L 14 R 843/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 52 R 740/22
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 14 R 843/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 

  1. Das Sozialgericht (SG) verletzt mit seiner Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§§ 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 GG), wenn Schriftsätze der Beteiligten im Entscheidungszeitpunkt zwar beim SG (hier: elektronisch) eingegangen waren, jedoch weder dem Kammervorsitzenden noch dem/den jeweils anderen Beteiligten im Entscheidungszeitpunkt vorlagen und von diesen  daher nicht zur Kenntnis genommen werden konnten

 

  1. Eine Gehörsverletzung liegt zudem vor, wenn durch (mindestens) einen der nicht berücksichtigten Schriftsätze eine wesentlich veränderte Prozesssituation eingetreten war und das SG aufgrund dessen vor seiner Entscheidung durch Gerichtsbescheid erneut hätte anhören müssen.

 

  1. Mangels ordnungsgemäßer erneuter Anhörung verletzt das SG zudem den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), weil es dann bei der Entscheidung über die Klage nicht ordnungsgemäß besetzt war. Denn das SG kann nach § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter nur dann entschieden, wenn alle Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid vorgelegen haben, wozu auch eine ordnungsgemäße Anhörung gehört; § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG.

 

  1. Hat das SG zudem den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt, fehlt es an einer weiteren Voraussetzung des § 105 Abs. 1 SGG, nämlich an der nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG erforderlichen Klärung des Sachverhalts.

 

  1. Solche Verletzungen stellen wesentliche Verfahrensmängel dar,  die bei der Notwendigkeit einer aufwändigen Beweisaufnahme zur Zurückverweisung an das SG führen können, § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

 

 

 

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 10.10.2023 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Gelsenkirchen zurückverwiesen.

 

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Der 00.00.0000 geborene Kläger begehrt von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung.

 

Ein 2018 gestellter Antrag des Klägers auf eine Rente wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos, nachdem die Beklagte Befundberichte des Allgemeinmediziners W. und des H. eingeholt hat und der Internist C. aufgrund einer im Januar 2019 durchgeführten ambulanten Begutachtung des Klägers zu der Feststellung gelangt war, dass dieser leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten könne. Gegenüber C. hatte der Kläger u.a. angegeben, ihm sei in der letzten Tätigkeit 2016 gekündigt worden, nachdem er sich wegen Rückenschmerzen habe krankschreiben lassen müssen; eine orthopädische Behandlung sei zuletzt 2018 erfolgt; die Schmerzen würden mit Bedarfsmedikation behandelt.  Eine auf seinen Antrag von Juli 2019 von der Beklagten bewilligte Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation führte der Kläger vom 16.12.2020 bis zum 06.01.2021 durch und wurde arbeitsfähig und mit einem arbeitstäglich mehr als sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes entlassen, wobei u.a. eine Leberzirrhose toxischer Genese mit Erstdiagnose Juli 2019 mit Child Pugh A und einem Zustand nach portaler Dekompensation im Juli und November 2019 sowie eine chronische Niereninsuffizienz und ein degeneratives LWS-Syndrom mit Bandscheibenprolaps (ca. 2010) diagnostiziert worden waren (Bericht der Klinik S. vom 12.01.2021). Eine auf seinen Antrag von Februar 2021 von der Beklagten bewilligte Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben führte der Kläger in der Zeit von Mai bis August 2021 durch.

 

In dem im September 2021 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung gab der Kläger an, er halte sich seit 2016 wegen eines Wirbelsäulensyndroms mit Nervenwurzelerkrankung, Bandscheibenveränderungen, Bluthochdruck, Depressionen, Leberzirrhose, Nierenfunktionseinschränkung, Missempfindungen (Hände und Füße) und einer leukozytoklastischen Vaskulitis idiopathischer Genese der Haut für erwerbsgemindert. Seinem Antrag fügte er den Bescheid der Stadtverwaltung Ü. vom 26.05.2021 bei, mit dem für die Zeit ab Januar 2021 seine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt wird, der an Beeinträchtigungen Leberzellveränderungen, eine behandelte Bauchwasserbildung, Blutbildveränderungen, eine Nierenfunktionseinschränkung, ein Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenveränderungen und ein Bluthochdruck zugrunde gelegt worden sind.

 

Die Beklagte prüfte das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und gelangte zu dem Ergebnis, diese seien bezogen auf den Zeitpunkt der Rentenantragstellung weder nach § 241 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI) noch nach § 43 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 4 SGB VI und letztmalig bis zum 31.03.2020 erfüllt. Außerdem holte die Beklagte eine Übersicht der Z. Krankenkasse über Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers seit 2019 sowie Befundberichte des W. vom 18.12.2021 und des Internisten I. vom 15.12.2021 ein und zog die Unterlagen des ersten Rentenverfahrens bei. Nach Auswertung dieser Unterlagen durch den ärztlichen Dienst der Beklagten hielt die Sachbearbeiterin der Beklagten fest, dass Erwerbsminderung nicht vorliege und vermerkte „Abgabe an Sucht“ mit der Begründung: „ggfs. nach Abschluss des Rentenverfahrens Angebot für eine LZ-Entwöhnungsbehandlung“.

 

Mit Bescheid vom 19.01.2022 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil der Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Rente nicht erfülle, was sie unter Bezugnahme auf einen beigefügten Versicherungsverlauf näher begründete. Da der Kläger bereits die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfülle, sei nicht weiter geprüft worden, ob er erwerbsgemindert sei.

 

Mit seinem Widerspruch führte der Kläger an, sein Antrag sei aus versicherungsrechtlichen Gründen abgelehnt worden, er sei jedoch bis heute bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet, es seien nicht alle Zeiten in seinem Versicherungsverlauf dargestellt. Seine Erwerbsfähigkeit habe durch eine medizinische Rehabilitation nicht verbessert werden können und eine berufliche Rehabilitation habe seine Rückkehr ins Berufsleben nicht ermöglicht, so dass der Arbeitsmarkt für ihn verschlossen sei.

 

Der ärztliche Dienst der Beklagten gelangte daraufhin zu dem Ergebnis, es sei ein Gutachten einzuholen und eine Indikation für eine Sucht-Rehabilitation zu prüfen.

 

Der Internist X. gelangte aufgrund einer im Mai 2022 durchgeführten ambulanten Begutachtung des Klägers im Gutachten vom 31.05.2022 zu der Feststellung, dass dieser unter Berücksichtigung der mit den Diagnosen einer toxischen Leberzirrhose mit portaler Hypertension, einer chronischen, derzeit kompensierten Niereninsuffizienz und eines Bluthochdrucks einhergehenden funktionellen Einschränkungen leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten könne.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.2022 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die medizinischen Ermittlungen hätten ergeben, dass eine Erwerbsminderung nicht vorliege. Des Weiteren sei der Widerspruch nicht begründet, da der Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen aktuell nicht mehr und letztmalig nur noch bis zum 31.03.2020 erfülle, wozu die Beklagte weiter ausführte.

 

Mit der am 24.10.2022 vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) erhobenen Klage, die unter dem Aktenzeichen S 57 R 740/22 erfasst worden ist, hat der Bevollmächtigte des Klägers mit klagebegründendem Schriftsatz vom 20.12.2022 unter Anführen von Gründen vorgetragen, entgegen der Darlegung der Beklagten erfülle der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Des Weiteren sei ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Die Beklagte habe sich mit der Depression des Klägers, den Missempfindungen in Händen und Füßen und der Wirbelsäulenerkrankung mit chronischen Schmerzen aufgrund eines nicht operierten Bandscheibenvorfalls nicht auseinandergesetzt, genauso wenig wie damit, dass der Kläger wegen seiner schweren Wirbelsäulenbehinderung grundsätzlich starke Schmerzmittel einnehmen müsste, dies aber wegen der Leberzirrhose und der Niereninsuffizienz nicht könne. Die alleinige Begutachtung durch X. werde dem sowie dem komplexen Krankheitsbild des Klägers in keiner Weise gerecht.

 

Der Klägerbevollmächtigte hat schriftsätzlich beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 19.01.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, zu gewähren.

 

Die Beklage hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat mit Schriftsatz vom 09.01.2023 einen Versicherungsverlauf vom 05.01.2023 übersandt und vorgetragen, die Agentur für Arbeit zur Klärung etwaig fehlender Zeiten im Versicherungskonto des Klägers angeschrieben zu haben und sich nach Eingang der Antwort erneut zu den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu äußern.

 

Mit Wirkung ab dem 09.01.2023 ist die Zuständigkeit für das Klageverfahren von der 57. Kammer auf die 52. Kammer übergegangen und das Aktenzeichen auf S 52 R 740/22 umgestellt worden. Eine Mitteilung dessen gegenüber den Beteiligten ist nicht erfolgt.

 

Das SG hat den Reha-Entlassungsbericht der Klinik S. vom 12.01.2021 beigezogen. Außerdem hat es drei Befundberichte eingeholt: Der Internist I. hat im Bericht vom 24.01.2023 ausgeführt, er habe den Kläger seit September 2019 und zuletzt im Januar 2022 behandelt; ob und ggs. wann Veränderungen in dessen Gesundheitszustand eingetreten seien, könne er nicht beantworten, da der Kläger seit Januar 2022 bis aktuell nicht wieder vorstellig gewesen sei; die Frage des SG, ob der Kläger aus fachärztlicher Sicht noch sechs Stunden arbeitstäglich eine leichte Tätigkeit ausüben könne, hat er - ohne nähere Begründung - bejaht. Der Hausarzt und Allgemeinmediziner O. hat im Bericht vom 08.02.2023 mitgeteilt, er habe den Kläger seit 2002 und zuletzt auch aktuell im Februar 2023 behandelt; in 2020 seien Veränderungen in dessen Gesundheitszustand eingetreten; die Frage, ob der Kläger aus fachärztlicher Sicht noch sechs Stunden arbeitstäglich eine leichte Tätigkeit ausüben könne, hat er verneint und angegeben, diese Leistungsminderung bestehe seit 2019. Der Neurologe N. hat im Bericht vom 20.04.2023 ausgeführt, er habe den Kläger bisher allein im Februar 2023 in zwei Terminen behandelt; der Spannungskopfschmerz sei nach dessen Angaben nahezu rückläufig und die Beinbeschwerden seien gebessert; auf die Frage, ob der Kläger aus fachärztlicher Sicht noch sechs Stunden arbeitstäglich eine leichte Tätigkeit ausüben könne, hat er ausgeführt, aufgrund der neurologisch behandelten Beschwerden bestehe keine Einschränkung, die gegen eine sechsstündige Arbeitstätigkeit mit entsprechenden üblichen Pausen spreche.

 

Mit einem beim SG am 28.04.2023 elektronisch eingegangenen Schriftsatz vom 28.04.2024 hat die Beklagte mitgeteilt, ihr seien von der Agentur für Arbeit Bottrop mit Schreiben vom 19.04.2023 Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug für weitere Zeiten im Zeitfenster von 2018 bis laufend bestätigt worden, unter deren Berücksichtigung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung erfüllt seien; jedoch seien die medizinischen Voraussetzungen für die begehrte Rente nicht erfüllt.

Der Schriftsatz der Beklagten vom 28.04.2023 befindet sich nicht in der Gerichtsakte des SG.

 

Auf die mit Schreiben des SG vom 27.04.2023 erbetene Stellungnahme zu den eingeholten Berichten und Anfrage gegenüber dem Klägerbevollmächtigten, mit welcher Begründung das Verfahren im Hinblick auf die eingeholten Befundberichte weitergeführt werden solle, hat dieser mit dem beim SG am 23.05.2023 elektronisch eingegangen Schriftsatz vom 23.05.2023 vorgetragen, es habe sich an der Klagebegründung auch nach Erhalt der Befundberichte keine Änderung ergeben. Letztlich bestätige der Befundbericht von O., bei dem der Kläger seit 2002 in ständiger Behandlung sei, die Begründetheit der Klage, weil aus dessen Sicht seit 2019 keine Erwerbsfähigkeit des Klägers bestehe. Kein anderer der angefragten Ärzte habe den Kläger über so einen langen Zeitraum untersucht und behandelt. Ein medizinisches Sachverständigengutachten sei unumgänglich, ggs. zu verschiedenen Fachbereichen. In Gänze sei die Tatsache unberücksichtigt geblieben, dass der Kläger seit Jahren wegen eines nicht operierten Bandscheibenvorfalls schwere Rückenschmerzen habe, die zu Zeiten, als er noch gearbeitet habe, zu regelmäßigen und langen Arbeitsunfähigkeitszeiten geführt hätten. Seine letzte Beschäftigung habe der Kläger wegen der Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund Rückenschmerzen verloren, nachdem ihm sein letzter Arbeitgeber innerhalb der Probezeit ganz offensichtlich wegen der Krankschreibung gekündigt habe. Sein Orthopäde R. habe ihn 2019 als austherapiert eingestuft, weshalb der Kläger zuletzt auch keine orthopädische Behandlung mehr gehabt habe. Eine Schmerzmedikation komme wegen eine Leberzirrhose und einer Niereninsuffizienz nicht in Betracht. Der Schriftsatz vom 23.05.2023 ist in der Gerichtsakte hinter der Erledigungsverfügung des SG vom 10.10.2023 abgeheftet und mit dem Vermerk der Geschäftsstelle der 52. Kammer vom 24.10.2023 versehen, dass der Schriftsatz vom 23.05.2023 am 24.10.2023 bei der Geschäftsstelle der Kammer eingegangen und dem Kammervorsitzenden vorgelegt worden sei.

 

Auf die Erinnerung des SG vom 06.06.2023, das gerichtliche Schreiben vom 27.04.2024 zu erledigen, hat der Klägerbevollmächtigte mit dem beim SG am 12.06.2023 elektronisch eingegangenen Schriftsatz vom 12.06.2023 um Prüfung gebeten, ob sein Schreiben vom 23.05.2023 nicht zugegangen sei; dieses hat er dem Schriftsatz vom 12.06.2023 beigefügt. Auch der Schriftsatz vom 12.06.2023 ist in der Gerichtsakte hinter der Erledigungsverfügung des SG vom 10.10.2023 abgeheftet und mit dem Vermerk der Geschäftsstelle der 52. Kammer vom 24.10.2023 versehen, dass der Schriftsatz vom 12.06.2023 am 24.10.2023 bei der Geschäftsstelle der Kammer eingegangen und dem Kammervorsitzenden vorgelegt worden sei.

 

Mit Schriftsatz vom 18.07.2023 hat die Beklagte unter Beifügung der durch ihren ärztlichen Dienst erfolgten Auswertung der eingeholten Berichte vorgetragen, diese könnten eine Abweichung von der vorbestehenden Leistungsbeurteilung nicht begründen.

 

Mit Schreiben vom 25.07.2023, das dem Klägerbevollmächtigten gegen Postzustellurkunde am 28.07.2023 zugestellt worden ist, hat das SG den Beteiligten seine Absicht mitgeteilt, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, und hat hierzu darauf verwiesen, dass die Klage abzuweisen sein dürfte. Aus den aktuell eingeholten Befundberichten ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die durch die Beklagte ermittelte Einschätzung des körperlichen Leistungsvermögens des Klägers einer Revision bedürfe. Auf die insoweit schlüssigen Ausführungen des internistischen Gutachters X. vom 31.05.2022 werde verwiesen. Es bestehe kein Anlass, weitere Ermittlungen von Amts wegen zu veranlassen. Das Anhörungsschreiben diene dazu, Gelegenheit zum Vortrag solcher Gründe zu geben, die für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprächen. Nach fruchtlosem Verstreichen einer Frist von vier Wochen ab Zugang werde voraussichtlich ein Gerichtsbescheid ergehen.

 

Mit dem beim SG am 09.08.2023 elektronisch eingegangen Schriftsatz vom 08.08.2023 hat der Klägerbevollmächtigte im Wesentlichen vorgetragen, das SG habe in den von ihm bearbeiteten Fällen noch nicht einmal davon Gebrauch gemacht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden mit dem Hinweis, Ermittlungen von Amts wegen seien nicht mehr notwendig. Er könne mit Überzeugung vortragen, dass es unzählige andere Fälle geben dürfte, in welchen eine überschaubarere Krankenhistorie nebst Diagnostik zur Abklärung durch Gutachteneinholung vorliege. Soweit das SG zu erkennen gebe, allein dem außergerichtlichen Gutachten X.s zu folgen, werde um Prüfung und Stellungnahme des Gerichts gebeten, ob mit diesem Hinweis gleichzeitig erklärt werde, dass den anderen Arztberichten entweder nicht oder weniger gefolgt werde. Wie bereits mit vorhergehendem Schriftsatz vorgetragen, befinde sich der Kläger seit Jahrzehnten bei O. in ärztlicher Behandlung. Dieser habe gegenüber dem SG erklärt, dass aus medizinischer Sicht keine Erwerbsfähigkeit mehr bestehe. Es gebe also keine einheitliche Linie bei den eingeholten Befundberichten, weshalb eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht in Betracht komme. Es sei weiter zu ermitteln und aufzuklären, und zwar durch Einholung eines objektiven und neutralen Gutachtens. Andernfalls würde sich das SG einer außergerichtlichen Gutachtermeinung anschließen und dabei die Bewertung weiterer Ärzte ausklammern, obgleich durch das Gericht selbst diese weiteren Befundberichte eingeholt worden seien. Dass aktuell anhand der eingeholten Befundberichte keine Anhaltspunkte vorliegen würden, die auf eine Einschränkung des Leistungsvermögens hindeuteten, entziehe sich der Kenntnis des Bevollmächtigten. Mindestens durch einen Arztbericht sei das Gegenteil belegt. Aufgrund des komplexen Krankheitsbildes des Klägers könne nicht von einem Fall ausgegangen werden, der keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise. I.Ü. sei der Sachverhalt auch nicht geklärt, soweit Arztberichte mit verschiedenen Schlussfolgerungen vorlägen. Der Kläger habe einen Anspruch darauf, dass die widersprüchlichen Meinungen aufgeklärt würden. Allein der deutliche Ausreißer des langjährig behandelnden Arztes führe dazu, dass weitere Aufklärungen notwendig seien. Auch der Schriftsatz vom 08.08.2023 ist in der Gerichtsakte hinter der Erledigungsverfügung des SG vom 10.10.2023 abgeheftet und mit dem Vermerk der Geschäftsstelle der 52. Kammer vom 24.10.2023 versehen, dass der Schriftsatz vom 08.08.2023 am 24.10.2023 bei der Geschäftsstelle der Kammer eingegangen und dem Kammervorsitzenden vorgelegt worden sei.

 

Auf die im September 2023 erfolgte Anforderung des SG ist die Schwerbehindertenakte der Stadt Ü. eingegangen. Den Beteiligten hat das SG die Beiziehung dieser Akte nicht mitgeteilt.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) könne das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise und der Sachverhalt geklärt sei. Die Beteiligten seien vorher gehört worden. Die zulässige Klage sei unbegründet. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen stehe fest, dass ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nicht mit der im Wege des Vollbeweises erforderlichen Wahrscheinlichkeit gegeben sei. Das Gericht gelange zu dieser Auffassung aufgrund der aktenkundigen medizinischen Unterlagen und des Gutachtens von X.. In diesen Unterlagen und Gutachten werde der Gesundheitszustand des Klägers so aktuell wie möglich dargestellt und das aus den festgestellten Gesundheitsstörungen abgeleitete grundsätzlich mögliche Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus der Sicht des Gerichts zutreffend beschrieben, nämlich ein Leistungsvermögen des Klägers von sechs Stunden und mehr für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Er sei damit nicht erwerbsgemindert. Da die Frage der Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine rein medizinische Fragestellung sei, bediene sich das Gericht und auch die Beklagte medizinischer Gutachter, die unter Berücksichtigung von medizinischen Berichten und einer Untersuchung über die Leistungsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Auskunft gäben. Eine gerichtlich veranlasste Begutachtung sei nur dann angezeigt, wenn sich für eine weitere medizinische Ermittlung gegenüber den Ermittlungen der Beklagten ein Anhaltspunkt ergebe. Ein solcher Anhaltspunkt lasse sich häufig auf der Grundlage von aktuellen Befundberichten der behandelnden Ärzte erlangen. Ein solcher Anhaltspunkt sei für das Gericht nicht ersichtlich. Vielmehr würden die behandelnden Ärzte des Klägers (I./Herr N.) in Übereinstimmung mit dem von der Beklagten eingeholten Gutachten und dem Entlassungsbericht der behandelnden Ärzte in der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme davon ausgehen, dass der Kläger in der Lage sei, mindestens körperlich leichte Tätigkeiten bis sechs Stunden täglich verrichten zu können. Eine fortlaufende orthopädische Behandlung erfolge nicht, ein lumbaler Bandscheibenvorfall sei bei der Begutachtung durch X. berücksichtigt worden.

 

Gegen den ihm am 10.10.2023 zugegangenen Gerichtsbescheid trägt der Klägerbevollmächtigte mit der am 23.10.2023 bei dem Landessozialgericht NRW (LSG) eingegangenen Berufung im Wesentlichen vor, das SG habe im Wege der Sachverhaltsaufklärung und Ermittlungen von Amts wegen Befundberichte eingeholt. Der den Kläger seit 2002 behandelnde O. habe in seinem Befundbericht eindeutig erklärt, der Kläger sei seit 2019 erwerbsunfähig. Weitergehende Sachverhaltsaufklärung und Amtsermittlungen seien nicht erfolgt, ein Sachverständigengutachten, das aufgrund des komplexen Krankheitsbildes bei Gericht beantragt worden sei, sei nicht eingeholt worden. Stattdessen habe das SG unter Berufung auf das außergerichtlich eingeholte Gutachten der Beklagten durch Gerichtsbescheid entschieden. Bereits mit Klageerhebung sei darauf hingewiesen worden, dass der Kläger an diversen schweren Erkrankungen leide, die es ihm nicht mehr möglich machen würden, eine auch nur leichte Tätigkeit auszuüben. Diese Erkrankungen lägen in verschiedenen Fachbereichen der Medizin, u.a. der Orthopädie, der Inneren Medizin, aber auch der Psychiatrie und Neurologie. Es könne daher nicht ohne Aufklärung und Ermittlung durch ein Sachverständigengutachten entschieden werden, vor allem nicht ohne ein Gutachten, das die Zusammenhänge der einzelnen Erkrankungen und deren Wechselwirkungen berücksichtige und bewerte, was beantragt werde. Das von der Beklagten eingeholte Gutachten von X. könne hingegen nicht objektive Entscheidungsgrundlage für die Bewertung der Erwerbsfähigkeit des Klägers sein. I.Ü. wiederholt und vertieft der Klägerbevollmächtigte seinen Vortrag aus dem Klageverfahren, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorgelegen hätten, da weder der Sachverhalt aufgeklärt gewesen sei, insbesondere nicht die einzelnen Krankheiten und Behinderungen des Klägers mit ihren funktionellen Folgen, noch eine Sache vorliege, die keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise.

 

Auf Anforderung des Senats hat die Beklagte einen aktuellen unverschlüsselten Versicherungsverlauf vom 27.11.2023 übersandt und mitgeteilt, dieser weiche von dem dem SG übersandten Versicherungsverlauf vom 05.01.2023 ab, da ihr von der Agentur für Arbeit Bottrop mit Schreiben vom 19.04.2023 Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug für weitere seit 2018 liegende Zeiten bestätigt worden seien, unter deren Berücksichtigung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit ab Rentenantragstellung laufend erfüllt seien. Hierüber sei das Sozialgericht Gelsenkirchen mit Schriftsatz vom 28.04.2023 informiert worden. Den Schriftsatz vom 28.04.2023 mit dem Sendebeleg über die am 28.04.2023 erfolgte elektronische Übersendung zum Aktenzeichen S 52 R 740/22 hat die Beklagte beigefügt.

 

Die Anfrage des Senats, ob die von der Beklagten angeführten Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug zutreffen würden und ob damit nunmehr alle bei dem Kläger vorliegenden rentenrechtlichen Zeiten von der Beklagten im vorliegenden Versicherungsverlauf vollständig erfasst worden seien, hat der Klägerbevollmächtigte bejaht.

 

Auf die Anfrage des Senats, welche berufliche Ausbildung der Kläger in der Zeit vom 05.07. bis 29.08.2021 durchlaufen habe und wer Träger der Ausbildung gewesen sei, hat der Klägerbevollmächtigte mitgeteilt, der Kläger habe eine berufliche Integrationsmaßnahme als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten, die von der J. GmbH durchgeführt worden sei; es habe sich um eine Art theoretische Maßnahme zwecks Bewerbungscoaching etc. sowie um die anschließende Möglichkeit von Praktika, beispielsweise im Bereich Security, Hausmeistertätigkeit oder Altenpflege gehandelt,  was sowohl aus Sicht des Klägers als auch der Rentenversicherung aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen nicht in Betracht gekommen sei.

 

Auf die Anfrage des Senats, aus welchem Grund die am 23.05.2023, 12.06.2023 und 09.08.2023 per beA eingegangenen Schriftsätze des Kl.-Bev. am 24.10.2023 veraktet worden sind und nicht jeweils direkt nach Eingang und damit auch nicht vor dem am 10.10.2023 erfolgten Signieren des Gerichtsbescheides, hat der Vorsitzende der 52. Kammer mit Schreiben vom 14.02.2024 mitgeteilt, dass ihm als Kammervorsitzenden der 52. Kammer die Schriftsätze der Klägerseite vom 23.05.2023, 12.06.2023 und 08.08.2023, eingereicht noch unter dem vorherigen Aktenzeichen der 57. Kammer und dort elektronisch eingegangen, offenbar aufgrund eines Versehens der dortigen Geschäftsstelle erst am 24.10.2023 vorgelegt worden seien.

 

Mit Schreiben vom 17.05.2024 hat der Senat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass hier eine Zurückverweisung in Betracht komme, § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Das SG dürfte den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt haben, was einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen würde. Das SG habe den Beteiligten den zum 09.01.2023 für das Klageverfahren erfolgten Wechsel der Zuständigkeit von der 57. Kammer auf die 52. Kammer nicht mitgeteilt. Die drei Schriftsätze des Klägerbevollmächtigten vom 23.05.2023, 12.06.2023 und 08.08.2023 (elektronisch beim SG eingegangen am 23.05.2023, 12.06.2023 und 09.08.2023) seien dem Vorsitzenden der 52. Kammer bis zum Erlass des Gerichtsbescheides S 52 R 740/22 vom 10.10.2023 nicht vorgelegt worden, wie auch seine auf Befragung des Senats erfolgte Einlassung vom 14.02.2024 bestätige. Insofern sei umfangreicher Beteiligtenvortrag in Form dieser drei Schriftsätze bei Erlass des Gerichtsbescheides vom 10.10.2023 nicht berücksichtigt worden, was eine Gehörsverletzung darstelle. Auch dürfte dieser Mangel wesentlich sein - bei Beachtung des rechtlichen Gehörs durch Berücksichtigung der drei bezeichneten Schriftsätze sei nicht auszuschließen, dass das SG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre - und eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich machen. Denn es dürfte davon auszugehen sein, dass das SG infolge des Vortrags des Klägerbevollmächtigten in den bezeichneten Schriftsätzen von Amts wegen hätte weiter ermitteln müssen, insbesondere durch Einholung eines weiteren Befundberichts (des Orthopäden R.) und eines Sachverständigengutachtens, wie vom Klägerbevollmächtigten im Schriftsatz vom 23.05.2023 und vom 08.08.2023 zu Recht vorgetragen und begründet worden sei, zumal hier voneinander abweichende Beurteilungen derjenigen Behandler des Klägers vorlägen, von denen das SG im Wege der Amtsermittlungen Befundberichte eingeholt habe. Hierbei habe jedoch das SG ausweislich des Gerichtsbescheides vom 10.10.2023 (dort Seite 7) den eingeholten und für das Begehren des Klägers sprechenden Befundbericht von O., bei dem es sich - ausweislich des vom SG nicht berücksichtigten Schriftsatzes des Klägerbevollmächtigten vom 23.05.2023 - um den langjährig behandelnden Arzt des Klägers handele, gänzlich unberücksichtigt gelassen, denn weder nenne es diesen Befundbericht im Tatbestand des Gerichtsbescheides (siehe dort Seite 4, wo es allein die Berichte von I. und von Herrn N. anführe) noch würdige es diesen Befundbericht in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides (siehe dort Seite 7, wo es erneut allein die Berichte von I. und von Herrn N. anführe und auch nur diese Berichte würdige). Es sei daher beabsichtigt, den Rechtsstreit zum nächsten Verhandlungstermin des Senats zu laden. Vor dem Hintergrund der gemachten Ausführungen werde jedoch um kurzfristige Prüfung und Mitteilung gebeten, ob Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung bestehe. Dabei werde der Klägerbevollmächtigte auch um kurzfristige Prüfung und Mitteilung gebeten, ob der Kläger eine Zurückverweisung anrege (der Senat entscheide unter den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG von Amts wegen – ein Antrag sei insofern eine Anregung – nach Ermessen).

 

Mit Schriftsatz vom 22.05.2024 hat der Klägerbevollmächtigte mitgeteilt, er bestätige namens und im Auftrag des Klägers, dass Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung bestehe; im Übrigen werde entsprechend des Hinweises des Senates angeregt, das Verfahren an das SG zurückzuverweisen. Mit Schriftsatz vom 23.05.2024 hat die Beklagte mitgeteilt, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden zu sein.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der Beratung des Senats war, Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die nach §§ 143, 144 SGG statthafte sowie nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist zulässig.

 

Die Berufung des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angegriffenen Gerichtsbescheides des SG Gelsenkirchen. vom 10.10.2023 und der Zurückverweisung der Sache an das SG Gelsenkirchen begründet.

 

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das LSG die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

 

Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung sind erfüllt.

Die Entscheidung des SG leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln (dazu I.). Auf Grund der wesentlichen Verfahrensmängel ist auch eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig (dazu II.). Der Senat übt das ihm durch § 159 Abs. 1 SGG eingeräumte Ermessen im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht aus (dazu III.).

 

I.

Die Entscheidung des SG leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 erster Halbsatz SGG.

 

Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift. Erfasst sind grundsätzlich nicht Fehler der Entscheidung selbst, sondern Fehler auf dem Weg zum Urteil (Adolf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 159 (Stand: 15.06.2022) Rdn. 17; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 144 Rdn. 32 und § 159 Rdn. 3 sowie Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 160 Rdn. 16a). Hierunter fallen u.a. die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Senger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 62 (Stand: 24.10.2023) Rdn. 43; Keller, a.a.O. § 62 Rdn. 11 und § 144 Rdn. 34) und die Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 (Stand: 17.06.2024), Rdn. 13; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 16.03.2006, B 4 RA 59/04 R, juris Rdn. 13 f.).

 

Mit seiner Entscheidung hat das SG den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (dazu 1.) und auf den gesetzlichen Richter verletzt (dazu 2.). Diese Verfahrensmängel sind jeweils auch wesentlich (dazu 3.).

 

1.

Das SG hat das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG), §§ 62, 105 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. 128 Abs. 2, 105 Abs. 1 Satz 2 SGG).

a.

Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör; nach der speziellen Ausformung durch § 62 Halbsatz 1 SGG ist vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren.

 

Ein Gericht ist im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen auch in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen (BSG, Urteil vom 05.10.2010, B 8 SO 62/10 B, juris). Eine Verletzung des Gehörsanspruchs durch Nichtberücksichtigung von Beteiligtenvortrag ist jedoch anzunehmen, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden ist (BSG, Beschluss vom 21.12.2021, B 11 AL 61/21 B, juris Rdn. 4 m.w.N.)

 

Gemessen an diesen Maßstäben liegt hier eine Gehörsverletzung vor. Die drei Schriftsätze des Klägerbevollmächtigten vom 23.05.2023, 12.06.2023 und 08.08.2023 sind bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 nicht an den Vorsitzenden der 52. Kammer gelangt, auf den das Verfahren am 09.01.2023 zuständigkeitshalber von der 57. Kammer übergegangen war. Ausweislich seiner auf Befragung des Senats erfolgten Einlassung vom 14.02.2024 sind ihm diese drei Schriftsätze aufgrund eines Versehens der Geschäftsstelle erst am 24.10.2023 vorgelegt worden. Insofern ist umfangreicher Beteiligtenvortrag vom Kammervorsitzenden bei Erlass des Gerichtsbescheides vom 10.10.2023 überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden.

 

b.

Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Artikel 103 Abs. 1 GG, §§ 62, 105 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. 128 Abs. 2 SGG) in Ausprägung der Regelung des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG liegt vor, wenn das SG ohne ordnungsgemäße Anhörungsmitteilung durch Gerichtsbescheid entscheidet (Burkiczak, a.a.O., § 105 Rdn. 116).

 

Das Gericht kann nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Gemäß § 105 Absatz 1 Satz 2 SGG sind die Beteiligten vor Erlass eines Gerichtsbescheides zu hören; diese Norm wiederholt damit bereichsspezifisch die allgemeine Vorgabe des § 62 SGG und die verfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 103 Absatz 1 GG. Dabei ist eine Anhörungsmitteilung in der Regel nur einmal erforderlich. Einer nochmaligen Mitteilung bedarf es aber, wenn sich die Prozesssituation wesentlich geändert hat, was der Fall sein kann, wenn sich die Prozesssituation entscheidungserheblich geändert hat (BSG, Beschluss vom 20.10.2010, B 13 R 63/10 B, juris); das kann u.A. der Fall sein, wenn neuer Tatsachenvortrag eingereicht worden ist oder wenn ein Beteiligter einen Beweisantrag gestellt hat (Schmidt, a.a.O., § 105 Rdn. 11 m.w.N.). Dabei soll das Gebot der erneuten Anhörung das Gericht veranlassen, in eine Überprüfung seiner beabsichtigten Vorgehensweise einzutreten und - bei Fortbestand der Absicht, im Verfahren nach § 105 SGG zu entscheiden - die Beteiligten über die unverändert vorgesehene Vorgehensweise zu informieren und damit darauf hinzuweisen, dass das Gericht nicht Beweis erheben werde (Schmidt, a.a.O.,§ 105 Rdn. 11 m.w.N.).

 

Gemessen hieran liegt eine – weitere - Gehörsverletzung vor, denn das SG hat den Kläger bis zum Erlass des Gerichtsbescheides vom 10.10.2023 nicht ordnungsgemäß angehört. Die Anhörungsmitteilung des SG vom 25.07.2024 selbst erfolgte auf falscher Tatsachengrundlage, weil bereits zu diesem Zeitpunkt dem Vorsitzenden der 52. Kammer die beiden Schriftsätze des Klägerbevollmächtigten vom 23.05.2023 und 12.06.2023 nicht vorlagen, die elektronisch am 23.05.2023 bzw. 12.06.2023 beim SG eingegangen waren. Zum Zeitpunkt der tatsächlichen Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 lag dem Vorsitzenden der 52. Kammer zudem der beim SG am 09.08.2023 elektronisch eingegangene Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 08.08.2023 nicht vor. Mit diesem war jedoch eine im Vergleich zur Anhörungsmitteilung vom 25.07.2023 wesentlich veränderte Prozesssituation eingetreten, weil der Klägerbevollmächtigte damit vorgetragen hat, dass und aus welchen Gründen die Voraussetzungen einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht gegeben seien, nämlich insbesondere, weil der Sachverhalt nicht geklärt und durch Einholung objektiver und neutraler medizinischer Gutachten weiter aufzuklären sei; ansonsten würde sich das SG einer außergerichtlichen Gutachtermeinung anschließen und dabei die Bewertung weiterer Ärzte ausklammern, obgleich durch das Gericht selbst diese weiteren Befundberichte eingeholt worden seien. Infolge des Eintritts dieser wesentlich veränderten Prozesssituation wäre eine erneute Anhörung erforderlich gewesen, die Beteiligten über die unverändert vorgesehene Vorgehensweise zu informieren und damit darauf hinzuweisen, dass das Gericht nicht Beweis erheben werde. Dies ist jedoch nicht erfolgt; dem Klägerbevollmächtigten ist der Einwand, dass die Voraussetzungen einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid (insbesondere mangels Sachverhaltsklärung) nicht gegeben gewesen seien, faktisch abgeschnitten worden.

 

Ob die nach der Anhörungsmitteilung des SG vom 25.07.2024 im September 2023 erfolgte Beiziehung der Schwerbehindertenakte der Stadt Ü. eine erneute – aber unterbliebene - Anhörung erforderlich gemacht hätte und auch hieraus eine (weitere) Gehörsverletzung folgt, lässt der Senat ebenso dahinstehen wie die Frage, ob die nicht erfolgte Mitteilung über die Beiziehung der Schwerbehindertenakte gegenüber den Beteiligten eine (weitere) Gehörsverletzung darstellt.

 

2.

Das SG hat das Recht des Klägers auf den gesetzlichen Richter verletzt, weil es bei der Entscheidung über die Klage nicht ordnungsgemäß besetzt war.

 

Das SG hat nach § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es den Kläger entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG) entzogen (vgl. BSG, Urteil vom 16.03.2006, B 4 RA 59/04 R, juris Rdn. 13; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.02.2013, L 13 SG 232/12, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13.01.2011, L 3 R 13/10, juris; Burkiczak, a.a.O., § 105 Rdn. 113 m.w.N.).

 

Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides allein durch den Kammervorsitzenden ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist; die Beteiligten sind nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorher zu hören.

 

Die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid haben nicht vorgelegen. Zum einen ist – wie oben bereits dargelegt – eine ordnungsgemäße Anhörung im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht erfolgt. Zum anderen fehlte es entgegen § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG daran, dass der Sachverhalt geklärt ist.

 

a.

Ein geklärter Sachverhalt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist nur anzunehmen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffs keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zu Grunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhaltes hat (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.05.2014, L 3 VE 4/13, juris Rdn 47; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 07.04.2011, L 13 SB 80/10, juris Rdn. 16, vom 09.03.2017, L 13 SB 273/16 und vom 14.01.2017, L 27 R 824/15, alle juris). Ein verständiger Prozessbeteiligter musste in Kenntnis des gesamten Prozessstoffs hier jedoch ernstliche Zweifel daran haben, dass das SG den entscheidungserheblichen Sachverhalt zutreffend zu Grunde gelegt hat. Denn weder im Rahmen seiner Anhörungsmitteilung vom 25.07.2023 noch im Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 hat das SG den von ihm im Wege der Amtsermittlungen eingeholten Befundbericht des den Kläger seit 2002 behandelnden Hausarztes und Allgemeinmediziners O. vom 08.02.2023 berücksichtigt, der in seinem Bericht ausgeführt hat, dass seit 2019 keine Erwerbsfähigkeit des Klägers mehr vorliege. Dies folgt zum einen daraus, dass das SG in der Anhörungsmitteilung - lediglich - ausführt, es ergäben sich aus den aktuell eingeholten Befundberichten keine Anhaltspunkte dafür, dass die durch die Beklagte ermittelte Einschätzung des körperlichen Leistungsvermögens des Klägers einer Revision bedürfte, und dass es hierbei den anderslautenden Bericht des P. nicht erwähnt. Dies folgt des Weiteren auch daraus, dass das SG den Bericht des O. auch weder im Tatbestand des Gerichtsbescheides (vgl. Seite 4 des Gerichtsbescheides, wo es allein die Berichte des I. und des Herrn N. anführt) noch in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides anführt, geschweige denn würdigt (vgl. Seite 7 des Gerichtsbescheides, wo es erneut allein die Berichte des I. und des Herrn N. anführt und auch nur diese beiden Berichte würdigt). Insoweit hat es den Befundbericht des O. offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Der insoweit im Anschluss an die Anhörungsmitteilung vom 25.07.2023 erfolgte Einwand des Klägerbevollmächtigten im Schriftsatz vom 08.08.2023, dass es bei den eingeholten Befundberichten keine einheitliche Linie gebe, dass der Befundbericht des den Kläger seit 2002 langjährig behandelnden Hausarztes O. vielmehr die Begründetheit der Klage bestätige, weil dieser ausführe, dass seit 2019 keine Erwerbsfähigkeit des Klägers mehr vorliege, und dass daher und wegen der komplexen und mehrere medizinische Gebiete abdeckenden Einschränkungen des Klägers die Angelegenheit weiter aufzuklären sei insbesondere durch Einholung mindestens eines objektiven und neutralen Gutachtens, erreichte den Kammervorsitzenden hingegen nicht, weil diesem der Schriftsatz erst am 24.10.2023 und damit nach Entscheidung über die Klage durch Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 vorlag.

 

b.

Ein geklärter Sachverhalt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist zudem nur anzunehmen, wenn das SG im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) keine entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände offengelassen hat (Schmidt, a.a.O., § 105 Rdn. 7 m.w.N.). Das SG hat hier aber entscheidungserhebliche tatsächliche Umstände offengelassen. Denn im Zeitpunkt seiner Entscheidung war für das SG die Frage des Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht geklärt. Nachdem die Ablehnung der Beklagten im Bescheid vom 19.01.2022 mit dem Nichtvorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen begründet worden war, ist das SG weder dem bereits im Widerspruchsverfahren erfolgten Vortrag des Klägers noch dem dies vertiefenden im Klageverfahren erfolgten Vortrag des Klägerbevollmächtigten zum Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen infolge Vorhandenseins weiterer rentenrechtlicher, im Versicherungsverlauf aber nicht gespeicherter Zeiten nachgegangen. Auch nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 09.01.2023 vorgetragen hat, die Agentur für Arbeit zur Klärung etwaig fehlender Zeiten im Versicherungskonto des Klägers angeschrieben zu haben und sich nach Eingang der Antwort erneut zu den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu äußern, ist das SG dieser Frage nicht weiter nachgegangen und hat vor seiner Entscheidung durch Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 eine weitere Äußerung der Beklagten hierzu auch nicht von sich aus erfragt. Der Schriftsatz der Beklagten vom 28.04.2023 mit der darin enthaltenen Information, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien laufend erfüllt, ist nicht zur Gerichtsakte gelangt. Aus Sicht des SG war insofern im Zeitpunkt der Entscheidung durch Gerichtsbescheid das laufende Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht geklärt. Dahinstehen kann dabei, dass das SG im Tatbestand des Gerichtsbescheides in Verkennung des tatsächlichen Inhalts des Bescheides vom 19.01.2022 ausgeführt hat, die Ablehnung im Bescheid vom 19.01.2022 sei „vor dem Hintergrund medizinischer Feststellungen“ erfolgt. Infolge des Widerspruchsvortrags des Klägers, des Klagevortrags des Klägerbevollmächtigten und des Schriftsatzes der Beklagten vom 09.01.2023 gab es unabhängig von dieser Verkennung mehrfach Ansatz, der Frage des Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nachgehen zu müssen und diese zu klären. Dennoch hat das SG diese Klärung nicht von sich aus betrieben, obwohl sich erst durch die Klärung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen das ermittlungs- und entscheidungserhebliche Zeitfenster ergibt.

 

c.

Das SG hat zudem den Sachverhalt im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) auch insoweit nicht ausreichend aufgeklärt, als es sich zur weiteren Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen.

 

Für die Entscheidung über die vom Kläger begehrte Rente wegen Erwerbsminderung kommt es – da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seit Rentenantragstellung im September 2021 laufend vorliegen - hinsichtlich der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers im Erwerbsleben darauf an, welche rentenrelevanten Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger seit September 2021 bestehen. Insofern oblag es dem SG im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht, dies aufzuklären, was jedoch nur unzureichend erfolgt ist.

 

Hinsichtlich der Frage, welche rentenrelevanten Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger seit September 2021 vorliegen, haben die vom SG von I. und Herrn N. eingeholten Befundberichte vom 24.01.2023 bzw. vom 20.04.2023 nur einen sehr eingeschränkten Aussagegehalt. Der Internist I. hatte den Kläger im Zeitpunkt seiner Berichtserstellung zuletzt im Januar 2022 behandelt; seine im Bericht vom 24.01.2023 erfolgte Einschätzung deckt daher gerade einmal fünf Monate des hier zu beurteilenden Zeitraums seit September 2021 ab. In seinem Bericht hat I. insofern auch ausgeführt, dass er nicht beantworten könne, ob und ggfs. wann (seitdem) Veränderungen im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten sein könnten. Der Neurologe N. hatte den Kläger im Zeitpunkt seiner Berichtserstellung einzig im Februar 2023 behandelt; seine im Bericht vom 20.04.2023 erfolgte Einschätzung deckt daher gerade einmal einen Monat des hier zu beurteilenden Zeitraums seit September 2021 ab. Bereits vor dem Hintergrund dieser vom SG im Gerichtsbescheid nicht erwähnten und nicht berücksichtigten Aspekte – vielmehr hat es im Gerichtsbescheid ausgeführt, in den vorhandenen Unterlagen und Gutachten werde der Gesundheitszustand des Klägers so aktuell wie möglich dargestellt – erwies und erweist sich die Einholung aktueller Berichte dieser beiden Behandler nach Befragung des Klägers, ob dort auch nach Januar 2021 bzw. nach Februar 2023 eine weitere Behandlung erfolgt ist, als erforderlich. Dies, zumal der Klägerbevollmächtigte im Klageverfahren u.a. auch dargelegt hat, dass die Beklagte sich mit der Depression des Klägers und den Missempfindungen in Händen und Füßen – somit zum Teil Befunden, die in das Fachgebiet des Dr. N. fallen - nicht auseinandergesetzt habe, und in diesem Zusammenhang auch zu eruieren (gewesen) wäre, ob und wann sich der Kläger ggs. - zusätzlich zu der Behandlung durch den Neurologen Herrn N. - in psychiatrischer Behandlung befunden hat.

 

Auch erweisen sich Ermittlungen, ob der Kläger seit September 2021 an rentenrelevanten Einschränkungen aufgrund von Erkrankungen des orthopädischen Fachgebietes leidet, als erforderlich. Allein dass eine „fortlaufende orthopädische Behandlung nicht erfolgt“, wie das SG im letzten Absatz der Gründe des Gerichtsbescheides ausgeführt hat, führt nicht dazu, dass dahingehende Ermittlungen unterbleiben können. Die Klinik S. hat ausweislich des Berichts vom 12.01.2021 ein degeneratives LWS-Syndrom mit Bandscheibenprolaps (ca. 2010) diagnostiziert. Der Klägerbevollmächtigte hat im Klageverfahren ausführlich dargelegt, dass die Beklagte sich mit der Wirbelsäulenerkrankung mit chronischen Schmerzen aufgrund eines nicht operierten Bandscheibenvorfalls nicht auseinandergesetzt habe, genauso wenig wie damit, dass der Kläger wegen seiner schweren Wirbelsäulenbehinderung grundsätzlich starke Schmerzmittel einnehmen müsste, dies aber wegen der Leberzirrhose und der Niereninsuffizienz nicht könne; auch sei in Gänze die Tatsache unberücksichtigt geblieben, dass der Kläger seit Jahren wegen eines nicht operierten Bandscheibenvorfalls schwere Rückenschmerzen habe, die zu Zeiten, als er noch gearbeitet habe, zu regelmäßigen und langen Arbeitsunfähigkeitszeiten geführt hätten und dass sein Orthopäde R. ihn 2019 als austherapiert eingestuft habe, weshalb der Kläger zuletzt auch keine orthopädische Behandlung mehr gehabt habe. Insofern war und ist nach Befragung des Klägers, ob sich an Letzterem etwas geändert hat, neben der Beiziehung der Patientendokumentation des R. für die Zeit der durch ihn erfolgten Behandlung die Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädisch-schmerztherapeutischem Fachgebiet erforderlich, nachdem der Kläger bisher allein im Rahmen des Verwaltungsverfahrens durch einen Internisten – hier X. - begutachtet worden ist.

 

Auch Ermittlungen zur Frage des Vorliegens einer etwaigen Suchterkrankung des Klägers und etwaiger daraus folgender rentenrelevanter Einschränkungen erweisen sich als notwendig. Die Auswertung des Berichts der Klinik S. vom 12.01.2021 über die vom 16.12.2020 bis zum 06.01.2021 durchgeführte medizinische Rehabilitation, in deren Rahmen u.a. eine Leberzirrhose toxischer Genese mit Erstdiagnose Juli 2019 mit Child Pugh A und einem Zustand nach portaler Dekompensation im Juli und November 2019 sowie eine chronische Niereninsuffizienz diagnostiziert worden sind, hat bereits die Beklagte im Verwaltungsverfahren zu dem Aktenvermerk veranlasst, es solle eine „Abgabe an Sucht“ erfolgen und „ggs. nach Abschluss des Rentenverfahrens ein Angebot für eine LZ-Entwöhnungsbehandlung“ ergehen. Insoweit erweisen sich insbesondere die Anforderung eines erneuten Berichts des Hausarztes O. mit konkreter Befragung zu einer etwaigen Suchterkrankung des Klägers und etwaiger daraus folgender rentenrelevanter Einschränkungen nebst Beiziehung von dessen Patientendokumentation für die Zeit seit Rentenantragstellung im September 2021 sowie eine einschlägige ambulante sachverständige Begutachtung des Klägers als erforderlich.

 

3.

Die unter 1. und 2. genannten Verfahrensmängel sind jeweils wesentlich i.S.d. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

 

Wesentlich ist ein Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung auf ihm beruhen kann (Keller, a.a.O., § 159, Rdn. 3a).

 

Die hier erfolgte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör infolge einer Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid vom 10.10.2023 bei mangelnder Berücksichtigung umfangreichen Beteiligtenvortrags und ohne erneute vorherige Anhörungsmitteilung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 SGG dar (vgl. etwa Burkiczak, a.a.O., § 105 SGG, Rdn. 98). Denn es ist hier jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Klägerbevollmächtigte ohne diese Verstöße mindestens mit seinem Einwand, dass die Voraussetzungen einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorlagen, erfolgreich durchgedrungen wäre.

 

Auch die hier erfolgte Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Bei dem zur Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter führenden Verstoß des SG gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) - da es entscheidungserhebliche tatsächliche Umstände offengelassen hat und sich zur weiteren Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen - handelt es sich um einen wesentlichen Verstoß; fehlt es in weitem Umfang an Ermittlungen, zu denen sich das Sozialgericht im Rahmen des § 103 SGG gedrängt fühlen musste, folgt daraus, dass die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann; die Verletzung des § 103 SGG ist insofern ein wesentlicher Verfahrensmangel (Leitherer, a.a.O., § 103, Rdn. 20 mit Hinweis auf BSG, Urteile vom 02.06.1959, 2 RU 20/56, und vom 20.08.1963, 11 RV 104/63, juris). Im Übrigen sind Verfahrensfehler, die absolute Revisionsgründe sind, stets wesentlich (Keller, a.a.O., § 159 Rdn. 3a). Eine - wegen des Fehlens der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG - fehlerhafte Besetzung der Kammer allein mit dem Vorsitzenden stellt einen absoluten Revisionsgrund dar; denn nach § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 547 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre (Keller, a.a.O. § 12 Rdn. 12; Nguyễn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 12 (Stand: 15.06.2022) Rdn. 84 m.w.N.).

 

II.

Die aufgezeigten wesentlichen Verfahrensmängel machen eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG erforderlich.

 

Fehlt es – wie hier - in weitem Umfang an Ermittlungen, zu denen sich das SG im Rahmen des § 103 SGG gedrängt fühlen musste, folgt daraus nicht nur, dass die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann, sondern auch, dass der Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht.

 

Letzteres ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/6746, S. 27, zu Nummer 8) der Fall, wenn die Beweisaufnahme einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erforderlich macht. Das ist regelmäßig der Fall, wenn einige Befund- und Behandlungsberichte und zumindest ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen sind; ein Rückgriff auf medizinische Gutachten (im Wege des Urkundsbeweises), die vom Versicherungsträger im Verwaltungsverfahren angefertigt wurden, genügt dabei zur Sachaufklärung durch das Gericht regelmäßig nicht (Keller, a.a.O. § 159 Rdn. 4). Denn da die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen unterliegt und im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen sind, die auch das Bundessozialgericht an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt, darf sich ein Sozialgericht in einem – wie dem Recht der Rentenversicherung – medizinisch geprägtem Sachgebiet mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse nicht allein auf die bereits aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen stützen. Auch die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt regelmäßig nicht, um den Erfordernissen der Amtsermittlung gerecht zu werden; sie sind nur schriftliche Zeugenaussagen; den behandelnden Ärzten fehlt überdies in aller Regel eine sozialmedizinische Schulung und Erfahrung. Insofern bedarf es zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht im Klageverfahren in der Regel insbesondere der Einholung eines Sachverständigengutachtens; ein Rückgriff auf medizinische Gutachten, die vom Versicherungsträger im Verwaltungsverfahren angefertigt wurden, genügt zur Sachaufklärung durch das Sozialgericht regelmäßig nicht (Keller, a.a.O. § 159 Rdn. 4; LSG NRW, Urteil vom 29.08.2012, L 10 SB 134/12, juris Rdn. 35; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 24.01.2024, L 3 SB 2024/23, juris (mit Anmerkung von Bernd Westermann, jurisPR-SozR 11/2024 Anm. 4), und vom 11.12.2020, L 4 R 1223/20, juris Rdn. 60 ff.; LSG Bayern, Urteile vom 05.06.2019, L 17 U 340/18, juris Rdn. 31 und vom 12.10.2017, L 17 U 208/17, juris Rdn. 27; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 09.03.2017, L 13 SB 273/16, juris Rdn. 21, vom 14.01.2016, L 27 R 824/15, juris Rdn. 14, vom 12.05.2011, L 13 SB 49/11, juris Rdn. 27, und vom  07.04.2011, L 13 SB 80/10, juris Rdn. 18; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteile vom 27.08.2014, L 5 U 6/14, juris Rdn. 82 und vom 13.05.2014, L 3 VE 4/13, juris Rdn. 49; vgl. i.Ü. auch Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 103 SGG (Stand: 25.06.2024), Rdn. 182).

 

Wie oben aufgezeigt sind hier umfangreiche Ermittlungen, die sich (jedenfalls teilweise) bereits im Verwaltungsverfahren und anschließend im Klageverfahren aufgedrängt haben, vorliegend nicht getätigt worden. Es sind hier noch Befund- und Behandlungsberichte beizuziehen und voraussichtlich zumindest ein umfangreiches medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Die vom SG demgegenüber getätigten Ermittlungen – die erfolgte Einholung von drei Befundberichten, von denen das SG den einen, für den Kläger sprechenden Bericht nicht berücksichtigt hat und von denen sich die beiden anderen unter Berücksichtigung ihres Inhalts als zur Sachverhaltsklärung unzureichend erweisen, sowie die erfolgte Beiziehung der Schwerbehindertenakte des Klägers, aus der das SG ausweislich des Gerichtsbescheides vom 10.10.2023 offenbar jedoch keine weiteren Erkenntnisse gezogen hat - greifen insofern deutlich zu kurz und der i.Ü. erfolgte Rückgriff allein auf das von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholte internistische Gutachten von X. erweist sich als gänzlich unzureichend.

 

III.

Der Senat übt das ihm von § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG eröffnete Ermessen dahingehend aus, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit an das SG Gelsenkirchen zurückzuverweisen.

Ob bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen eine Zurückverweisung erfolgt, steht im Ermessen des Berufungsgerichts. Dieses muss zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits abwägen; eine Zurückverweisung an das SG soll durch das LSG, dem selbst die Möglichkeiten zur Erforschung des Sachverhaltes offenstehen, nur im Ausnahmefall erfolgen (Adolf, a.a.O., § 159 Rdn. 24; Keller, a.a.O., § 159 Rdn. 5 bis 5b).

 

Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat insofern das Interesse des Klägers an einer möglichst zeitnahen Sachentscheidung einerseits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits miteinander abgewogen. Hierbei war das Interesse des Klägers an einer Sachentscheidung durch die erste Instanz entscheidend, welches er klar zum Ausdruck gebracht hat; denn er hat die Zurückverweisung ausdrücklich angeregt; die Beklagte hat hiergegen keine Einwendungen erhoben. Bei der Ausübung seines Ermessens hat der Senat daher durchaus in Rechnung gestellt, dass das Verfahren für den Kläger damit noch länger dauert; dies entspricht aber dessen eigenem geäußerten Willen. Des Weiteren hat sich der Senat auch angesichts der Tatsache, dass das Berufungsverfahren erst seit Ende Oktober 2023 beim LSG anhängig ist und das SG noch notwendige umfangreiche Ermittlungen durchzuführen hat,- wozu auf obige Ausführungen verwiesen wird,- zu einer Zurückverweisung entschieden; auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt insofern nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln; angesichts der kurzen Dauer des gesamten Verfahrens vor dem Senat erscheint es vielmehr prozessökonomischer, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts in rechtskonformer Weise zu geben. Da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu bejahen sind, sind nun die aufgezeigten Ermittlungen nachzuholen, für die dem Kläger eine Tatsacheninstanz genommen würde, wenn der Rechtsstreit beim LSG fortgeführt würde, nachdem das SG diese Ermittlungen unterlassen hat; ohne diese Ermittlungen aber ist der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif; die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Zudem kann nicht außer Acht bleiben, dass der Kläger die Entscheidung durch Gerichtsbescheid zu Recht gerügt hat; der Verlust einer Instanz würde daher besonders schwer wirken.

 

Das SG hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, seiner Entscheidung zugrunde zu legen, § 159 Abs. 2 SGG.

IV.

Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Diese ist – einschließlich der Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Berufungsverfahrens – der abschließenden Entscheidung des SG Gelsenkirchen vorbehalten, da das erstinstanzliche Verfahren fortgesetzt wird (Keller, a.a.O., § 159, Rdn. 5f).

 

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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