich der über die erste Beschaffung von Rytary hinausgehenden Kosten steht entgegen der Auffassung der Beklagten nicht entgegen, dass sich der Regelungsinhalt des Ablehnungsbescheides auf die erste Selbstbeschaffung beschränkt hätte. Gegenstand des Verfahrens ist der Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG). Jedenfalls nach dem Erklärungsgehalt des Widerspruchsbescheides ist eine zukunftsoffene Ablehnung erfolgt.

 

2. Die Klage ist jedoch unbegründet.

 

Die Versicherte hatte im Zeitpunkt ihres Versterbens keinen Anspruch auf Erstattung der von ihr aufgewendeten Kosten für das Arzneimittel Rytary, der den Klägern als Rechtsnachfolger zustehen würde.

 

a) Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V scheidet aus, da nichts für die Wahl einer Kostenerstattung durch die Versicherte ersichtlich ist. Gleiches gilt für einen Anspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 SGB V, da keine unaufschiebbare Leistung betroffen war. Auch die Kläger machen derartiges nicht geltend.

 

b) Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V besteht nicht, denn eine Genehmigungsfiktion ist nicht eingetreten.

 

Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (§ 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V).

 

Hier ging der von der Apotheke für die Versicherte gestellte Antrag am 12. Juli 2019 bei der Beklagten ein. Der ablehnende Bescheid erging am 16. Juli 2019. Wie der Widerspruch vom 22. Juli 2019 zeigt, ging der Bescheid der Versicherten vor Ablauf von fünf Wochen nach Antragseingang zu.

 

c) Schließlich bestand auch kein Anspruch der Versicherten auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 SGB V.

 

Danach gilt: Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Kostenerstattungsanspruch reicht dabei nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch (vgl. für selbstbeschafftes Medizinal-Cannabis BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 9/22 R – SozR 4-2500 § 13 Nr 57 (vorgesehen), juris, Rn. 11 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 2. September 2014 - B 1 KR 3/13 R - BSGE 117, 1 ff., Rn. 15 m.w.N.).

 

Erforderlich ist demnach das Bestehen eines Sachleistungsanspruchs nach Grund und Höhe. Indes mangelte es bereits an einem Sachleistungsanspruch der Versicherten dem Grunde nach.

 

aa) Ein Anspruch auf Versorgung mit verschreibungspflichtigen Fertigarzneimitteln wie Rytary zur Krankenbehandlung als Leistung der GKV (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V) kam nicht in Betracht.

 

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Die Zulassung kann sich grds. aus nationalem Recht (§ 21 Abs. 1 AMG) oder aus dem Recht der Europäischen Union ergeben, nicht aber aus ausländischem Recht (st. Rspr.; BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R –, juris, Rn. 12).

 

An einer solchen Zulassung fehlte es hier, nachdem die mit Beschluss der Kommission vom 19. November 2015 (Beschluss C [2015] 8294 (final) erfolgte Zulassung des wirkstoffgleichen Arzneimittels "Numient" mit Beschluss der Kommission vom 2. April 2019 (C [2019] 2705 [final]) widerrufen wurde.

 

bb) Ein Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Rytary im Rahmen eines Off-Label-Use zur Behandlung der Parkinson-Erkrankung kam nicht in Betracht.

 

(1) Ein Anspruch aus § 35c SGB V (zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln) schied aus, da es an einer Zulassung fehlte, weshalb eine solche auch nicht überschritten werden konnte.

 

(2) Ein Anspruch im Rahmen eines Off-Label-Uses nach den daneben weiterhin geltenden, allgemeinen, vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 10/16 R – a.a.O., Rn. 15; BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R – a.a.O., Rn. 14) kam ebenfalls nicht in Betracht. Auch dafür ist Voraussetzung das Bestehen einer Zulassung, wobei das Medikament außerhalb der Indikation verwendet wird, für die es zugelassen ist.

 

cc) Ein Anspruch bestand auch nicht wegen eines sogenannten Seltenheitsfalles. Hierfür ist erforderlich, dass das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2023 - B 1 KR 7/22 R, BSGE 135, 226 ff., Rn. 18; mit Verweis auf Urteil vom 19. März 2020 – B 1 KR 22/18 R – juris, Rn. 28). Das ist nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht der Fall. Dieser hat ausgeführt, dass Morbus Parkinson die häufigste neuro-degenerative Erkrankung mit Erkrankungszahlen von mindestens 300.000 Personen ist.

 

dd) Auch ein Anspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V war nicht gegeben. Nach § 2 Abs. 1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von den allgemeinen Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

 

(1) Bei der Versicherten lag bereits keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder damit wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor.

 

(a) Eine Erkrankung ist im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden kann und dies eine notstandsähnliche Situation herbeiführt, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 10. November 2015 - 1 BvR 2056/12 - BVerfGE 140, 229 ff., Rn. 18). Nach den konkreten Umständen des Falles muss bereits drohen, dass sich mit großer bzw - gleichbedeutend - hoher Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums verwirklichen wird (st. Rspr; vgl. BVerfG <Kammer> vom 11. April 2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr. 8, Rn. 25 <IVIG>, vorausgehend BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 - B 1 KR 1/16 R - BSGE 122, 170 ff.; vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 29. Juni 2023 – B 1 KR 35/21 R – juris, Rn. 21 mit zahlreichen Nachweisen).

 

Es genügt nicht, dass die Erkrankung unbehandelt zum Tode führt. Dies trifft auf nahezu jede schwere Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung zu (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R - SozR 4-2500 § 27 Nr. 10, Rn. 34; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2013 - B 1 KR 70/12 R - BSGE 115, 95 ff., Rn. 29). Die Erkrankung muss trotz des Behandlungsangebots mit vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung regulär umfassten Mitteln lebensbedrohlich sein. Kann einer Lebensgefahr mit diesen Mitteln hinreichend sicher begegnet werden, besteht kein Anspruch aus grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts (vgl. BVerfG <Kammer> vom 11. April 2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr. 8,Rn. 25, 26). Die notstandsähnliche Situation muss sich nach den konkreten Umständen des einzelnen Falles ergeben. Ein nur allgemeines mit einer Erkrankung verbundenes Risiko eines lebensgefährlichen Verlaufs genügt hierfür nicht. Es muss nach den konkreten Umständen des Falles eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage vorliegen, die durch die Gefahr geprägt ist, dass die betreffende Krankheit in überschaubarer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben beenden kann, sodass Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl BVerfG vom 10. November 2015 - 1 BvR 2056/12 – a.a.O., Rn. 18; BVerfG <Kammer> vom 30. Juni 2008 - 1 BvR 1665/07 - SozR 4-2500 § 31 Nr. 17, Rn. 10, zuletzt BSG, Urteil vom 29. Juni 2023 – B 1 KR 35/21 R – a.a.O., Rn. 22 mit zahlreichen Nachweisen).

 

(b) Für eine solche Entwicklung der Erkrankung der Versicherten und daraus folgend eine notstandsähnliche Situation ist hier nichts ersichtlich. Die Parkinson-Erkrankung der Versicherten war dadurch gekennzeichnet, dass es im zeitlichen Verlauf zu immer stärkeren Einschränkungen kam bzw. unbehandelt gekommen wäre. Ein durch die Erkrankung hervorgerufenes Risiko einer nahen Lebensgefahr bestand dagegen nicht. Dies folgt für den Senat aus den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Y., insbesondere im Verhandlungstermin. Im Rahmen der dortigen Erläuterung seines Gutachtens hat er ausgeführt, dass Morbus Parkinson keine tödlich verlaufende Erkrankung ist. Soweit er auf mögliche Komplikationen der Erkrankung in fortgeschrittenem Verlauf hingewiesen hat, folgt daraus nichts Anderes.

 

(c) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Erkrankung mit einer solchen Situation wertungsmäßig vergleichbar wäre. In Betracht kommt dies nach der Rechtsprechung des BSG bei Behandlungen, die sich auf ein akutes Krankheitsgeschehen beziehen, das von seiner Schwere und seinem Ausmaß mit lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen vergleichbar ist und bei dem eine unmittelbare und kurzfristige Interventionsnotwendigkeit besteht, um den Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion oder eine unmittelbar bevorstehende wesentliche Verschlechterung des akuten Krankheitszustands zu verhindern. Es muss demnach eine notstandsähnliche Extremsituation vorliegen, wobei es sich um eine strengere Voraussetzung handelt, als sie mit der für einen Off-Label-Use erforderlichen „schwerwiegenden“ Erkrankung umschrieben ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. August 2021 – B 1 KR 29/20 R –, SozR 4-2500 § 2 Nr. 18, Rn. 14, m.w.N.).

 

Diese Voraussetzungen sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht erwiesen. Insbesondere kann dahinstehen, ob der vollständige Verlust der Gehfähigkeit die Anforderungen des BSG an den Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion erfüllt. Denn nach den Feststellungen des Sachverständigen ist nicht davon auszugehen, dass der Verlust des Gehvermögens der Versicherten unmittelbar oder kurzfristig bevorstand. Wie der Sachverständige nach ambulanter Untersuchung der Versicherten festgestellt hat, war die Versicherte in der Lage, mit Hilfsmitteln zu gehen und zu stehen. Anhaltspunkte für einen drohenden naheliegenden vollständigen Verlust sind daher nicht ersichtlich, zumal der Sachverständige als mögliche Komplikation einer Medikamentenumstellung eine erhöhte Sturzgefahr bezeichnet hat, die aber den Fortbestand der Gehfähigkeit grundsätzlich gerade voraussetzt.

 

(d) Es kann dahingestellt bleiben, ob mit dem SG angenommen werden kann, dass auch die Auswirkungen der Umstellung eines nicht mehr zugelassenen Medikamentes auf zugelassene Medikamente im Einzelfall dazu führen können, dass ein Anspruch auf Weiterversorgung mit dem nicht mehr zugelassenen Medikament besteht. Denn nach den dargestellten Grundsätzen kann dies nur unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V der Fall sein, d.h. die durch die Umstellung zu befürchtenden (Neben-)Wirkungen müssen lebensbedrohlich oder zumindest wertungsmäßig vergleichbar schwerwiegend sein. Dafür bestehen hier jedoch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte. Aus den Ausführungen des Sachverständigen im Verhandlungstermin folgt, dass eine solche Umstellung zwar mit negativen Effekten wie einer zeitweisen Symptomverschlechterung verbunden gewesen, aber innerhalb eines Zeitraums von drei bis sechs Monaten durchführbar gewesen wäre. Anhaltspunkte, dass diese Symptome unmittelbar lebensbedrohlich oder vergleichbar schwerwiegend hätten ausfallen können, hat der Sachverständige nicht dargelegt.

 

(2) Überdies stand im Fall der Versicherten eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung.

 

Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn keine Methode, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach, im Zeitpunkt der Behandlung in den Jahren 2019 bis 2023 zur Verfügung gestanden hätte, also kein für die konkret erforderliche Behandlung zugelassenes Arzneimittel verfügbar gewesen wäre noch im Rahmen eines zulässigen Off-Label-Gebrauchs ein Mittel hätte eingesetzt werden können, mit dem mit hinreichender Erfolgsaussicht zumindest eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs hätte erreicht werden können. Dabei stehen Fälle, in denen überhaupt keine Behandlungsmethode zur Verfügung steht, jenen Fällen gleich, bei denen es zwar grundsätzlich eine solche anerkannte Methode gibt, diese aber bei dem konkreten Versicherten wegen des Bestehens gravierender gesundheitlicher Risiken nicht angewandt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R – BSGE 96, 170 ff. Rn. 31; vgl. für den Anspruch nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a SGB V: BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89 ff. (vorgesehen), juris, Rn. 22). Ob es zur Behandlung der Erkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Therapie überhaupt gibt, bestimmt sich nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – a.a.O., Rn. 23).

 

Insofern ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass zumindest die Anlage einer Duodupa-Sonde bei der Versicherten in Betracht kam. Wie der Sachverständige im Rahmen der Erläuterung seines Gutachtens im Verhandlungstermin ausgeführt hat, wäre die Anlage einer Duodupa-Sonde bei der Versicherten nicht mit einem erhöhten Risiko verbunden gewesen, vielmehr hätten lediglich die allgemeinen – grundsätzlich beherrschbaren – Risiken einer Infektion sowie einer Dislokation des Schlauches bestanden. Damit war die Anlage einer Duodupa-Sonde bei der Versicherten aber nicht ausgeschlossen.

 

ee) Einem Anspruch auf Erstattung für die aufgrund der Verordnung vom 12. Juli 2019 erfolgte Selbstbeschaffung stünde überdies entgegen, dass die Ablehnung der Leistung durch die Beklagte nicht kausal für die der Versicherten entstandenen Kosten gewesen ist.

 

Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch ist, dass die rechtswidrige Vorenthaltung der Naturalleistung durch die Beklagte wesentliche Ursache der Selbstbeschaffung war (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 1 KR 2/08 R – SozR 4-2500 § 13 Nr. 20, Rn. 29). Die Selbstbeschaffung durch den Versicherten darf erst erfolgen, nachdem ihm die ablehnende Entscheidung der Krankenkasse zugegangen ist. Denn anderenfalls ist die (nachträglich getroffene) Entscheidung der Krankenkasse nicht geeignet, das weitere Leistungsgeschehen zu beeinflussen. Sofern eine aus mehreren Teilen bestehende Gesamtleistung betroffen ist und diese eigenmächtig begonnen wurde, fehlt es insgesamt an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang, wenn mit dem eigenmächtigen Beginn der Behandlung das weitere Vorgehen bereits endgültig festgelegt war, auch wenn Teile der Behandlung zeitlich nach dem ablehnenden Bescheid liegen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Juni 2001 – B 1 KR 23/00 R – SozR 3-2500 § 28 Nr. 6, Rn. 14). An dem erforderlichen Ursachenzusammenhang fehlt es auch dann, wenn der Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt hat und fest entschlossen ist, sich die Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte („Vorfestlegung“, vgl. BSG, Urteil vom 8. September 2015 – B 1 KR 14/14 R –, juris, Rn. 9 m.w.N.). Ein Ursachenzusammenhang zwischen Ablehnungsentscheidung und Selbstbeschaffung im vorstehenden Sinn ist selbst dann nicht entbehrlich, wenn die Ablehnung des Leistungsbegehrens durch die Krankenkasse von vornherein feststeht (vgl. BSG, Beschluss vom 30. Juni 2021 – B 1 KR 14/21 B –, juris, Rn. 7 m.w.N.).

 

Der erforderliche Ursachenzusammenhang liegt hier nicht vor. Der ablehnende Bescheid erging erst am 15. Juli 2019. Wie sich aus der in der Verwaltungsakte befindlichen Auftragsbestätigung der Firma "X." vom 12. Juli 2019 ergibt, hat die Versicherte das Arzneimittel verbindlich bestellt, bevor die Beklagte über den Antrag entscheiden konnte.

 

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG. Gerichtskosten fallen auch für das Berufungsverfahren nicht an. Unabhängig von der Frage der Sonderrechtsnachfolge nach § 56 SGB I, die zur grundsätzlichen Kostenprivilegierung nach § 183 Satz 1 SGG führt, bleibt das Verfahren jedenfalls in dem betroffenen Rechtszug kostenfrei, wenn ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren aufnimmt.

 

V. Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.

 

 

Rechtskraft
Aus
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