- Hat der/die KV ein mit „Urteil“ überschriebenes Schriftstück, welches lediglich ein sog. „Kurzrubrum“ oder die bloße Verfügung „bitte volles Rubrum einfügen“ enthält, unterschrieben, steht nicht fest, ob der/die KV überhaupt ein konkretes Rubrum vor Augen, geprüft und für richtig befunden hat, so dass es von der nachfolgenden Unterschrift umfasst sein konnte.
- Hat der/die UdG des SG hieraus ein vollständiges „Urteil“ (auch mit Rubrum) erstellt und als beglaubigte Abschrift zugestellt, ohne dass dieses Dokument vom KV unterzeichnet worden ist, ist lediglich die Abschrift eines Urteilsentwurfs zugestellt worden.
- Da bei Urteilen, die nicht aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen, die Verkündung durch Zustellung ersetzt wird (§ 133 Satz 1 SGG), ist den Beteiligten dann lediglich die beglaubigte Abschrift eines Nichturteils zugestellt worden.
Es wird festgestellt, dass das als Urteil bezeichnete Schriftstück des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2022 keine wirksame Entscheidung über die am 24.09.2019 erhobene Klage darstellt.
Das Sozialgericht entscheidet auch über die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für die Beschäftigung der Klägerin bei der A. GmbH für die Zeit ab dem 01.10.2017.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist Bauingenieurin und war als solche ab dem 01.10.1994 bei der Firma D. AG beschäftigt. Seit dem 18.12.1995 ist sie Mitglied beim Versorgungswerk der Architektenkammer in NRW, dem Beigeladenen zu 1, und seit dem 19.12.1995 freiwilliges Mitglied der Ingenieurkammer-Bau NRW. Auf ihren Befreiungsantrag vom 06.12.1995 hin wurde die Klägerin mit (Formular-) Bescheid der Beklagten (damals noch Bundesanstalt für Angestellte <BfA>) vom 30.04.1996 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Nachdem die Klägerin von der Verpflichtung zur Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen befreit worden war, bot die Beklagte der Klägerin an, den Arbeitnehmeranteil der bis dato gezahlten Rentenversicherungsbeiträge zu erstatten. Die Klägerin stellte einen entsprechenden Antrag und erhielt für die Zeit vom 01.10.1993 bis zum 17.12.1995 16.582,72 DM erstattet.
Zum 01.11.2001 wechselte die Klägerin von der Fa. D. AG zu der A. GmbH und Co. KG. Die Frage der dortigen Personalabteilung, ob sie in einem Versorgungswerk sei, bejahte die Klägerin und legte die „Bescheinigung“ über die Beitragsbefreiung vor, die sie zugleich mit dem Befreiungsbescheid von der Beklagten erhalten hatte. Beiträge zur Rentenversicherung wurden daraufhin von der A. GmbH und Co. KG nicht für die Klägerin abgeführt.
Ende 2016/Anfang 2017 legten die bisherigen Gesellschafter der GmbH und Co. KG ihre Kommanditeinlage in die Komplementär-GmbH ein, wodurch sie als Kommanditisten aus der GmbH & Co. KG ausschieden und die GmbH durch Anwachsung Geschäftsinhaberin wurde. Ab dem 01.01.2017 ist die Klägerin somit bei der A. GmbH, der Beigeladenen zu 2, beschäftigt. Im Rahmen dieser Änderungen wurde die Klägerin gebeten eine neue Befreiungsbescheinigung vorzulegen oder eine Bestätigung, dass die bisherige Befreiung fortgelte.
Am 20.03.2017 beantragte die Klägerin daraufhin die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für die ab dem 01.01.2017 ausgeübte Beschäftigung als Bauleiterin und Bauingenieurin bei der A. GmbH. Sie sei als Bauleiterin angestellt und berufsspezifisch tätig. Zudem sei sie seit Dezember 1995 sowohl Mitglied der Ingenieurkammer-Bau NRW als auch des Beigeladenen zu 1. Da zum 01.01.2017 lediglich gesellschaftsrechtliche Änderungen eingetreten seien, nicht aber Änderungen am Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis, müsse sie weiterhin wirksam von Rentenversicherungspflicht befreit sein. Lediglich rein vorsorglich stelle sie einen entsprechenden Befreiungsantrag.
Mit Bescheid vom 16.05.2017 lehnte die Beklagte die Befreiung ab. Zum 01.01.1996 sei § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) geändert worden. Seither komme eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nur in Betracht, wenn zugleich eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk und einer Berufskammer bestehe und einkommensbezogene Beiträge an das berufsständischen Versorgungswerk geleistet würden. Die Klägerin sei jedoch nur freiwilliges Mitglied der Ingenieurkammer-Bau NRW. Die Voraussetzungen für eine Befreiung seien somit nicht erfüllt. Nach der vor 1996 geltenden Gesetzesfassung sei die gesetzliche Pflichtmitgliedschaft in einer Berufskammer sowie in einem berufsständischen Versorgungswerk noch nicht Voraussetzung für eine Befreiung gewesen. Für den nach dieser Vorschrift erteilten Befreiungsbescheid vom 30.04.1996 bestimme gegenwärtig § 231 Abs. 2 SGB VI die Weitergeltung der Befreiung in der „jeweiligen Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit“. Das Bundessozialgericht (BSG) habe insoweit in seiner Entscheidung vom 31.10.2012 klargestellt, dass ausnahmslos jede Entscheidung über die Befreiung eines Pflichtmitglieds eines Versorgungswerkes von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nur für eine ganz konkrete Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber oder für eine konkrete selbstständige Tätigkeit gelte. Dies gelte selbst dann, wenn im zeitlich nachfolgenden, anderen Beschäftigungs- bzw. Tätigkeitsverhältnis wiederum berufsgruppenspezifisch gearbeitet werde. Die Befreiung von der Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 30.04.1996 sei somit allein für die damals von der Klägerin ausgeübte Bauingenieurstätigkeit bei der Firma D. AG in Essen beantragt und erteilt worden. Eine Weitergeltung des Befreiungsbescheides auf die neue Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber scheide daher aus.
Mit ihrem Widerspruch vom 07.06.2017 wies die Klägerin darauf hin, dass die Befreiung ausweislich des Verfügungssatzes des Bescheides ohne die von der Beklagten eingewandte Beschränkung erteilt worden sei. Die Auslegung des Begriffs „jeweilige Beschäftigung“ in der Begründung des Bescheides sei nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung unklar gewesen und führe daher ebenfalls zu keiner Beschränkung der Befreiung. Im Übrigen sei auch die ihr zugleich mit dem Befreiungsbescheid ausgehändigte „Bescheinigung“ zu berücksichtigen. Darauf sei vermerkt, dass sie „dem jeweiligen Arbeitgeber für die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses“ ausgehändigt „und bei der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses dem Arbeitnehmer zurückzugeben“ werden soll. Das spreche dafür, dass der Beschäftigte sich gegenüber wechselnden und damit auch gegenüber neuen Arbeitgebern mit dieser Karte als „Besitzer“ einer Befreiungsbescheinigung legitimieren können sollte.
Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.08.2019 zurück. Dabei vertiefte sie ihre Argumentation aus dem angefochtenen Bescheid.
Hiergegen hat die Klägerin am 24.09.2019 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben und zur Begründung weiterhin geltend gemacht, die Befreiung des Jahres 1996 erstrecke sich auch auf die gegenwärtig ausgeübte Tätigkeit bei der A. GmbH. Im Übrigen genieße sie hinsichtlich des Befreiungsbescheides Vertrauensschutz. Sie habe ihre Alterssicherung auf die erteilte Befreiung hin ausgerichtet und sich entsprechend die bis Ende 1995 geleisteten Arbeitnehmeranteile zur gesetzlichen Rentenversicherung auszahlen lassen. Ein „echter Arbeitgeberwechsel“ sei nur 2001 von der D. AG zur A. GmbH & Co. KG erfolgt. Dort habe es anschließend nur noch einen Rechtsformwechsel gegeben hin zur A. GmbH.
Die Klägerin hat erstinstanzlich schriftsätzlich beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 10.07.2019 (Anm: falsches Bescheiddatum) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.08.2019 aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin aufgrund des Bescheides der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 30.04.1996 für ihre gegenwärtige Beschäftigung als Bauingenieurin bei der Firma A. GmbH Düsseldorf von Rentenversicherungspflicht befreit ist.
Die Beklagte hat schriftsätzlich erstinstanzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat darauf hingewiesen, dass ein Bescheid vom 10.07.2019 nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei und im Übrigen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft. Die inzwischen ständige Besprechung des BSG sei eindeutig. Ausnahmslos jede Entscheidung über die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund Pflichtmitgliedschaft in einem Versorgungswerk wirke nur für eine ganz konkrete Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber oder für eine konkretere selbstständige Tätigkeit.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Kammervorsitzende hat zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern O. und K. am 15.11.2022 ohne mündliche Verhandlung entschieden, die Klage abzuweisen. Auf Blatt 87 ff. der Gerichtsakte findet sich anschließend ein von der Kammervorsitzenden erstelltes Schriftstück. Dieser ist wie folgt überschrieben:
„S 49 R 1251/19
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
Q. ./. C.
(bitte volles Rubrum einfügen)
hat die 49. Kammer des Sozialgerichtes Düsseldorf durch die Richterin am Sozialgericht B. sowie die ehrenamtlichen Richter O. und K. ohne mündliche Verhandlung am 15.11.2022 für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten findet nicht statt.“
Anschließend finden sich Tatbestand und Entscheidungsgründe sowie im Anschluss daran folgender Text:
„RMB: Berufung
B.,
Richterin am Sozialgericht“
Ausschließlich dieses Schriftstück hat die Kammervorsitzende unterschrieben. Anschließend hat die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle ein neues Dokument erstellt, hierin das volle Rubrum samt Landeswappen am Anfang des übernommenen Textes ergänzt und am Ende statt des Textes „RMB: Berufung“ den in der nordrhein-westfälischen Sozialgerichtsbarkeit zur Verfügung stehenden Standardtext der Rechtsmittelbelehrung für eine Berufung im Inland eingefügt. Von dem so erstellten, nicht von der Kammervorsitzenden unterschriebenen Schriftstück hat die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle beglaubigte Abschriften erstellt und diese den Beteiligten zugestellt, an die Klägerin geschah dies am 24.11.2022.
Die Klägerin hat am 27.12.2022 – der 24.12.2022 war ein Samstag, der 26.12.2022 ein gesetzlicher Feiertag – Berufung eingelegt. Zur Begründung legt sie ihr Verständnis des Befreiungsbescheides vom 30.04.1996 dar und führt zu seiner zeitlichen und sachlichen Reichweite aus. Vertrauensschutz ergebe sich auch aus dem Verhalten der Beklagten nach dem Urteil des BSG vom 31.10.2012. Die Beklagte habe damals die Auffassung vertreten, dass bei sogenannten Altfällen, d.h. bei Tätigkeiten, die schon vor dem 31.10.2012 aufgenommen worden seien, kein neuer Befreiungsantrag von den Versicherten gestellt werden müsse. Daran müsse sie sich nun festhalten lassen. Im Übrigen werde auf die Ausführungen erster Instanz Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt nach Hinweis des Senats auf die fehlende Unterschrift der Kammervorsitzenden unter dem von der Geschäftsstelle erstellten und den Beteiligten in beglaubigter Abschrift zugestellten Dokument,
auf die Berufung der Klägerin festzustellen, dass das als Urteil bezeichnete Schriftstück des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2022 keine wirksame Entscheidung über die am 24.09.2019 erhobene Klage darstellt,
Die Beklagte schließt sich dem Antrag der Klägerin an.
In der Sache hält sie das angefochtene Urteil des Sozialgerichts und den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig.
Zum Verfahren sind der Arbeitgeber der Klägerin, die A. GmbH sowie das Versorgungswerk der S. beigeladen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozess- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand von Beratung und Entscheidungsfindung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist bzgl. des im Verkündungstermins vom 26.04.2024 gestellten Antrags, dem sich die Beklagte angeschlossen hat, zulässig und begründet. Es ist festzustellen, dass das als Urteil bezeichnete Schriftstück des SG Düsseldorf vom 15.11.2022 keine wirksame Entscheidung über die am 24.09.2019 erhobene Klage darstellt.
Das Klageverfahren erster Instanz ist damit nicht abgeschlossen, denn es fehlt an einem das Verfahren abschließenden Urteil des SG. Die von der Kammervorsitzenden zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern am 15.11.2022 getroffene Entscheidung, die Klage abzuweisen, ist ohne mündliche Verhandlung ergangen und entsprechend nicht verkündet worden (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
Die Verkündung des Urteils ist auch nicht durch Zustellung ersetzt worden (§ 133 Satz 1 SGG). Zugestellt wird grundsätzlich und wurde auch vorliegend nur eine (beglaubigte) Abschrift. Eine Ausfertigung wird nur auf Antrag und nur in Papierform erteilt (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 317 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung <ZPO>). Dies dient der Arbeitserleichterung für die Urkundsbeamten und der Verfahrensbeschleunigung (BT-Drs. 17/12634, 30). Dadurch ist es entbehrlich geworden, bei einer Urteilsberichtigung (§ 138 SGG) die erteilten Ausfertigungen zurückzuverlangen (BT-Drs. 17/12634, 30). Die Abschrift, i.d.R. unter Verwendung von Kopien, muss das Urteil vollständig und wortgetreu so wiedergeben, wie es gefällt ist, einschließlich des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe sowie der Unterschriften der Richter. Für die Beglaubigung erforderlich ist weiter ein Beglaubigungsvermerk (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 169 Abs. 2–5 ZPO; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, § 137 Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023 Rn. 2; Schultzky in: Zöller, ZPO, 35. Auflage 2024, § 169 Rn. 9 ff.). Zuständig für die Beglaubigung sowie für die Erteilung einer Abschrift ist die Geschäftsstelle. Solange das Urteil nicht unterschrieben ist, dürfen von ihm Auszüge (ebenso Ausfertigungen und Abschriften) nicht erteilt werden (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 317 Abs. 2 Satz 2 ZPO; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, § 137 Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023 Rn. 2; zur Anwendbarkeit in der Sozialgerichtsbarkeit: BSG, Beschl. v. 18.05.2015 – B 9 V 73/14 B).
Vorliegend ist den Beteiligten eine von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des SG beglaubigte Abschrift des „Urteils“ vom 15.11.2022 zugestellt worden. Diese beglaubigte Abschrift entspricht zwar vollständig dem von der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle selbst erstellten Dokument, dieses ist jedoch entgegen § 134 Abs. 1 SGG nicht von der Kammervorsitzenden unterzeichnet worden. Zugestellt wurde somit eine Abschrift eines Urteilsentwurfs (Schütz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 134 SGG, Stand: 15.06.2022 Rn. 21) und damit ein sogenanntes Nichturteil (Schütz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 134 SGG, Stand: 15.06.2022 Rn. 22). Formelle Fehler eines Urteils können durch Zustellung einer beglaubigten Abschrift der Entscheidung an die Verfahrensbeteiligten nicht geheilt werden (nach BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03 – Rn. 18 gilt dies selbst für beglaubigte Ausfertigungen von Urteilen). Die Funktion der beglaubigten Abschrift besteht einzig in der – vorliegend nicht gegebenen – wortgetreuen Wiedergabe des vom Richter unterschrieben Urteils.
Die beglaubigte Abschrift stimmt inhaltlich auch nicht mit dem von der Kammervorsitzenden erstellten und unterschriebenen, auf Blatt 78 ff. der Gerichtsakte befindlichen Dokument überein. Dieses enthält weder ein (volles) Rubrum noch eine Rechtsmittelbelehrung. Beides sollte nach dem Willen der Kammervorsitzenden erst noch von der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle in das Dokument eingefügt werden. Dies hat die Kammervorsitzende mit den Worten „(Bitte volles Rubrum einfügen)“ und „RMB: Berufung“ verfügt. So sollte den gesetzlichen Vorgaben des § 136 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 7 SGG für Urteile Rechnung getragen werden. Diese Verfügung hat die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle auch umgesetzt. Den entsprechend der Verfügung erstellten und den Beteiligten in beglaubigter Abschrift zugestellten, vollständigen Urteilstext hat die Kammervorsitzende jedoch nicht unterschrieben. Eine solche Verfahrensweise entspricht nicht dem Gesetz (BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03 – Rn. 17). Bei dieser Vorgehensweise wird einer zur Entscheidungsfindung nicht befugten Personen von der Vorsitzenden die Anweisung erteilt, fehlende Angaben nachzuholen, ohne deren Befolgung und konkrete Umsetzung zu kontrollieren und so selbst die Verantwortung zu übernehmen (BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03 – Rn. 17).
Es werden in der Rechtsprechung und Literatur allerdings unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten, ob Urteile – Entsprechendes gilt für Gerichtsbescheide und verfahrensbeendende Beschlüsse – auch dann wirksam sein können, wenn in dem vom zuständigen Richter unterschriebenen Dokument zwar ein (vollständiges) Rubrum fehlt, die Verfahrensbeteiligten jedoch aufgrund der im (Urteils-)Dokument erfolgten Bezeichnung sicher ermittelt werden können (ablehnend insoweit OLG Saarbrücken, Urt. v. 26.05.2023 – 1 U 44/22 – Rn. 17, beck-online; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 14.06.2022 – 5 W 31/22; Beschl. v. 01.12.2020 – 5 W 49/20; Beschl. v. 06.02.2020 – 6 WF 16/20; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 04.04.2019 – II-3 UF 4/19; OLG Köln, Beschl. v. 23.06.2020 – II-10 UF 60/20; LSG NRW, Beschl. v. 19.04.2016 – L 6 SF 78/16 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29.05.2012 – L 5 AS 1056/12 B PKH; siehe auch BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03; befürwortend Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 136 Rn. 2, 2a, 3 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 16.10. 2007 – VI ZB 65/06 –, juris Rn. 6; LSG, Urt. v. 20.12.2023 – L 3 R 195/22 –, juris Rn. 26). Dabei wird zum Teil auch die Ansicht vertreten, dass dies nicht nur bei unbeabsichtigtem Fehlen von Teilen des Rubrums gelten soll, sondern auch dann, wenn der unterzeichnende Richter das („volle“) Rubrum bewusst nicht erstellt, sondern lediglich ein „Kurzrubrum“ aufführt, das aus dem Nachnamen des Klägers und einer abgekürzten Bezeichnung der Beklagten („DRV“) besteht, und die Einfügung des „vollen“ Rubrums – wie vorliegend – der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle überlässt (so u.a. LSG NRW, Urt. v. 20.12.2023 – L 3 R 195/22 –, juris Rn. 26).
Der Senat hat erhebliche Bedenken, der letztgenannten Auffassung zu folgen. (Auch) In einer derartigen Fallkonstellation liegt zur Überzeugung des Senats lediglich eine Verfügung vor, mittels derer die endgültige, nicht mehr vom Richter unterschriebene Fassung des Beschlusses bzw. Urteils erst noch erstellt werden soll (vgl. insoweit auch: BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03 – Rn. 17). Dass diese Verfügung zur Erstellung eines Beschlusses oder Urteils – zumindest dann, wenn kein „offenkundiger, schwerer Fehler vorliegt“ – zugleich ein fehlerhaftes, aber wirksames Urteil darstellen könnte, wie dies bisweilen vertreten wird, hält der Senat nicht für überzeugend (a.A. allerdings BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03 – Rn. 20 f).
Der Senat kann diese Frage hier allerdings offenlassen. Die Auffassung, dass die Verfügung zur Erstellung des vollständigen Urteils zugleich bereits das endgültige, wenn auch fehlerhafte Urteil sein kann, stützt sich ganz wesentlich darauf, dass die Bestimmung aller in § 136 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 134 Abs. 1 und 2 SGG dem Richter vorbehaltenen Bestandteile des Urteils vom diesem derart genau vorgegeben werden, dass die lediglich verfügten, noch von den Mitarbeitenden der Geschäftsstelle umzusetzenden Schritte sich auf das reine Umsetzen von eindeutig durch den Richter vorgegebenen Verfügungsschritten beschränkt. Den zur Entscheidung nicht berufenen Mitarbeitenden der Geschäftsstelle dürfen somit bei der Umsetzung der Verfügung keinerlei eigenverantwortlich auszufüllende (Ermessens-)Spielräume verbleiben und es darf keine ergebnisoffene Auslegung hinsichtlich des vom Richter Gewollten notwendig sein. (Nur) In diesem Fall ließe sich zur Überzeugung des Senats rechtfertigen anzunehmen, dass das Urteil von dem zuständigen Richter stammt und von diesem unterschrieben wurde. Dies gilt auch für die nach § 136 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG i.V.m. § 134 Abs. 1 SGG dem Richter vorbehaltenen Bestandteile des Rubrums („die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren“; so ausdrücklich: BGH, Beschl. v. 27.06.2003 – IXa ZB 72/03 – Rn.15, 21; weitergehend BGH, Beschl. v. 16.10.2007 – VI ZB 65/06 –, juris Rn. 6) und nach § 136 Abs.1 Satz 1 Nr. 7 SGG für „die Rechtsmittelbelehrung“.
Bei dem Dokument, das die Kammervorsitzende im hier zu entscheidenden Fall unterzeichnet hat, fehlt es jedoch an einem derart von ihr eindeutig und ohne jeden Zweifel vorgegebenen Inhalt des Rubrums und der Rechtsmittelbelehrung. Vielmehr hat sie insoweit bewusst der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle die eigenverantwortliche Vervollständigung des Urteils überlassen. Mit dem „Kurzrubrum“ „Q. ./. C.“ sind von der Kammervorsitzenden nicht alle notwendigen Informationen vorgegeben worden, um sämtliche Verfahrensbeteiligten, deren Vertreter, Bevollmächtigte etc. mit hinreichender Sicherheit zu identifizieren (vgl. auch: LSG NRW, Beschl. v. 27.09.2023 – L 6 AS 485/23 B – juris Rn. 13; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29.05.2012 – L 5 AS 1056/12 B PKH; Wolff-Dellen, in: Fichte/Jüttner, SGG, § 136, Rn. 2 f.). Dasselbe gilt für die bloße Verfügung „bitte volles Rubrum einfügen“. Die Vorsitzende hat hierdurch auch nicht auf ein unveränderbares Rubrum bzw. einen unveränderbaren Zustand des Rubrums abgestellt, also nicht beispielsweise auf das Rubrum der Klageschrift oder das Rubrum auf dem Beratungsvermerk. Damit steht nicht fest, ob die Kammervorsitzende im Augenblick der Verfügung („bitte volles Rubrum einfügen“) überhaupt konkret ein Rubrum in all seinen Einzelheiten vor Augen hatte, es geprüft und für richtig befunden hat, so dass es von ihrer nachfolgenden Unterschrift umfasst werden konnte. Gleiches gilt für die (konkludente) Verfügung, die Rechtsmittelbelehrung für Berufungsverfahren einzufügen („RMB: Berufung“). Insoweit werden den Sozialgerichten in NRW zumindest zwei Versionen einer Rechtsmittelbelehrung für berufungsfähige Urteile bereitgestellt, eine für „Inlandsfälle“ und eine für „Auslandsfälle“. Auch insoweit konnte und musste die Geschäftsstelle zunächst selbst prüfen und entscheiden, welche Belehrung die Kammervorsitzende eingefügt wissen wollte.
Nach alledem ist den Beteiligten eine „beglaubigte“ Abschrift eines Nichturteils vom 15.11.2022 durch das SG zugestellt worden. Um in einem solchen Fall einerseits den Instanzenzug zu wahren und andererseits die Verfahrensbeteiligten eines Nichturteils nicht rechtlos zu stellen, ist die Berufung mit dem Ziel der Feststellung des Fehlens einer die erste Instanz abschließenden Entscheidung zulässig und begründet. Daher war vorliegend vom Senat auf den Antrag der Klägerin hin festzustellen, dass das als „Urteil“ bezeichnete Schriftstück des SG Düsseldorf vom 15.11.2022 keine wirksame Entscheidung über die Klage vom 24.09.2019 darstellt (LSG NRW, Urt. v. 09.08.2023 – L 3 R 370/22 – juris Rn. 43; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.03.2018 – L 11 VS 38/17 – Rn. 25, juris; Schütz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 133 SGG, Stand: 15.06.2022, Rn. 18). Anschließend ist das Verfahren an das SG zur Fortführung und Entscheidung des Klageverfahrens zurückzugeben. Eine Aufhebung und Zurückverweisung kommt vorliegend – mangels wirksamer Verkündung oder wirksamer, die Verkündung ersetzender Zustellung – nicht in Betracht (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 04.04.2019 - 3 UF 4/19; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 04.04.2019 – II - 3 UF 4/19; OLG Hamm, Beschl. v. 04.10.2022 – 4 UF 75/21).
Der Verfahrensmangel kann aufgrund des Zeitablaufs durch das SG auch nicht mehr durch Nachholung der Unterschrift der Kammervorsitzenden unter das von ihrer Geschäftsstelle erstellte Dokument, von dem die beglaubigte Abschrift erstellt und den Beteiligten zugestellt worden ist, geheilt werden. Nach Ablauf von fünf Monaten seit Erlass eines Urteils ist eine Heilung durch Nachholung der Unterschrift nicht mehr möglich (BSG, Beschl. v. 17.12.2015 – B 2 U 150/15 B –, juris Rn. 11).
Das Verfahren erster Instanz kann auch nicht durch Zustellung eines wortgleichen Textes der gerichtlichen, von der Kammervorsitzenden unterschriebenen Schriftstücks an die Beteiligten abgeschlossen werden. Bei diesem Text handelt es sich um eine Verfügung und nicht um ein den endgültigen und vollständigen Urteilstext bereits enthaltendes Schriftstück (vgl. § 136 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 7 SGG). Die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle sollte und hat den vollständigen schriftlichen Urteilstext entsprechend der Verfügung der Kammervorsitzenden erst noch fertiggestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klägerin mit ihrem Begehren in der Hauptsache bisher nicht durchgedrungen ist und das SG auch über die Kosten noch zu entscheiden haben wird. Bei der erfolgten Feststellung des Vorliegens eines Nichturteils handelt es sich nur um ein unwesentliches Obsiegen, welches von der Beklagten nicht veranlasst worden ist, und daher keine (anteilige) Pflicht zur Kostentragung begründen kann (LSG NRW, Urt. v. 09.08.2023 – L 3 R 370/22, juris Rn. 45).
Die Revision ist nicht zuzulassen, § 160 SGG.