L 13 VG 9/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 30 VG 22/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 9/23
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 1/24 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

Das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 19.01.2023 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Beweiserhebung und Entscheidung an das Sozialgericht Köln zurückverwiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

 

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen eines von ihr geltend gemachten Schockschadens aufgrund eines tätlichen Angriffs gegen ihre damalige Freundin und heutige Ehefrau. Diese wurde vom Täter am 17.5.2013 ins Gesicht geschlagen und erlitt dabei eine Gehirnerschütterung, eine Platzwunde auf der Nase sowie diverse Prellungen und verlor außerdem zwei Schneidezähne.

 

Am 23.07.2013 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen des Geschehens vom 17.05.2013.

 

Durch Strafurteil des Amtsgerichts Köln vom 04.04.2014 wurde der Täter zunächst wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Strafgesetzbuch (StGB) im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung verurteilt. Auf die Berufung des Täters wurde das Verfahren später durch Beschluss des Landgerichts Köln gegen Auflage einer Geldzahlung von 1000 Euro an die unmittelbar Geschädigte eingestellt. Außerdem wurde der Täter in einem Zivilprozess vom Landgericht Köln rechtskräftig zur Zahlung von Schmerzensgeld an die unmittelbar Geschädigte verurteilt.

 

Durch Bescheid vom 30.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.5.2016 lehnte der Beklagte gegenüber der Klägerin die Gewährung von Versorgung mangels eines nachgewiesenen ihr gegenüber begangenen Angriffs sowie mangels einer ausreichend schweren vorsätzlichen Gewalttat gegenüber der unmittelbar Geschädigten ab.

 

Am 07.06.2016 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, durch den bei dem Übergriff auf ihre damalige Lebensgefährtin und heutige Ehefrau erlittenen Schock unter fortdauernden Beeinträchtigungen wegen psychischer Erkrankungen zu leiden.

 

Die Klägerin hat vor dem SG erklärt die Klage auf den geltend gemachten Schockschaden zu begrenzen und beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2016 zu verpflichten festzustellen, dass bei ihr Gesundheitsstörungen in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung, hilfsweise einer Verschlimmerung einer vorbestehenden Neigung zur Verarbeitungsstörung mit leichter ängstlich depressiver Symptomatik vorliegen, die ursächlich durch ein schädigendes Ereignis im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG hervorgerufen worden sind sowie den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin wegen der erlittenen Schädigung Heilbehandlung zu gewähren sowie den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin ab Mai 2013 Beschädigtenrente unter Berücksichtigung eines GdS von mindesten 30 von Hundert zu gewähren.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Er hat sich – wie auch in den angefochtenen Bescheiden – darauf gestützt, dass die Anerkennung sogenannter Schockschäden bei Sekundäropfern wie der Klägerin nach der für die Behörden geltenden Weisungslage der Bezirksregierung P. vom 28.4.2006 (Az: 102.3 – 4371 A – 19/2006 Sa Nr. 30/2006)  gemäß dem Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales  (BMAS) vom 20.1.2006 (Az VI e 2 – 47035/3) entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraussetze, dass die betroffenen Sekundäropfer entweder Tatzeugen einer schweren Gewalttat wie z.B. Mord; Totschlag oder schwere Körperverletzung, dh Delikten mit einer Mindeststrafe von einem Jahr und nicht nur einer „einfachen“ Gewalttat geworden seien oder aber – falls sie nicht Zeugen der Gewalttat waren, sondern erst später auf sonstige Weise hiervon erfuhren - mit dem Gewaltopfer in einer besonderen emotionalen Nähebeziehung stehen müssten, die eine intakte Ehe, eine eingetragene Lebenspartnerschaft, ein Eltern-Kind-Verhältnis oder eine nicht-eheliche Lebensgemeinschaft voraussetze, was zur Zeit der Tat bei der Klägerin und dem damaligen unmittelbaren Tatopfer aber noch nicht der Fall gewesen sei.

 

Das SG  hat weder die Klägerin noch die unmittelbar Geschädigte persönlich angehört und auch nicht alle medizinischen Unterlagen über den vor und nach dem Geschehen vom 15.5.2023 bei der Klägerin bestehenden Gesundheitszustand beigezogen. Es hat vielmehr ohne weitere Vorbereitung und auch ohne genaue Vorgabe, von welchem Geschehensablauf bzgl. der Ereignisse des 17.5.2013 auszugehen ist, medizinischen Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie T., der auch die Zusatzqualifikationen Psychotherapie, spezielle Schmerztherapie und Rehabilitationsmedizin führt.

 

Die dem Sachverständigen vom SG gestellten Beweisfragen lauteten:

 

1. Welche nicht nur vorübergehenden – d.h. welche länger als 6 Monate bestehenden bzw. voraussichtlich mindestens 6 Monate andauernden – Gesundheitsstörungen liegen auf Ihrem Fachgebiet bei d.Kl. vor?

 

2. Welcher Grad der Behinderung (GdB) wird durch die das altersübliche Maß übersteigenden Funktionsbeeinträchtigungen

a. für die einzelnen Leiden

b. für die betroffenen Funktionssysteme

c. insgesamt

seit dem 17.05.2013 (ggf zeitlich gestaffelt) hervorgerufen?

 

3. Welche der unter 1. festgestellten Beeinträchtigungen bzw. welcher der abgrenzbaren Teile dieser Beeinträchtigungen sind mit Wahrscheinlichkeit ursächlich im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf gegenüber der damaligen Lebensgefährtin begangenen Körperverletzung zurückzuführen?

 

Falls unter 3. Schädigungsfolgen bejaht werden:

 

4. Wie hat/haben die entsprechenden Leidensbezeichnungen zu lauten?

 

5. Wie hoch ist der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) seit 17.5.2013 (ggf gestaffelt) zu bemessen

a) für die einzelnen schädigungsbedingten Leiden

b) für die einzelnen Funktionssysteme

c) für die Gesamtheit der schädigungsbedingten Leiden?

 

Das SG hat dem Sachverständigen dabei aufgegeben, das Gutachten auf der Grundlage der versorgungsmedizinischen Grundsätze – VMG – vom 10.12.2008 auf dem Boden der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung zu erstatten und dem Sachverständigen erlaubt ergänzend die „Anhaltspunkte 2008“ heranzuziehen, soweit diese noch dem aktuellen Stand der herrschenden Meinung entsprechen – jeweils abrufbar unter dem link: http://www.gesetze-im-internet.de/vermedv/index.html .

 

Ferner hat es dem Sachverständigen aufgegeben, dem Gericht Mitteilung zu machen, falls Zusatzgutachten erforderlich seien. Im (gerichtsüblichen) Übersendungsschreiben der Akten wurde T. zudem aufgefordert sich bei etwaigen Unklarheiten umgehend mit dem Gericht in Verbindung zu setzen.

 

T. hat die Klägerin im Juni 2022 untersucht und in seinem Gutachten die ihm gegenüber von der Klägerin vorgetragenen Angaben zum Geschehen des 17.5.2013 zugrunde gelegt. Auf dieser Basis hat er ausgeführt, dass aus Aktenlage, Anamnese, Untersuchungsbefunden und Zusatzuntersuchungen bei der Klägerin folgende Diagnosen resultierten:

 

1. Ängstlich-depressive Verarbeitungsstörung (ICD-10: F 43.8G)

2. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F 45.40 G).

 

Bei der anhaltenden somatoformen Scherzstörung der Klägerin handelte es sich um eine stärker behindernde psychische Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem Einzelgrad der Behinderung von 30, der voll erreicht sei.  Die ängstlich-depressive Verarbeitungsstörung der Klägerin erreiche hingegen sicher nicht das Ausmaß einer stärker behindernden psychischen Störung und sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bemessen. Insgesamt sei für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche ein Teilgrad der Behinderung von 40 festzustellen, welcher soeben erreicht werde. Auch der Gesamtgrad der Behinderung der Klägerin seit dem 17.4.2013 (gemeint wohl: 17.5.2013) betrage 40.

 

Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung der Klägerin lasse sich nicht als überwiegende Ursache mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf die gegenüber der damaligen Lebensgefährtin der Klägerin begangene Körperverletzung zurückführen. Der zeitliche Verlauf zeige, dass eine langsame Entwicklung dieser Schmerzsymptomatik erst viele Monate nach dem Übergriff eingetreten sei. Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen entstünden nicht als Folge eines singulären Ereignisse, sondern vorwiegend auf dem Boden einer Prädisposition und komplexer innerpsychischer Konflikte. Erst ein Jahr vor seiner Untersuchung (also im Jahr 2021) sei die Diagnose des Fibromyalgiesyndroms gestellt worden, womit relevante Defizite also auch erst viel später als nach dem Ereignis eingetreten seien.

 

Die ängstlich-depressive Verarbeitungsstörung könne hingegen zumindest teilweise ursächlich im Sinne einer Verschlimmerung einer bestehenden Prädisposition auf dem gegenüber der damaligen Lebensgefährtin begangene Körperverletzung zurückgeführt werden. Zwar liege das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne einer anhaltenden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (chronifizierte PTBS) nicht vor. Gleichzeitig lasse sich aus der Anamnese und den vorliegenden Befundberichten und insbesondere dem Behandlungsbericht der psychsomatischen Rehabilitationsklinik bei der Klägerin eine Entwicklung erkennen, welche sich bis heute fortsetze und also zumindest Teile dieser ängstlich-depressiven Entwicklung als Folge dieses Angriffs im der Kausalität plausibel nachvollziehen lasse. Gleichwohl müssten dabei auch die konkurrierenden Faktoren berücksichtigt werden. Neben der Gewalttat gegenüber ihrer Lebensgefährtin hätten bereits im Vorfeld verbale Drohungen und dann auch noch kurz vor der Tat gegenüber der Lebensgefährtin bestanden. Insbesondere sei es dann auch noch nachfolgend bei der Versorgung im Krankenhaus zu belastenden Faktoren gekommen, ebenso bei der Polizei und schließlich bei der Hauptverhandlung mit für die Klägerin unzufriedenem Ergebnis. Ebenfalls eine Rolle spielten die negativen versicherungsrechtlichen Aspekte hinsichtlich der Versorgung der Zahnfrakturen (die die Lebensgefährtin der Klägerin erlitten hatte). Ferne gelte es, die vorbestehende Neigung, wie sie 2000 zum Vorschein gekommen sei, mit zu berücksichtigen.

 

Die Leidensbezeichnung laute daher „Verschlimmerung einer vorbestehenden Neigung zur Verarbeitungsstörung mit leichter ängstlich-depressiver Symptomatik“ und sei mit einem GdS von 20 zu bemessen.

 

Mit Urteil vom 19.01.2023 hat das SG hierauf gestützt im schriftlichen Verfahren für Recht erkannt:

 

 

  1. Der Bescheid vom 30.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.05.2016 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die bei der Klägerin eingetretene „Verschlimmerung einer vorbestehenden Neigung zur Verarbeitungsstörung mit leichter ängstlich-depressiver Symptomatik“ ursächlich durch ein schädigendes Ereignis im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hervorgerufen worden ist, sowie der Klägerin wegen der eingetretenen Schädigung Heilbehandlung nach dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  2. Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu 2/3 zu erstatten.

 

Zur Begründung hat das SG ausgeführt:

 

 

„A. Die Kammer hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, weil die Beteiligten diesbezüglich ihr Einverständnis erteilt haben, vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

B. Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der angefochtene Bescheid vom 30.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2016 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin gemäß § 54 Abs. 2 SGG, soweit darin festgestellt wird, dass die Klägerin nicht Opfer eines Angriffs im Sinne von § 1 OEG geworden, keine dadurch begründeten Schädigungsfolgen erlitten hat sowie, dass ihr keine entsprechenden Ansprüche zustehen (hierzu I.). Die Ablehnung der Gewährung einer Rente war hingegen rechtmäßig (hierzu II.).

 

I. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes (…) infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes.

 

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt ein Anspruch nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auch von sog. „Sekundäropfern“ – Personen, denen der Angriff nicht gegolten hat (vgl. Loytved, NZS 2004, 516, beck-online) – in Betracht, wenn davon auszugehen ist, dass der ursprüngliche tätliche Angriff fortwirkt, die Ereignisse also durch die Gewaltanwendung geprägt sind. Sekundäropfer sind insbesondere solche Personen, die infolge des gegen einen nahen Angehörigen gerichteten tätlichen Angriffs einen Schockschaden erlitten haben. Nach der Rechtsprechung des BSG ist für eine entsprechende Annahme einer Ursächlichkeit vorauszusetzen, dass die psychischen Auswirkungen der Gewalttat auf sie bei wertender Betrachtung so eng mit der Tat verbunden sind, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für einen solchen engen Zusammenhang ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, ohne dass allerdings alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, selbst wenn es an einer besonderen personalen Nähe zum Primäropfer fehlt (vgl. BSG, Beschluss vom 27. August 2020 – B 9 V 5/20 B –, Rn. 9, juris, m.w.N.).

 

Gemessen an diesen Grundsätzen ist von einer grundsätzlichen Eignung der von der Klägerin erlebten Tat, des gewaltsamen Übergriffs gegenüber ihrer damaligen Lebensgefährtin und heutigen Ehefrau, der Zeugin V., einen Tatbestand des Sekundäropferschutzes zu begründen, zur Überzeugung der Kammer auszugehen. Zunächst hat die Kammer keine wesentlichen Zweifel daran, dass sich der Angriff zumindest in der im Tatbestand geschilderten Form ereignet hat. Ob der Täter bei dem Angriff auf die Zeugin V. auch Gebrauch von einem Schlagring gemacht hat, kann nach Ansicht der Kammer dahinstehen. Insofern ist für die Kammer von maßgeblicher Bedeutung, dass die Klägerin bezüglich der heranzuziehenden Tat sowohl in örtlicher und zeitlicher Nähe, angesichts ihrer Beziehung zur unmittelbar geschädigten Zeugin V. zudem aber auch in personaler Nähe gestanden hat. Die durch den Beklagten vertretene Auffassung, dass dem von der Kammer wie auch am Ende des Strafprozesses zugrunde gelegten Angriff keine ausreichende Erheblichkeit zukäme, um einen Tatbestand im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Variante 2 OEG darzustellen, überzeugt hingegen bereits aus systematischen Gründen nicht. Weder im Gesetz noch seitens des BSG wird der zugrunde zu legende Angriff bei der Anerkennung eines Sekundäropfertatbestands durch eine „Erheblichkeitsvorgabe“ konkretisiert. Es ist nicht vorauszusetzen, dass eine schwere Körperverletzung im Sinne von § 226 Strafgesetzbuch (StGB) vorgelegen hat, damit ein Sekundäropferschaden bzw. ein Schockschaden angenommen werden kann. Vielmehr ist für die Frage, ob ein Tatbestand im Sinne von § 1 OEG vorliegt, auf die durch das BSG vorausgesetzten bei Sekundäropfern ergänzend heranzuziehenden Maßstäbe (s.o.) sowie im Übrigen auf die allgemeinen Grundsätze abzustellen.

 

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt nach § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit (BSG, Beschluss vom 12. Mai 2016 – B 9 V 11/16 B –, Rn. 9, juris). Das BSG stellt für das Tatbestandsmerkmal "tätlicher Angriff" i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG darauf ab, ob grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines Anderen zielende gewaltsame Einwirkung vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 24. September 2020 – B 9 V 3/18 R –, BSGE 131, 61-73, SozR 4-3800 § 1 Nr. 24, Rn. 19). Der Angriff des Kellners auf die Zeugin V. hat eine solche Einwirkung dargestellt.

 

Die Kammer ist darüber hinaus davon überzeugt, dass auch eine Schädigung und fortbestehende Schädigungsfolgen bei der Klägerin nachgewiesen sind, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus dem von der Kammer von Amts wegen eingeholten Gutachten von T.. Dieser hat bei der Klägerin eine bestehende ängstlich-depressive Verarbeitungsstörung diagnostiziert und diese teilweise, im Sinne einer Verschlimmerung einer vorbestehenden Neigung zur Verarbeitungsstörung mit leichter ängstlich-depressiver Symptomatik, auf das Erleben des Angriffs auf die Zeugin V. zurückgeführt. Die Verschlimmerung der ängstlich-depressiven Verarbeitungsstörung ist sowohl als Schädigung, als auch als fortbestehende Schädigungsfolge anzusehen (vgl. zur Identität zwischen Schädigung und Schädigungsfolge BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999 – B 9 VS 2/98 R –, SozR 3-3200 § 81 Nr. 16, SozR 3-3100 § 1 Nr. 21, Rn. 20; Sabine Knickrehm, in          dieselbe, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht,1. Auflage 2012, BVG § 1 Rn. 17). Insofern maßgeblich ist, dass nach der im sozialen Entschädigungsrecht zu beachtenden Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 12. Juni 2001 – B 9 V 5/00 R –, BSGE 88, 153-165, SozR 3-3100 § 5 Nr. 9, SozR 3-3100 § 1 Nr. 24, SozR 3-1500 § 71 Nr. 3, Rn. 32) der Angriff des Kellners auf die Zeugin V. sich auf die bei der Klägerin bestehende ängstlich-depressive Verarbeitungsstörung wesentlich ausgewirkt hat.

 

Die Kammer stützt ihre diesbezügliche Überzeugung auf die Ausführungen des Sachverständigen T. zur Kausalität zwischen dem Angriff auf die Zeugin V. und der Verschlimmerung der bei der Klägerin bestehenden ängstlich-depressiven Verarbeitungsstörung sowie des sich hierauf fortwirkenden verschlimmernden Einflusses. T. verfügt als erfahrener Gutachter über die Kenntnisse und Fähigkeiten, den Gesundheitszustand einer Klägerin und den Zusammenhang der festgestellten Leiden mit dem geltend gemachten Schädigungsereignis zu beurteilen. Anhaltspunkte dafür, dass Gesundheitsstörungen übersehen oder fehlerhaft bewertet worden wären, lässt das Gutachten nicht erkennen. Es ist aufgrund eingehender Untersuchung und unter Berücksichtigung der übrigen vorliegenden medizinischen Unterlagen erstattet worden. T. hat plausibel dargelegt, dass der Angriff auf die Zeugin V., obwohl er nicht als Eingangstraum im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung qualifizierbar ist, geeignet gewesen ist, bei der Klägerin starke Affekte und Ängste auszulösen und gemeinsam mit weiteren Faktoren und Erlebnissen einen wesentlichen Einfluss auf die bei der Klägerin bestehende ängstlich-depressive Verarbeitungsstörung zu haben. Eine Verschlimmerung der bei der Klägerin bestehenden ängstlich-depressiven Störung durch den Angriff ist damit hinreichend wahrscheinlich. Dieser Einschätzung T.s wird im Übrigen auch durch den medizinischen Dienst des Beklagten zugestimmt. Insofern vermag es auch nicht zu überzeugen, dass der Beklagte auf einer Nichteignung des Angriffs im Hinblick auf die Verursachung einer chronischen psychischen Beeinträchtigung verweist. Insofern verkennt er nach Ansicht der Kammer, dass bei der Klägerin als Augenzeugin des Angriffs auf ihre damalige Lebensgefährtin sämtliche Kriterien des BSG (zeitliche, örtliche und personale Nähe, s.o.) gleichzeitig erfüllt gewesen sind und insofern eine besondere Unmittelbarkeit zum Angriff, zumindest dem eigenen Erleben eines entsprechenden Angriffs ähnlich, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestanden hat. 

 

Im Hinblick auf die chronifizierte Verschlimmerung der ängstlich-depressiven Störung hat die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Heilbehandlung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. §§ 10, 18 BVG.

 

II. Ein Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Gewährung einer Rente gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. §§ 30, 31 BVG besteht hingegen nicht.

 

Gemäß § 31 Abs. 1 BVG verfügen Beschädigte ab einem GdS von 30 über einen Rentenanspruch. Die Maßstäbe zur Bestimmung des GdS sind in § 30 BVG geregelt. Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 bis 2 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen, nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen, wobei ein bis zu 5 Grad geringerer GdS vom höheren Zehnergrad mit umfasst wird. Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG sind vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei der Bemessung des GdS ist auf die Vorschriften der eine Rechtsverordnung im Sinne von § 30 Abs. 16 BVG darstellenden Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und damit insbesondere auch auf die Anlage zu § 2 der VersMedV, die sog. Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), abzustellen, die Vorschriften zur Begutachtung im sozialen Entschädigungsrecht enthalten (Teil C).

 

Die Bemessung des GdS entspricht insofern abgesehen davon, dass allein eine Berücksichtigung von kausal auf der erlittenen Schädigung beruhenden Folgen zu erfolgen hat, nach den Maßstäben für die Bemessung des Grades der Behinderung (GdB) (vgl. Dirk H. Dau, in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, BVG § 30 Rn. 7, 13). Diese ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (1. Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdS (2. Schritt) und des Gesamt-GdS (3. Schritt) kommt es indessen maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem 2. und 3. Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. zur GdB-Bemessung BSG, Beschluss vom 15. Mai 2017 – B 9 SB 8/17 B –, Rn. 7, juris).

 

Gemessen an diesen Grundsätzen liegt zur Überzeugung der Kammer ein GdS in rentenberechtigender Höhe bei der Klägerin nicht vor.

 

Die Kammer hat keine Bedenken, den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen auch im Hinblick auf den von diesem vorgeschlagenen GdS zu folgen. T. hat plausibel dargelegt, dass bei der Klägerin insbesondere keine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, da der Angriff auf die Zeugin V. kein geeignetes Eingangstrauma dargestellt hat. Daneben hat er schlüssig darauf hingewiesen, dass für den psychischen Gesundheitszustand der Klägerin mit einer nach der Tat zunächst suboptimalen Versorgung und den Drohungen bereits vor dem Angriff erfolgten und in der Zeit nach dem Angriff erneuten Drohungen durch den Täter auch weitere Belastungsfaktoren zu berücksichtigen sind, die dem Angriff nicht unmittelbar zuzurechnen sind und insofern bei der Bemessung des GdS außer Acht bleiben müssen. Dafür, dass es durch die Übergriffe des Kellners auf die Klägerin in Form des Reißens an ihren Handgelenken zu bleibenden bzw. überdauernden psychischen oder somatischen Beeinträchtigungen bei dieser gekommen ist, liegen keine Anhaltspunkte vor. Der GdS der Klägerin ist angesichts dessen mit knapp 20 % zu bemessen.

 

Auch eine Erhöhung des GdS gemäß § 30 Abs. 2 BVG kommt nicht in Betracht. Die durch den Angriff gegen die Zeugin V. bei der Klägerin eingetretene Schädigung hat über die allgemeinen Auswirkungen auch auf das allgemeine Berufsleben hinaus keine erheblichen Nachteile in der konkreten Berufstätigkeit der Klägerin verursacht (vgl. insofern Gelhausen, in ders./Weiner, SGB XIV/OEG/VersMedV, 7. Auflage 2021, BVG Rn. 140). Zwar hat die Klägerin nach ihren Angaben gegenüber T. zwischenzeitlich ihre Tätigkeit einstellen müssen, diese jedoch später – nunmehr im vorbeugenden Brandschutz – vollschichtig wiederaufnehmen können.

 

Die Klage war daher bezüglich des Rentenbegehrens abzuweisen.

 

C. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 Abs. 1 SGG.“

 

Gegen dieses Urteil richtet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin, die ihr Vorbringen erster Instanz aufrechterhält und vom erkennenden Gericht persönlich angehört Folgendes erklärt hat:

 

„Ich bin nach wie vor in Vollzeit mittlerweile im vorbeugenden Brandschutz tätig.“

Auf Nachfrage des Berichterstatters zu Vorerkrankungen und Vorbehandlungen:

„Ich war neun Wochen in O. Q. stationär in Behandlung. Seitdem bin ich in der Praxis G. bei Frau K. in Behandlung. Ca. zweimal im Monat werden dort Gespräche durchgeführt. Außerdem erhalte ich Johanneskraut und Tabletten und zwar Regapolin 50 mg dreimal täglich verordnet.“

Auf Frage des Berichterstatters zum hier streitgegenständlichen Vorfall und dessen Erleben:

„Mit meiner heutigen Frau, mit der ich damals schon vier Jahre zusammen war, allerdings nicht in einer Partnerschaft und auch nicht verlobt, haben wir in dem Hauseingang gestanden. Das ging alles sehr schnell. Ich habe nur den Schlag und den Gegenstand, der sich später als Schlagring herausgestellt hat, aufblitzen gesehen. Dann hab´ ich schon gesehen, dass meiner Freundin die Nase und die Zähne schief standen. Ich war gar nicht in der Lage selbst den RTW zu rufen. Wir sind dann zusammen in die Klinik gefahren, und zwar in eine Spezialklinik für Nasen und Zähne. Von den Notfallsanitätern bin ich selbst nicht behandelt worden. Auch nicht von der Klinik. Ich selbst war Tage später wegen Prellungen im Krankenhaus. Das müsste alles aktenkundig sein.“

Auf weitere Nachfrage des Berichterstatters zu Vorerkrankungen erklärt die Klägerin:

„Ich bin analinkontinent zweiten Grades. Im Jahr 2003 hatte ich eine Schwellung am Po-Ausgang, die sich dann als Analvenenthrombose entpuppt hat. Ich wurde notoperiert. Später kam es zu Analfissuren mit Flüssigkeitsverlust am Po-Eingang, was auch in den Feuerwehreinsätzen sehr beschwerlich war und ich wurde mehrmals noch operiert. Außerdem habe ich Bandscheibenvorfälle L4, L5 und L1 und einen streifen Ringfinger. Psychisch oder psychiatrisch war ich vor dem Ereignis nie in Behandlung.“

Auf weitere Nachfrage nach Vorerkrankungen in der Familie erklärt die Klägerin:

„Mein Vater hatte vor Jahren einen Zusammenbruch und nur deswegen habe ich dann auch bei der Psychologin einen Termin bekommen. Meine Frau, hat keinen Termin bekommen, weil kein Familienmitglied vorerkrankt ist.“

Zum beruflichen Werdegang der Klägerin erklärt diese auf Befragen des Berichterstatters:

„Ich habe einen Gesellenbrief als Verkäuferin. In dem Beruf habe ich bis 1995 gearbeitet. Dann habe ich bei den E. zunächst als Küchenhilfe gearbeitet, sechs Jahre lang. Von dort bin ich zum Werkschutz bei E. gekommen. Dort habe ich eine Ausbildung gemacht, 18 Monate lang, die sog. B1-Ausbildung, die den Berufsabschluss des Rettungssanitäters beinhaltet, u.a. auch mit vier Wochen Ausbildung im OP auf der Intensivstation. Seitdem bin ich bei E. in der Werksfeuerwehr tätig, wie erwähnt mittlerweile im vorbeugenden Brandschutz und Innendienst. Mittlerweile muss ich aufgrund meines Alters, auch wenn ich nicht mehr im Außendienst tätig bin, regelmäßig zum Feuerwehrarzt. Ich entbinde Frau X. von ihrer ärztlichen Schweigepflicht.“

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 19.01.2023 zu ändern und nach den Sachanträgen der Klägerin erster Instanz zu entscheiden.

 

Die Beklagte beantragt,     

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Im Berufungsverfahren ist T. ergänzend gehört worden und dabei bei seiner ursprünglichen Einschätzung geblieben.

 

Parallel sind die bisherigen Ermittlungen des erkennenden Senats zu den QualitätsanE.erungen an medizinische Gutachten nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) in das Verfahren eingeführt worden, die in der gemäß § 106 Absatz 2 Nr 4 SGG erfolgten Beauftragung einer interdisziplinären Gruppe von rund 25 Sachverständigen in mehreren Musterverfahren bestand.

 

Rechtlicher Hintergrund dieser Ermittlungen ist, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach den rechtlichen Vorgaben der §§ 103, 106 SGG zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet sind und dabei nach der Rechtsprechung des BSG und des BVerfG auch generelle Fragen bzw. Erfahrungssätze nach dem aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft ermitteln, bewerten und feststellen müssen, soweit diese entscheidungserheblich sind (vgl. zuletzt BSG Urteil vom 28.6.2022 – B  2 U 9/20 R- sowie Bundesverfassungsgericht  - BVerfG - Entscheidungen vom 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 - BvR 595/14 -). Von solchen Ermittlungen dürfen die Sozialgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG auch aus Kostengründen nicht absehen (vgl. BVerfG amtliche Entscheidungssammlung – Band 50, 32).

 

Tatsächlicher Hintergrund dieser Ermittlungen ist der Umstand, dass in jüngerer Zeit zunehmend offenbar wird, wie stark die Gesundheitsdaten, die die deutschen Sozialgerichte regelmäßig von den behandelnden Ärzten, Kliniken und Therapeuten gemäß § 106 SGG in Verbindung mit § 377 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) im Rahmen sogenannter Befundberichte erhalten, mittlerweile gezielt manipuliert („hochcodiert“) werden. Dies geschieht zum Teil, weil die Leistungserbringer durch lukrativere Diagnosecodes nach dem geltenden deutschen Recht höhere oder längerfristigere Erlöse erzielen (vgl. dazu zB BSG Urteil vom 18.12.2018 – B 1 KR 40/17 – R).

 

Zum Teil geschehen diese Manipulationen von Gesundheitsdaten auch, weil Antragsteller durch simulierte Erkrankungen in den Genuss von ihnen nicht zustehenden Sozialleistungen gelangen wollen. Dies kann bis zum strategischen Aufbau von ganzen Krankheitslegenden und Vorlage von kriminell gefertigten falschen medizinischen Gutachten reichen, insbesondere durch Vorspiegeln empirisch schwer fassbarer Erkrankungen wie Depressionen oder Schmerzen. Es gibt mittlerweile sogar ärztliche und juristische Berater, die auf ein entsprechendes „Coaching“ für das Vortäuschen von Erkrankungen mit dem Ziel von Rentenbetrug spezialisiert sind und die damit extrem hohe Schäden in der Sozialversicherung verursachen (vgl.zB: www.fruehrente.net; exemplarisch zu einem solchen Fall aus NRW: Frigelj, Die Welt, 20.4.2017: Millionenschwerer Sozialbetrug - Der Kaputtschreiber aus dem Ruhrgebiet). Der durch manipulierten Diagnosen bei den Sozialleistungsträgern des deutschen Gesundheitswesens entstehende Schaden beläuft sich auf viele Milliarden Euro jährlich (vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages 16/3930 Seite 191, 17/14575 Seite 1).

 

Allerdings ist in der jüngeren Zeit auch zu beobachten, dass selbst die deutschen gesetzlichen Krankenkassen (die als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst sind) den dysfunktionalen Anreizen im deutschen Gesundheitssystem erliegen und Druck auf behandelnde Ärzte ausüben, die Erkrankungen von Versicherten zu Unrecht hochzucodieren. Dies geschieht nach den jüngsten Feststellungen des deutschen Bundesamtes für soziale Sicherung, weil die deutschen gesetzlichen Krankenkassen so in den Genuss von ihnen nicht zustehenden Ausgleichszahlungen nach dem sogenannten Morbiditäts-Risiko-Strukturausgleich gelangen können. Auch das Schadensvolumen aus diesen – sogar von staatlichen Dienststellen - zu Unrecht manipulierten Daten beläuft sich auf mehrere Milliarden Euro jährlich  (vgl. dazu: Deutsches Ärzteblatt vom 6.12.2022). Auch gehen die Sozialversicherungsträger seit der Corona-Pandemie verstärkt dazu über auch wesentliche Leistungs-Entscheidungen auf der Grundlage von Telefon-Befragungen ohne körperliche Befunderhebungen so zB in der Pflegeversicherung oder bei Krankschreibungen. Auch das ist ein Einfallstor für erhebliche Manipulationen.

 

Wirksame Instrumente zur Kontrolle und zur Aufdeckung dieser Manipulationen im deutschen Gesundheitssystem fehlen bislang, was wohl damit zusammenhängen dürfte, dass praktisch alle Akteure des Systems mit Ausnahme der Beitragszahler davon profitieren (vgl. dazu: Schirmer/Sielaff: Zusammenarbeit der Kranken- und Pflegekassen in der Fehlverhaltensbekämpfung, in G + S 2023, 29 ff; Benstetter,/Schirmer: Betrug und Missbrauch in der Krankenversicherung, in Grinblat/Etterer/Plugmann – Hrsg – Innovationen im Gesundheitswesen, 2022, 33 ff, 49 ff.).

 

Die deutschen Sozialgerichte sehen sich  damit als einzige neutrale Instanz im Sozialsystem und als Hüter des sozialen Rechtsstaates bei ihren medizinischen Ermittlungen, wie sie nun (auch) im Ausgangsverfahren erforderlich sind, mittlerweile einem Zustand gegenüber, in dem die früher zuverlässigen Daten aus der Behandlung von Patienten im deutschen Gesundheitswesen heute in weitem Umfang durch fehlgeleitete Interessen kontaminiert und damit unrichtig, verfälscht, unbelastbar oder sogar gänzlich unbrauchbar sind.

 

Ziel der Ermittlungen des erkennenden Gerichts in den oben genannten Musterverfahren und Inhalt der daraus auch hier in das Verfahren der Klägerin eingeführten Gutachten daher einerseits genau herauszufinden, in welchem Maß es überhaupt noch belastbare Gesundheitsdaten aus Quellen des deutschen Gesundheitssystems gibt bzw. wie sich diese für sozialgerichtliche Verfahren ermitteln und nutzbar machen lassen (hier geht es insbesondere um die sog. Primärdokumentation der Leistungserbringer, die üblicherweise noch unabhängig von späteren Codierungen erfolgt und daher vergleichsweise zuverlässig ist (vgl. dazu zum Beispiel jüngst Tintner und Böwering-Möllenkamp, Tagungsbericht: Workshop des Deutschen Sozialgerichtstages vom 20.4.2023 „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdevalidierung“, Unterlagen abrufbar auf der Internetseite des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. unter Tagungsbericht: Workshop „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdevalidierung“ – Deutscher Sozialgerichtstag)..

 

Andererseits haben die gerichtlichen Ermittlungen in den o.g. Musterverfahren das Ziel, bessere Maßstäbe für möglichst fälschungssichere gerichtliche Gutachten zu gewinnen und damit auch einen Qualitätsstandard zu setzen, der Manipulationen künftig einen Riegel vorschiebt.

 

Die Zusammenfassung der insoweit bislang ermittelten Ergebnisse erfolgte in dem Gutachten des Sachverständigen C.. (der auch als korrespondierender Autor der in Deutschland für die allgemeine medizinische Begutachtung geltenden ärztlichen Leitlinien wirkt (vgl. Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung, AWMF Registriernummer 094/001 Entwicklungsstufe 52 k Stand 1/2019). C. hat im Wesentlichen Folgendes dargelegt:

 

„Anders als in Frankreich, wo Sachverständige in einem gesonderten Verfah­ren und nach Absolvierung einer spezifischen Ausbildung tätig werden, oder in Ös­terreich, wo die gerichtlichen Sachverständigen einer Zertifizierungspflicht durch die Ärztekammern unterliegen, sind die fachlichen Voraussetzungen für die „Gehilfen“ bzw. „sachkundiger Berater“ in Deutschland nur fragmentarisch normiert. Eine ge­nerelle Legaldefinition des „ärztlichen/medizinischen Sachverständigen“[1] fehlt ebenso wie - von Ausnahmefällen abgesehen - normative Vorgaben für deren Auswahl. Die einschlägigen Regelungen in Strafprozessordnung (StPO) und der ZPO, wobei letztere bekannt­lich auch durch Verweisungsvorschriften im Sozialgerichts- und Verwaltungspro­zess gelten, stellen die Auswahl explizit oder implizit im Wesentlichen in das Ermessen des Gerichts. Nichts Anderes gilt für die vorgelagerte Auswahlentscheidung etwa im Sozialverwaltungsverfahren.

Die gesetzlichen Regelungen knüpfen hinsichtlich der Übernahmepflicht an die ärztliche Approbation an (§ 407 Abs. 1 ZPO), in der forensischen Praxis wird darüber hinaus regelhaft die Facharztqualifikation vorausgesetzt. Lediglich in einzelnen Rechtsgebieten finden sich zusätzliche Anforderungen im Gesetz verankert, wie etwa im Betreuungsrecht (§ 280 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder bei der fachkundigen Überprüfung der gesundheitlichen Eignung im Zusammenhang mit der Fahrerlaubnisverordnung (§11 Fahrerlaubnisverordnung).

Umso wichtiger erscheint es, bei der konkreten Auswahlentscheidung (auch) inhalt­liche Qualitätsanforderungen einfließen zu lassen. In der Gerichtspraxis finden nach Kenntnis des Verfassers gerichtsinterne Listen Anwendung oder es wird bei den Landesärztekammern nachgefragt. Beides kann fehlerbehaftet sein. Interne Listen orientieren sich zwangsläufig an mehr oder minder subjektiven Erfahrungen mit einzelnen Gutachtern, was der tatsächlichen Qualität entsprechen kann, aber nicht muss. Insbesondere wenn sich die positiven Erfahrungen vor allem an der Schnelligkeit der Gutachtenerstattung orientieren, was prozessökonomisch Sinn macht, jedoch nicht zwangsläufig die inhaltliche Güte zu belegen vermag, ist eine dadurch geprägte Auswahl kritisch zu hinterfragen. Die Verständlichkeit der argumentativen Herleitung des Ergebnisses ist fraglos ein sinnvolleres Kriterium, allerdings kann auch ein inhaltlich unsinniges Ergebnis dem medizinischen Laien vermeintlich „verständlich“ erscheinen. Die gesetzlich angelegten Kontrollmechanismen durch das Gericht selbst oder die Verfahrensbeteiligten/Parteien sind in ihrer Effektivität - soweit dem Verfasser zugänglich - empirisch nicht ausreichend belegt. Die allein existierenden Analysen von Stichproben etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung[2] zeigen einen Schwerpunkt der Divergenzen im neurologisch-psychiatrischen Bereich, listen allerdings nur in allgemeinen Kategorien die Gründe für die Abweichung auf (z.B. Verschlechterung, weitere Erkrankungen, divergente Wertung etc.), beschreiben aber nicht den Argumentationsweg der Gerichte in der Entscheidung zwi­schen den gutachtlichen Positionen. Immerhin wird aber auch hier, die Bedeutung der spezifisch gutachtlichen Qualifikation/Ausbildung als Garant für die inhaltliche Güte hervorgehoben.

Die Ärztekammern als Ansprechpartner für die Gutachterauswahl haben über die Weiterbildungs- und eventuell Fortbildungsqualifikation ihrer Mitglieder hinaus keine Kenntnisse zu einer besonderen gutachtlichen Expertise, z.B. zu einzelnen Krank­heitsentitäten oder Rechtsgebieten. Erschwerend kommt hinzu, dass das Erstellen von Gutachten früher explizit zum Weiterbildungsinhalt verschiedener Fachgebiete gehörte, seit geraumer Zeit aber aus den Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern in den klinischen Bereichen herausgenommen wurde. Dies soll und wird sich (hoffentlich) zukünftig wieder ändern, da das Sachverständigenwesen als Ausbildungsgegenstand sowohl wieder in die Weiterbildung wie auch - in Grundzügen - bereits ins Medizinstudium implementiert werden soll. Diese Perspektiven in Aus- und Weiterbildung garantieren aber gegenwärtig und wohl auch auf absehbare Zeit nicht die erforderlichen methodischen Kenntnisse in der Begutachtung. Vielmehr gilt weiterhin der Erfahrungssatz, dass ein erfahrener und medizinisch qualifizierter (Fach-)Arzt aus klinischen Fächern nicht zwangsläufig auch ein guter Gutachter ist.

Einige Ärztekammern, so etwa im Land Berlin, versuchen diesen Informati­onsdefiziten zu begegnen führen Listen von Fachärzten, die die dortige Ausbildung entsprechend der strukturierten curricularen Fortbildung „medizinische Begutachtung“ der Bundesärztekammer absolviert haben, an deren Entwicklung der Verfasser ebenfalls federführend mitwirken durfte. In diesen Kursen werden methodische Grundkenntnisse in der Begutachtung vermittelt und auch - soweit gutachtlich relevant - die rechtlichen Rahmenbedingungen einzelner Rechtsgebiete erläutert. Ähnliches gilt für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die neben ihrer Facharztbezeichnung die Zusatz-Weiterbildung „Sozialmedizin“ absolviert haben. Der bisher dort anzutref­fende Schwerpunkt im Bereich der Zustandsbegutachtung qualifiziert insbesondere für die Rentenversicherung oder das Schwerbehindertenrecht, während Kausalitäts- Fragestellungen in den Hintergrund traten. Mit dem Bemühen, die sozialmedizini­sche Ausbildung an das strukturierte Curriculum der Bundesärztekammer anzunä­hern und auch die Grundzüge der Kausalitätsbegutachtung einzubeziehen, wird hier zumindest mittelfristig eine Änderung zu erwarten sein. Allerdings bleibt dann das Problem bestehen, dass diese Zusatz-Weiterbildung außerhalb der inneren Medizin und der Traumatologie wenig Verbreitung besitzt, z.B. in den nervenärztlichen Fächern.

Es wäre daher wünschenswert, sich bereits vor der Bestellung eines Sachverstän­digen über dessen gutachterliche Kompetenz zu vergewissern. Einige Fachgesell­schaften, wie z.B. die Deutsche Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB), bieten für die dort kooperierenden Fachgebiete (Neurologie, Psychiatrie, Neurochirurgie) gesellschaftsbezogene „Zertifikate“ an, die sowohl in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht besondere Erfahrungen in einem Supervisi­onsprozess prüfen, ln anderen Bereichen, so etwa bei der Fachgesellschaft für in­terdisziplinäre medizinische Begutachtung (FGIMB) oder die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) sind solche Zertifizierungsprogramme in der Vorbereitung. Ferner existieren mittlerweile auch universitär angesiedelte Aus­bildungsprogramme, so zum Beispiel das an der „Dresden International University (DIU)“ angesiedelte Ausbildungsprogramm „Qualifizierung zum medizinischen Sachverständigen (CPU)“, welches allerdings schon auf Grund des erheblichen Zeit- und Kostenaufwands eher von Ärztinnen und Ärzten besucht wird, die aus­schließlich oder doch schwerpunktmäßig gutachterlich tätig werden wollen. All diese Qualifizierungsinstrumente können im Vorfeld der Beauftragung von den Gerichten erfragt werden.

Um einem möglichen Einwand vorzubeugen: Eine solche Ausbildung oder ein „Zertifikat“ ist kein Garant für ein fachadäquates Gutachten. Erst recht sind damit krimi­nelle Aktivitäten, wie sie in - allerdings wirtschaftlich bedeutsamen - Einzelfällen in den vergangenen Jahren bekannt wurden, auszuschließen. Beides ist jedoch aus Sicht des Verfassers kein Grund, bei der Auswahl der Sachverständigen im Rechtsstreit auf ein solches Kriterium zu verzichten, wird doch zumindest das Be­mühen belegt, sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen sowie den inhaltlichen Anforderungen in den einzelnen Rechtsgebieten ausbildungsmäßig zu befassen.

In nahezu allen Stellungnahmen der Fachgutachter wird die Bedeutung der Vollständigkeit der Anknüpfungstatsachen hervorgehoben. Die gerichtliche Praxis trägt dem aus ihrer Sicht nur sehr partiell Rechnung.

Die Verwaltungsakten beschränken sich zumeist auf etwaige Abschlussberichte von stationären Behandlungen in Akutkrankenhäusern oder Reha-Kliniken, hinzukommen eventuell noch vorgelegt ärztliche „Atteste“ von Behandlern. Soweit der Verfasser die Praxis nach Klageerhebung im Sozialgerichtsprozess überblickt, werden routinemäßig die Behandler von der Klägerseite listenmäßig erfasst und jeweils Be­fundberichte eingeholt, um dann das Gutachten mit einer entsprechenden Beweisanordnung in Auftrag zu geben, wobei auch hier in der Regel Formblätter mit diver­sen gesetzlichen oder von der Rechtsprechung definierten Definitionen Verwen­dung finden.

Eine Beiziehung der kompletten Behandlungsdokumentation ist die Ausnahme. Gleiches gilt für behandlungsunabhängige medizinische Informationen, soweit sie nicht bereits aktenkundig geworden sind, wie etwa ein Vorerkrankungsverzeichnis etc. Die vom Sachverständigen als Kernaufgabe geforderte Konsistenzprüfung ei­nes Beschwerdebildes wird dadurch zwangsläufig erschwert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zusammenstellung sämtlicher medizinischer Unterlagen unter Ergänzung nicht-medizinischer Unterlagen etwa zur Berufslaufbahn etc. zeitintensiv und auf Grund der Inanspruchnahme entsprechender personeller Ressourcen auch kostenaufwendig ist. Andererseits ist nur so dem Sachverständigen wie auch den übrigen Prozessbeteiligten eine Kontrolle möglich, ob die im Gutachten beweisrechtlich und leitlinienmäßig geforderte Konsistenzprüfung sich auf die aktu­elle Gutachtensituation mit einer mehr oder minder vollständigen Aktengrundlage beschränkt oder weitere, bislang nicht verarbeitete Informationen in einem zeitlichen Längsschnitt zur Verfügung stehen. In Bereichen, in denen der psychischen Komponente eine besondere (z.B. Schmerzbegutachtung) oder sogar die ausschlaggebende Bedeutung zukommt (z.B. Depression, PTBS), sind, so unisono die Fachgutachter aus den betroffenen Fächer,n solche Informationen auf Grund der methodenimmanent eingeschränkten Objektivierbarkeit von Beschwerden essentiell. Interessanterweise wird aber auch in den somatischen Fächern sowohl von den Sachverständigen wie auch in der Umfrage die Vollständigkeit der medizinischen wie außermedizinischen Anknüpfungstatsachen angemahnt.

Zwar bleibt es dem Sachverständigen unbenommen, auch nach Erhalt des Auftrags etwaige Unterlagen nachzufordern, was aber ebenfalls Interaktionsprobleme auf­werfen kann, insbesondere wenn das Gutachten aus vermeintlich prozessökonomi­schen Gründen schnell erstellt werden soll oder der Sachverständige aus anderen Gründen eine mehrwöchige Verzögerung zu vermeiden möchte. In Fällen, in denen nicht nur der Proband, sondern womöglich auch die Begutachtenden sich von sachfremden Erwägungen in der Informationsverarbeitung leiten lässt, wirken sich derartige Defizite bei den Anknüpfungstatsachen erst recht negativ aus, entfallen damit doch auch wichtige Kontrollinstrumente für die übrigen Prozessbeteiligten.

 

ln Rechtsgebieten, in denen (auch) Kausalitätsfragen gutachtlich zu prüfen sind, kommt als weiteres Problem die Aufklärung des situativen Kontextes hinzu. Bei vermeintlich traumatischen Ereignissen ist die Frage der Eignung der Einwirkung ein zentraler Aspekt im Argumentationsgefüge. Eine per se ungeeignete Einwirkung für den beklagten (Primär) Schaden beendet in der Regel die gutachtliche Prüfung. Informationen zum primären Ereignis sind im medizinischen Bereich fehleranfällig, da etwa Beschreibungen zum Unfallhergang in Arztbriefen unter therapeutischem Blickwinkel verfasst werden und nicht der nachträglichen gutachterlichen Objektivie­rung dienen. In anderen Bereichen (z.B. im sozialen Entschädigungsrecht) kann man auf Zeugenaussagen angewiesen sein. In solchen Fällen kann vorgeschaltete Zeugenvernehmung durch das Gericht die Qualität der gutachterlichen Beurteilung erhöhen, wenngleich unter verfahrensökonomischen Aspekten ein solcher Ablauf zwangsläufig mit Verzögerungen einhergehen muss. Andererseits wird nur so das Gericht in die Lage versetzt, seinen Aufgaben nach § 404 a Abs. 2, 3 u. 4 ZPO zu genügen und die Sachverständigen - fallbezogen - in ihre Aufgaben einzuweisen, gegebenenfalls Tatsachen vorzugeben und - falls bereits ex ante erkennbar - die Befugnisse in der Beweiserhebung klarzustellen (z.B. Anwesenheitsrecht Dritter bei der Untersuchung, Erheben von Fremdanamnesen).

Als weitere Folge dieser Vorarbeiten ist dann eine gezielte, auf die Gegebenheiten des Einzelfalls abgestellte Beweisanordnung möglich, statt sich nur auf die allge­meinen Vorgaben der üblichen Formblätter zu beschränken.

Nach Erstattung des Gutachtens eröffnen sich unterschiedliche Möglichkeiten der Kontrolle.

 

So ist darauf zu achten, dass die Anknüpfungstatsachen im Akteninhalt vollständig aufgeführt sind und - symmetrisch - in der Beurteilung verarbeitet werden. Hier wirkt es sicherlich kontraproduktiv, wenn dem Sachverständigen - letztlich aus Kostengründen - explizit aufgegeben wird, auf die Wiedergabe des Akteninhalts zu verzichten, da deren Kenntnis bei allen Verfahrensbeteiligten unterstellt werden könne. Der erfahrene Sachverständige wird dies zum Anlass nehmen, den benötigten Akteninhalt in die Beurteilungsabschnitte einzuarbeiten, der weniger erfahrene Sachverständige wird sich möglicherweise veranlasst sehen, es bei einer oberflächlichen Lektüre der Akte zu belassen. Da das Gericht auf Grund fehlenden medizinischen Sachverstands nicht immer die Entscheidungsrelevanz bestimmter Anknüpfungstatsachen beurteilen kann, wird im erstgenannten Fall die Kontrolle erschwert, im letzteren Fall nahezu unmöglich gemacht. Das gilt auch und erst recht für den Fall, dass bestimmte Indizien bewusst ausgeklammert bleiben, um die gutachtliche Argumentationslinie stringenter zu gestalten. Einen weiteren möglichen Schwachpunkt bilde die für die Bearbeitung hinzugezogene Literatur als Ausfluss des - in der Terminologie des BSG - „aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstands“, einschließlich einzubeziehender Leitlinien.

Bei allgemeinen Fragen kann gänzlich auf Literatur verzichtet werden, soweit sich ein Gutachter aber in seiner Beurteilung explizit hierauf beruft, dient es ebenfalls der externen Qualitätskontrolle das korrekte Zitat zu fordern, gegebenenfalls unter Beifügung der entsprechenden Studien bzw. Literaturauszüge. Hiervon wird nach der Erfahrung des Verfassers bedauerlicherweise in der Praxis nur selten Gebrauch gemacht, stattdessen belässt man es bei Literaturverzeichnissen als Textbaustein am Ende des Gutachtens, zuweilen sogar mit veralteten Auflagen.

Einen besonderen Stellenwert besitzen in diesem Zusammenhang die Leitlinien der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, der Sozialversicherungsträger sowie Nationalen Versorgungsleitlinien.

 

Erstere sind Ausfluss des fachmedizinischen Kenntnisstandes zum Verabschie­dungszeitpunkt. Spezifisch begutachtungsbezogen Leitlinien erreichen methodenimmanent mangels randomisierter klinischer Studien (CRT) nicht den höchsten Evidenzlevel, bilden aber in einem formalisierten interdisziplinären Diskurs die Meinun­gen der beteiligten Fachgesellschaften ab. Sie sollen einerseits den medizinischen Lesern die rechtlichen Rahmenbedingungen der Begutachtung allgemein oder in Bezug auf einzelne Erkrankungen/Funktionsstörungen näherbringen, andererseits der Standardisierung im Ablauf dienen, um so die Vergleichbarkeit sicherzustellen. Sie sind im Internet bei der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften abrufbar und damit auch dem medizinischen Laien zugänglich.

Die sozialmedizinischen Leitlinien oder sonstigen Empfehlungen der Sozialversi­cherungsträger dienen ebenfalls der Standardisierung der Begutachtung - hier im Sozialverwaltungsverfahren - und zeichnen sich aus Sicht des Verfassers durch die spezifische Sachkunde der beteiligten Beratungsärzte aus. Der weitere Vorteil liegt in der stärkeren Berücksichtigung ökonomischer Aspekte, da aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht bei jeder Begutachtung alle Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns genutzt werden können (z.B. Leistungsdiagnostik mittels Funktional Capacity Evaluation, FCE = Evaluation der funktionalen Leistungsfähigkeit, EFL).

Die Nationalen Versorgungsleitlinien zu einzelnen Krankheitsbildern haben eher eine kurative Zielsetzung, enthalten aber auch Hinweise zu Epidemiologie und Diagnostik, die auch für die Begutachtung relevant sind. Ungeachtet der Frage, ob und welche dieser „Leitlinien“ die Voraussetzung des nicht minder unscharfen Begriffs „antezipierter Sachverständigengutachten“ erfüllen und auch ungeachtet der von einigen Sachverständigen kritisierten Lücken oder Widersprüchen, denen durch die zwingende periodische Überarbeitung zu begegnet werden soll, sind sie für den medizinischen Laien ein taugliches Kontrollinstrument, sind sie doch überwiegend im Internet abrufbar und bergen gegenüber der Lehrbuchliteratur weniger die Ge­fahr einer Perpetuierung von Irrtümern der jeweiligen Autoren als der vermeintlich „herrschenden Meinung“.

Schließlich, jedoch aus Sicht des Verfassers nicht zuletzt, ist die mündliche Interaktion von Verfahrensbeteiligten und Gerichten in der Inhaltskontrolle anzusprechen. Verständlicherweise herrscht hier bei den Sozialgerichten auf Grund ihrer besonderen organisatorischen Struktur wie auch bei den insbesondere klinisch tätigen Ärzten eine gewisse Zurückhaltung bis zur Ablehnung. Die gegenteilige Praxis der Zivilgerichte im Verkehrsunfall- und noch mehr in Arzthaftungssachen, in denen es nahezu regelhaft zur Anhörung der Sachverständigen zwecks Erläuterung ihrer schriftlichen Gutachten kommt, belegt allerdings, dass so Missverständnisse eher und rascher aufgeklärt werden können als durch bloße „Textexegese“ der Prozess­beteiligten.

Ein Gutachter hat es in der Bewertung biologischer Sachverhalte im Regelfall nicht mit einer homogenen, in sich schlüssigen Indizienstruktur zu tun. Vielmehr haben viele der gehörten Sachverständigen den „Mosaik-Charakter einer medizinischen Bewertung hervorgehoben, schon bei der Zustandsbegutachtung, aber erst recht in der Kausalitätsbewertung. Selbst dort, wo es objektive und semiobjektive Untersuchungsmethoden gibt, wie etwa in der Augen-, der HNO-Heilkunde oder der Urologie, ist Vorsicht geboten. So können Beschwerden und Funktionsstörungen tagesabhängig sein oder von äußeren, in der Begutachtungssituation nicht nachstellbaren Bedingungen abhängig sein. Nicht - zumindest nicht erkennbar - eingehaltene Standardbedingungen in der Untersuchungstechnik (z.B. Angabe der Raumtemperatur bei elektrophysiologischen Untersuchungen in der Neurologie) oder gar trivia­len Geräteunterschieden (z.B. in der optischen Kohärenztomografie, OCT, in der Augenheilkunde) sind weitere Quellen fehlender Reliabilität gutachterlicher Feststellungen. Im Gutachten sind derartige Limitierungen ebenso offenzulegen wie etwaige Messungenauigkeiten, ggf. sind diese vom Gericht zu erfragen.

 

Es bleibt als in an allen Fächern das Kernelement der Begutachtung, die für die Schlussfolgerungen relevanten Indizien (1.) möglichst vollständig zusammenzutragen und (2.) in ihrer Aussagekraft gegeneinander abzuwägen (z.B. Röntgen- versus intraoperativen Befund, Ergebnisse der Testpsychologie versus klinischer Beobachtung etc.). Ob dieses gegeneinander „Abwägen“ überzeugend auf sachlicher und vollständiger Grundlage geschieht, ist im schriftlichen Gutachten schon aufgrund terminologischer und methodischer Differenzen in Medizin und Rechtswissenschaft nicht immer und nicht ohne weiteres erkennbar (auch nicht bei den beliebten ergänzenden Stellungnahmen), ist aber im Zivilprozess erfahrungsgemäß den wesentlichen Gegenstand der Erörterungen mit den Sachverständigen.

Die Auseinandersetzung mit einander widersprechenden Gutachten geschieht, soweit anhand von Urteilsgründen erkennbar, häufig recht oberflächlich, wenn etwa pauschal auf die Schlüssigkeit des Gutachtens und/oder die Bekanntheit des Gutachters verweisen oder die mangelnde Überzeugungskraft aus vermeintlich unberücksichtigt gebliebenen Tatsachen abgeleitet wird, ohne dass geklärt ist, inwieweit dieser Umstand für das abweichende Ergebnis überhaupt ursächlich war. All dies sollte Anlass sein, über die Option der mündlichen Anhörung (nicht etwa des münd­lich erstatteten Gutachtens!) stärker als bisher nachzudenken und Kriterien für eine Balance zwischen Aufwand und Nutzen zu entwickeln. Nicht nur am Rande bemerkt; Das Risiko, die eigenen Wertungen mit den Beteiligten und womöglich noch mit Fachkollegen anderer Meinung erörtern zu müssen, kann sogar die Qualität schon des schriftlichen Gutachtens erhöhen und einer allzu oberflächlichen Argu­mentation (erst recht mit bewussten Fälschungstendenzen) Vorbeugen.

Während der Gesetzgeber im Instanzenzug die Wertigkeit des Diskurses für die Wahrheitsfindung schon quantitativ in der Besetzung der Spruchkörper berücksichtigt hat, blieb es im Sachverständigenbeweis seit jeher bei der Vorstellung einer außerhalb des Rechts liegenden - einzigen - Wahrheit, deren Ermittlung grundsätzlich nur eines Sachverständigen bedarf, dessen Objektivität und Unabhängigkeit durch die Bestellung des Gerichts zu gewährleisten ist. Seit den Ursprüngen unserer Prozessordnungen in einer Zeit überschaubarer Lebenssachverhalte und wissenschaftlicher Gedankengebäude hat die Komplexität sowohl der Krankheitsbilder selbst als auch und in besonderem Maße der Kenntnisstand über Ursache- Wirkungs-Beziehungen zugenommen. Parallel sind die Möglichkeiten in der Diag­nostik exponentiell gewachsen, damit aber auch die Probleme von Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität von Einzelergebnissen.

Das schon erwähnte Wertungselement in medizinischen Gutachten lässt unter­schiedliche Meinungen nahezu unvermeidlich erscheinen. Nicht immer sind Mängel hierfür die Ursache, vielmehr gibt es offenbar in vielen Fallkonstellationen nicht (mehr) die „einzige Wahrheit“ außerhalb des Rechts, wie sich immer wieder bei Falldemonstrationen auf Gutachterkongressen zeigt. Maßnahmen der Qualitätssicherung und - Verbesserung in der Begutachtung betreffen daher zuvorderst die Prozessqualität, nicht aber zwangsläufig auch die Ergebnisqualität.

Das Bemühen gerade in der Sozialgerichtsbarkeit durch Rückkoppelung der Sachverständigen etwa an die üblichen Klassifikationssysteme des ICD 10/11 oder DSM IV/V sowie ganz allgemein an den „aktuellen wissenschaftlich-medizinischen Er­kenntnisstand“ erhöht die Vergleichbarkeit gutachtlicher Aussagen, garantiert aber gleichfalls nicht deren inhaltliche Richtigkeit. Zudem haben mehrere im vorliegen­den Fall gehörte Sachverständige darauf aufmerksam gemacht, dass ein bloßes Klassifikationssystem von Diagnosen schon auf Grund der „Resteklassen“ die Spielarten einer pathologischen Störung nicht ausreichend abzubilden vermag. Selbst die aus Sicht des Verfassers grundsätzlich zu beachtenden Leitlinien als Ausfluss des medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes, die ein Abweichen erlauben, aber einer verstärkten Begründungspflicht unterwerfen, sind hinterfragungsfähig. Beispielhaft sei hier die Rolle der testpsychologischen Begutachtung genannt, zu deren Bedeutung unterschiedliche Wertungen in Leitlinien existieren.

 

So war auch zwischen den beigezogenen Sachverständigen bereits die Frage strit­tig, inwieweit diese Methodik - wenigstens in der Hand des Sachkundigen - bereits für sich genommen Aussagen erlaubt oder nur als zusätzliche Informationsquelle im Einzelfall dazu dienen kann, dem Primat des klinischen Eindrucks zusätzliche Sicherheit zu verleihen. Gerade die Testpsychologie belegt darüber hinaus exemplarisch die Gefahr, dass durch eine Quantifizierung dem Nichtfachmann eine Pseudoobjektivität vermittelt werden kann, die jedoch schon durch die Auswahl der angewandten Testverfahren und nicht zuletzt durch die Kompetenz des jeweiligen Gutachters zahlreichen - ggf. verschleierten - Einflussfaktoren unterliegt, die den beteiligten Sachverständigen und erst recht den Auftraggebern bewusst sein muss. Eine Beschwerdevalidierung gehört bei Inkonsistenzen sicherlich zum gutachterlichen Repertoire, entsprechende Kompetenz in Auswahl und Auswertung vorausge­setzt. Ein häufig geforderter Automatismus kann wiederum eher einem unkritischen Einsatz Vorschub leisten, mit falsch negativen wie positiven Ergebnissen für die Betroffenen.

Ein weiterer Beitrag zur Qualitätsverbesserung kann dadurch geleistet werden, dass in der Formulierung der normativen Vorgaben stärker die Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Erkenntnis in den Blick genommen und kaum bzw. gar nicht operationable Begriffe nicht dem Gutachter überantwortet wird. So kann die mögliche Gehstrecke vom Mediziner allenfalls geschätzt werden, wobei jedwede „Schätzung“ des Sachverständigen Abgrenzungsprobleme zur Beweiswürdigung aufwirft, eine objektive „Ermittlung“ ist nicht möglich. Erst recht gilt dies für die Einbeziehung normativer, für den Mediziner fachfremder Elemente wie etwa bei der Frage der „zumutbaren Willensanstrengung“. Im Idealfall sollte sich die Beweisanordnung auf medizinische messbare bzw. zumindest fachlich beurteilbare Fakten beschränken.

Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Qualität medizinischer Gutachten hat schließlich die Vergütungsstruktur der Sozialgerichte. Die kontrapro­duktive Vorgabe in Bezug auf die Wiedergabe des Akteninhalts war bereits angesprochen worden. Die in den Bundesländern unterschiedlichen Vorgaben im Zeitaufwand für das Aktenstudium sind - soweit für den Verfasser ersichtlich - empirisch nicht belegt, sondern resultieren offenbar allein aus der Spruchpraxis der Kostensenate der Landessozialgerichte.[3] Die Vorgabe, nur solche Aktenbestandteile als berücksichtigungsfähig einzustufen, die mindestens 50% medizinischen Inhalt aufweisen, ist weder überprüf- noch inhaltlich begründbar. Wie wird diese Quote ermittelt und warum beeinflusst der Anteil medizinischer Informationen den Zeitauf­wand für das Aktenstudium? Ferner wird übersehen, dass auch nichtmedizinische Aktenbestandteile u.U. für die medizinische Beurteilung bedeutsam sein können, man denke etwa an die schul- und berufliche Karriere zur Beurteilung der Kausalität eines bestimmten Ereignisses für eine nachfolgende psychische Störung. Ähnliches gilt für die in dieser Apodiktik unzutreffenden Aussage, dem Sachverständigen müsse die einschlägige Literatur bekannt sein, weshalb es im Regelfall keines Aktenstudiums bedarf. Die Fragestellungen an die Gutachter ist derartig vielfältig, dass es nicht nur in Ausnahmenfällen einer Auseinandersetzung mit dem jeweils aktuellen Kenntnisstand bedarf, um die - zu Recht - gestellten Anforderungen der Recht­sprechung zu genügen. Auch die Einordnung der Gutachten in die Vergütungsklassen (M1 bis M3) erfordert schon eine gewisse medizinische Expertise, weshalb die hier nicht selten anzutreffende Schematisierung in der Begründung vorgenommener Kürzungen erstaunt.

Man sollte trotz des schon jetzt erheblichen Kostenaufwands schließlich nicht aus dem Blick verlieren, dass derartige, im medizinischen Schrifttum immer wieder kriti­sierten Restriktionen zu qualitätsmindernden Fehlanreizen führen können, wie etwa der Versuch einer Zeitersparnis durch Oberflächlichkeit im Aktenstudium oder durch Verwendung von Textbausteinen zur Erleichterung der gutachterlichen Argumenta­tion. Beides kann nicht im Interesse der Sozialgerichtsbarkeit, der Prozessbeteiligten wie auch der Gesellschaft insgesamt liegen.    

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass aus Sicht der beigezogenen Sachverständigen die möglichst vollständige Ermittlung der Anknüpfungstatsachen einen unverzichtbaren Beitrag zur Qualitätssicherung medizinischer Gutachten darstellt. Auch wird eine stärkere Kommunikation mit den Gerichten gefordert, sei es durch Einweisung vor, sei es durch Übersendung von Abschriften nach Abfassung der Sachentscheidung.

 

Aus Sicht des Verfassers bietet auch eine stärkere Abklärung der gutachterlichen Kompetenz im Vorfeld sowie die mündliche Erörterung eines Gutachtens im Termin eine verlässlichere Gewähr dafür, dass medizinische Sachverständige (1.) die Grundlagen der Begutachtungsmethodik beherrschen und (2.) bei der Abfassung des Gutachtens größere Sorgfalt walten bzw. sich etwaige Missverständnisse/ Fehlinterpretationen bereinigen bzw. vermeiden lassen.“

 

Die vom erkennenden Richter durchgeführten Ermittlungen zu den Qualitätsanforderungen an medizinische Sachverständigengutachten sind mit diesem Zusammenhangsgutachten von C. allerdings noch nicht abgeschlossen. Vielmehr ist es beabsichtigt, insbesondere zu der  - entscheidenden Frage - , welche richterlichen Vorarbeiten für ein qualitativ angemessenes Gutachten aus medizinischer Sicht erforderlich sind und ob es – wie bisher – auch heute noch ausreicht, die behandelnden Ärzte regelmäßig nur um schriftliche Stellungnahmen  in sog. Befundberichten zu bitten oder ob sie künftig – wie im Straf- und Zivilprozess üblich – immer zur Übersendung der vollständigen Patientendokumentation aufzufordern und zu ihrer mündlichen Erläuterung auch im sozialgerichtlichen Verfahren in einem Gerichtstermin anzuhören sind, in einem nächsten Schritt eine repräsentative Befragung aller am erkennenden Gericht tätigen (rund 7000) medizinischen Sachverständigen des LSG NRW unter Leitung von Prof. Dr.Berger, der den Lehrstuhl für empirische Sozialforschung an der Universität Leipzig innehat, durchzuführen.

 

Grund für diese gerichtliche Absicht, ist, dass es zu den ins Auge gefassten gerichtlichen Fragen bislang keine zuverlässigen Daten gibt, obwohl diese für die – auch in diesem Verfahren streitentscheidende – Verbesserung der Vorgehensweise für die optimale gerichtliche Aufklärung des Sachverhalts wesentlich sind. Das bisherige gerichtliche Vorgehen der Sozialgerichte folgt nämlich bisher noch immer der seit Einführung der Sozialversicherung im Jahre 1883 bestehenden Tradition, bloße Befundberichte einzuholen und Beweisanordnungen zu erlassen, ohne die oben geschilderten aktuellen Tendenzen zu immer stärker manipulierten Vorbefunden zu berücksichtigen.

 

Nach den Aussagen der insoweit gehörten Sachverständigen beläuft sich der Anteil der entsprechend manipulierten Diagnosen in den USA nach dortigen Studien mittlerweile auf rund 50 %. Das deckt sich mit den tatrichterlichen Erfahrungen des für dieses Urteil verantwortlichen Richters, die auf rund 30 Dienstjahren in medizinischen Fachgebieten der Sozialgerichtsbarkeit und dabei rund 60.000 ausgewerteten Gutachten beruhen. Dennoch ist angesichts der großen Bedeutung der o.g. Fragestellung weder eine individuelle tatrichterliche (Ein-)Schätzung noch eine ausländische Studie ausreichend. Denn weder sind die Erfahrungen einer einzelnen Person eine hinreichend breite Grundlage noch lassen sich die amerikanischen Studien direkt auf Deutschland übertragen. Dafür sind die jeweiligen Gesundheits- und Rechtssysteme zu verschieden. Diejenigen, die hier am ehesten in repräsentativem Umfang zur Lage medizinisch verwertbarer Daten in Deutschland auf Grund ihrer spezifischen Erfahrungen gerichtsverwertbare Antworten geben können, sind vielmehr die medizinischen Sachverständigen der deutschen Sozialgerichte. Denn diese Sachverständigen stellen eine hinreichend große Gruppe dar und sind dabei zudem neutral sowie unabhängig.

 

Folgende Fragen sollten den rund 7000 medizinischen Sachverständigen des LSG NRW daher gestellt und sodann nach den Regeln der empirischen Sozialwissenschaft durch Prof. Dr. Berger ausgewertet werden:

 

„Frage 1 Wie viele Jahre (gerundet) sind Sie bereits für Sozialgerichte von Amts wegen beauftragt (d.h. gemäß § 106 SGG) gutachterlich tätig?

 

___ ___ Jahre

 

Frage 2 Wie viele Gutachten gemäß § 106 SGG haben Sie bisher für Sozialgerichte erstellt? (Eine Schätzung ist ausreichend.)

 

ca. ____ Gutachten

 

Frage 3 Haben Sie von den Sozialgerichten eine vorherige Einweisung (z.B. in einem Termin) oder nachträgliche Rückmeldungen (z.B. durch Übersendung des späteren Urteils) zu den Qualitäts-Anforderungen an Gerichts-Gutachten durch eine vorherige Einweisung: durch eine nachträgliche Rückmeldung erhalten?

 

nie

selten 

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 4 Hätten Sie sich von den Sozialgerichten eine vorherige Einweisung oder nachträgliche Rückmeldung zu Qualitäts-Anforderungen an Gutachten gewünscht?

 

nie

selten 

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 5 Wünschen Sie sich, dass Sie Ihre Gutachten in einem Termin (in Präsenz oder elektronisch) mündlich erläutern können?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer 

 

Frage 6 Wünsche Sie sich die Beiziehung der Primärdokumentation (d.h. nicht nur von

Befundberichten, sondern der gesamten Patientenakte mit allen Daten) der medizinisch

Behandelnden (stationär und ambulant) durch das Gericht vor Erteilung des Gutachtenauftrages?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 7 Sind Sie durch organisatorische/finanzielle Vorgaben der Sozialgerichte an der optimalen Erfüllung des Gutachtenauftrages behindert?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 8 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Dissimulation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 9 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Aggravation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 10 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Simulation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 11 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf interessengeleitete Fehl- oder Falschangaben der Vorbehandelnden (ambulant/stationär)?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 12 Sollte die Erteilung eines gerichtlichen Gutachtenauftrags - zusätzlich zum allgemeinen beruflichen Sachkundenachweis - an den Nachweis einer Zusatzqualifizierung/Zertifizierung für die Erstellung gerichtlicher Gutachten gebunden werden?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer“

 

Das voraussichtliche Kostenvolumen dieser Ermittlungen wurde von Prof. Dr.Berger auf rund 60.000 Euro beziffert. Der zuständige Richter beantragte daher vorab gemäß den §§ 3 ff des deutschen Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetschern, Dolmetscherinnen, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JVEG) bei der Gerichtsverwaltung eine kostenrechtliche Überprüfung. Das Justizministerium von NRW stellt die richterliche Berechtigung zur Durchführung dieser Ermittlungen indes generell in Frage vgl. Schreiben des Justizministeriums NRW zur Aktenzeichen 3132 E – z.68/23 - z vom 26.6.2023::

 

„Die Sache veranlasst mich allerdings zu dem Hinweis, dass es eine Grenze geben muss zwischen einerseits einer selbstverständlich der richterlichen Unabhängigkeit unterliegenden Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens in einem konkret zur Entscheidung anstehenden Gerichtsverfahren und andererseits einer abstrakten wissenschaftlichen Ermittlung von Begutachtungsregularien für eine gesamte Klasse von Gerichtsverfahren durch Einholung zahlloser Sachverständigengutachten, für deren Kosten dann weder die Parteien eines einzelnen konkreten Verfahrens noch der Steuerzahlen in Haft genommen werden können.“

 

An dieser Position hält die Gerichtsverwaltung von NRW bislang fest,

 

Die vom betroffenen Richter in diesem und anderen (Muster-) Verfahren beabsichtigten weiteren Ermittlungen haben sich daher bislang als nicht weiter durchführbar erwiesen. Neben diesem anhängigen Rechtsstreit sind davon seit über einem Jahr rund 220 Verfahren betroffen, die in die o.g. Ermittlungen einbezogen worden sind. Es kommt inswoweit auf eine rechtliche Klärung durch das Bundessozialgericht an.

 

Hierauf sowie auf die Absicht des erkennenden Gerichts zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung in die erste Instanz bei gleichzeitiger Zulassung der Revision an das BSG sind die Beteiligten hingewiesen worden. Sie haben in Kenntnis dessen der Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zugestimmt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts-und Beiakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter gemäß §§ 155 Abs. 3 SGG im Einverständnis der Beteiligten als Einzelrichter entscheiden konnte, ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet.

 

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht (LSG) die angefochtene Entscheidung eines Sozialgerichts (SG) durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und wenn das LSG wegen aufwändiger Ermittlungen an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist.

 

Die angefochtene Entscheidung des SG beruht hier auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Denn auch unter Zugrunde-Legen des rechtlichen Ausgangspunkts des SG bezüglich der Entschädigungspflicht für sogenannte Schockschäden hätte das SG die medizinischen Tatsachen, auf die es sich stützt, gemäß §§ 103, 106  GG in Verbindung mit § 1 OEG weiter aufklären müssen. Die gerichtliche Pflicht zur sorgfältigen Aufklärung der medizinischen Folgen der Tat gilt nämlich nach diesen gesetzlichen Bestimmungen auch dann, wenn man mit dem SG für einen entsprechend § 1 OEG zu entschädigenden Schockschaden hinsichtlich der dafür geforderten personalen Nähe zum Opfer keine rechtlich anerkannte Nähe im Sinne naher Verwandtschaft, Ehe oder Lebenspartnerschaft  verlangt, sondern eine rechtlich nicht verbindliche Nähebeziehung ausreichen lässt und auch hinsichtlich der Schwere der Tat nicht verlangt, dass eine Straftat mit der Mindeststrafe eines Jahres Freiheitsstrafe vorliegen muss.

 

Denn die anspruchsbegründenden Tatsachen - d. h. vor allem die medizinische Diagnosen - müssen von den Gerichten für das Opferentschädigungsrecht (wie für alle Leistungen für die die Versorgungsmedizinverordnung gilt) gemäß §§ 103, 106, 128 SGG im sogenannten Vollbeweis festgestellt werden. Hierfür ist ein der Gewissheit nahekommender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich (BSG vom 27.03.1958 - 8 RV 387/55; Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R -). Diese volle Überzeugung ist nur dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (BSG vom 27.04.1972 - 2 RU 147/71-.). Auch die Tat als solche muss für § 1 OEG grundsätzlich mit demselben Gewissheitsgrad gerichtlich festgestellt werden. Beweiserleichterungen können entsprechend der Vorschrift des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) nur dann eingreifen, falls sich das Opfer in schuldloser Beweisnot befindet. Hinsichtlich der Kausalität zwischen der Tat im Sinne des § 1 OEG, dem Erstschaden und dem ggf. zu entschädigenden Dauerschaden muss schließlich vom Gericht ein ursächlicher Zusammenhang festgestellt werden, wobei insofern die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht.

 

Für die gerichtliche Beweisaufnahme ist zudem genau zwischen Anknüpfungstatsachen, also Umständen, die nicht in das Fachgebiet des medizinischen Sachverständigenbeweises fallen, und den Tatsachen zu unterscheiden, die ein medizinischer Sachverständiger ermitteln soll. Diese nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen muss das Gericht vorgeben.

 

Diese Vorgaben hat das SG verkannt.

 

Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn das erkennende Gericht kann ohne die Erhebung weiterer Tatsachen in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen (hierzu unter II).

 

Gemäß der Vorschrift des § 159 Abs. 2 SGG erfolgen hier daher (unter III) gemäß § 159 Abs. 2 SGG verbindliche Anweisungen über die Art der nachzuholenden tatrichterlichen Ermittlungen (vgl. dazu beispielhaft die rechtskräftigen Urteile des erkennenden Senats vom 14.12.2017 – L 13 VG 23/17 – und vom 3.7.2020 – L 13 SB 33/20 -.).  Dabei sollen gemäß den nach § 159 Abs. 2 SGG an die erste Instanz erteilten – bindenden (vgl. zB Keller in Meyer-Ladewig 14. Auflage, 2023 § 159 Randnummer 6a mit weiteren Nachweisen) -  Maßgaben auch die o.g. allgemeinen Erkenntnisse einbezogen werden, die das erkennende Gericht in mehreren parallel zum Ausgangsverfahren geführten Musterverfahren über Qualitätsanforderungen an medizinische Sachverständigengutachten für Gerichte nach der Versorgungsmedizinverordnung und über die Belastbarkeit der dabei auszuwertenden Angaben behandelnder Ärzte bzw. Ärztinnen bislang gewonnen hat.

 

Schließlich ist gleichzeitig die Revision an das Bundessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1  SGG zugelassen, damit dieses über die Rechtmäßigkeit der vom erkennenden Gericht gemäß § 159 Abs.2 SGG erteilten Maßgaben urteilen kann (Hierzu unter IV - vgl. zu einem solchen Vorgehen zuletzt: BSG Urteil vom 14.6.2018 – B 9 SB 2/16 R).

 

I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 2 Nr. 2 SGG, ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 SGG siehe z.B. Urteile des LSG NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008 - L 2 KN 165/08 -). Hier hat das SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gemäß §§ 103 und 106 SGG nicht genügt.

 

1.. Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil sich das SG - ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung - zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen.

 

Das SG konnte hier angesichts der in Frage stehenden Beweisfrage nach den ggf. durch das Geschehen vom 17.5.2013 verursachten Gesundheitsschäden der Klägerin nicht ohne weitere Ermittlungen über den geltend gemachten Anspruch entscheiden. Das betrifft sowohl die erforderliche Sachverhaltsaufklärung bezüglich der nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen bzgl. des Geschehensablaufs am 17.5.2023 als auch die medizinische Aufklärung bzgl. des Gesundheitszustands der Klägerin vor und nach diesem Geschehen sowie zur Frage der Ursächlichkeit zwischen diesem Geschehen und bei der Klägerin seitdem feststellbarer dauerhaften Gesundheitsschäden.

 

2. Der erste – und für alle weiteren Mängel der Ermittlungen des SG ursächliche – Fehler bestand schon darin, dass das SG weder die Klägerin selbst noch die sowohl bzgl. des Geschehens vom 17.3.2013 als auch hinsichtlich der daraus für die Klägerin resultierenden Gesundheitsfolgen im Alltag in Frage kommenden Zeugen persönlich angehört hat. Auch auf anderen Grundlagen (z.B. den Akten der Vorprozesse des Amts- und Landgerichts Köln) hat das SG für seine medizinischen Ermittlungen nicht geklärt, von welchem Schädigungssachverhalt für die medizinische Bewertung genau auszugehen ist und auf welche Schädigungshandlung genau die Klägerin ihren geltend gemachten Anspruch überhaupt stützt. Es gibt zu diesem Geschehen nämlich unterschiedliche und inhaltlich nicht übereinstimmende Angaben in den Akten, angefangen mit den polizeilichen Ermittlungen über das Strafverfahren bzw. das Zivilverfahren des Amts- bzw. Landgerichts Köln bis hin zu den unterschiedlichen Schilderungen seitens der Klägerin und ihrer Partnerin gegenüber Ärzten, Therapeuten und schließlich auch gegenüber dem Beklagten sowie zuletzt im sozialgerichtlichen Verfahren.

 

Die Beweisanordnung des SG ist insoweit unklar und ungenau. Denn das SG hat nicht präzise vorgegeben, von welchem exakten Tatgeschehen bzgl. des Angriffs auf die Partnerin ausgegangen werden soll. Die Bezeichnung „Körperverletzung gegenüber der damaligen Lebensgefährtin“ reicht nicht, denn hierzu gibt es, wie oben gezeigt, in den Akten unterschiedliche Schilderungen.

 

Dass der vom SG beauftragte Sachverständige sich schließlich eine eigene Darstellung des Geschehens aus den unterschiedlichen Angaben zusammengestellt hat, ist ein schwerer – und für einen medizinischen Sachverständigen unverzeihlicher – Fehler. Denn ein Mediziner ist kein kriminalistischer Sachverständiger oder gar Richter. Ein Mediziner darf nie richterliche Aufgaben wahrnehmen und selbst nicht-medizinische Tatsachen ermitteln oder ohne entsprechende ausdrückliche richterliche Anordnung derartige Angaben als sicher annehmen. Das muss vielmehr immer das Gericht selbst tun und hierzu den nicht-medizinischen Sachverhalt feststellen. Nur wenn das SG dem Sachverständigen auf dieser Basis ausdrücklich einen Geschehensablauf als Anknüpfungstatsachen vorgegeben hätte, wäre der Sachverständige seriös in der Lage gewesen, mit seinem Gutachten anzufangen. Er hätte daher spätestens bei Durchsicht der Akte um richterliche Klärung ersuchen müssen – so wie es das übliche gerichtliche Übersendungsschreiben der Akten auch ausdrücklich anordnet.

 

Das SG hätte daher den Geschehensverlauf vom 17.5.2013 genau aufklären müssen, insbesondere durch die Beiziehung der vorangegangen Straf- und Zivilakten des Amts- bzw. Landgerichts Köln, ggf. die Anhörung von Zeugen, die Einnahme des richterlichen Augenscheins und die Ausschöpfung aller sonstiger Ermittlungsmöglichkeiten, die im konkreten Einzelfall zur Gewinnung der gerichtlichen Überzeugung sinnvoll in Frage kommen. Rechtlich zulässig – prozessökonomisch und naheliegend – wäre es dabei gewesen, zunächst von dem Tatgeschehen auszugehen, das übereinstimmend zuvor schon das Amts- bzw. Landgericht Köln festgestellt hatten. Eine solche Beweiswürdigung der strafrechtlichen Beweisaufnahme in einem anderen Gerichtsverfahren ist auch trotz der im Strafrecht geltenden Unschuldsvermutung zulässig. Das hat das Oberlandesgericht OLG Köln im Beschluss über die Versagung von Prozesskostenhilfe gegen das Urteil des Landgerichts Köln, mit dem dieses den Täter zu Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt hatte, überzeugend dargelegt. Denn die Einstellung eines Strafverfahrens unter Auflagen gemäß § 153a der Strafprozessordnung erlaubt hier den Schluss auf die Wahrscheinlichkeit des dem Täter zur Last gelegten Verhaltens (OLG Köln Beschluss vom 17.07.2017 – 19 W 11/17).

 

Soweit das SG allerdings – im ausdrücklichen Anschluss an den von ihm beauftragten Sachverständigen in dessen Gutachten – von den o.g. Feststellungen des Amts- und Landgerichts Köln abwich und die über die bisherigen gerichtlichen Feststellungen hinausgehenden Angaben der Klägerin gegenüber dem Sachverständigen zugrunde legte, wäre das nur dann zulässig gewesen, wenn das SG dazu eine eigenständige Begründung abgegeben hätte – spätestens in seinem Urteil. Für die Zwecke einer medizinischen Beweisaufnahme kann man zwar (noch) von einer solchen Begründung absehen und dem Sachverständigen einen hypothetischen Sachverhalt vorgeben, von dem er ausgehen soll.

 

In jedem Fall aber hätte das SG dem Sachverständigen den schädigenden Sachverhalt präzise vorgeben müssen. Auf keinen Fall durfte das SG die richterliche Aufgabe der Aufklärung der Anknüpfungstatsachen auf den medizinischen Sachverständigen übertragen. Das aber hat das SG hier getan. Schon damit sind alle darauf aufbauenden weiteren Schritte der Beweisaufnahme des SG rechtswidrig und nicht verwertbar.

 

3. Auch in rein medizinischer Hinsicht hat das SG die richterlichen Vorarbeiten nicht geleistet, die zwingend erforderlich sind, um zu der vom Gesetz gemäß §§ 103, 106 SGG geforderten sorgfältigen Aufklärung des Sachverhalts zu gelangen. So hätte das SG vor allem selbst die Vollständigkeit der medizinischen Dokumentation prüfen und ggf. für Ergänzung sorgen müssen. Hier fehlt Wesentliches: Das beginnt schon mit der Beiziehung des Berichts der Rettungssanitäter, die die unmittelbar Geschädigte und die Klägerin am 13.5.2013 ins Krankenhaus brachten, der in den Akten fehlt. Das aber ist für die Klärung etwaig dokumentierter Schockschäden der Klägerin das naheliegendste und zeitnächste Beweismittel, weil die Rettungssanitäter als erste vor Ort waren und die Erstversorgung der unmittelbar Geschädigten und der Klägerin übernahmen.

 

Es ist ferner unklar, in welchem Gesundheitszustand die Klägerin vor dem 17.5.2013 genau war. Aussagekräftige Dokumente darüber hat das SG nicht vollständig beigezogen – weder betreffend die Analvenenthrombose der Klägerin noch bezüglich der von der Klägerin angegebenen Fibromyalgie und ihren Bandscheibenvorfällen. Die Annahme einer nicht näher bezifferten Vorschädigung, von der das SG im Anschluss an das Gutachten des Sachverständigen T. ausgeht, ist vage – und deswegen unzureichend. Feststellungen zur genauen Art und zum genauen Ausmaß der Vorschädigung (benannt nach einer in der Medizin international anerkannten Codierung und beziffert nach dem entsprechenden Grad der Behinderung nach der VMG) sind aber schon denkgesetzlich Grundvoraussetzung dafür, um auf dieser Basis feststellen können, ob es sich um dieselbe Erkrankung handelt und mit welchem Grad der Schädigungsfolgen sich diese Erkrankung der Klägerin ggf. durch die streitgegenständlichen Geschehnisse des 17.5.2013 ggf. dauerhaft verschlechtert hat.

 

Hierbei ist es zusätzlich auch erforderlich auf die allgemein bekannten Erkenntnisse über den regelhaft zu erwartenden Verlauf dieser Erkrankungen einzugehen, um sodann beurteilen zu können, ob es u.U. insoweit durch die streitgegenständlichen Ereignisse des 17.5.2013 zu einer richtunggebenden dauerhaften Verschlimmerung dieser Erkrankungen bzw. deren Folgen kam oder ob die Klägerin u.U. bereits durch diese Vorerkrankungen im Sinne einer erheblichen Vorschädigung oder Schadensanlage schon so gesundheitlich beeinträchtigt war, dass die Auslösung weiterer Gesundheitsfolgen durch die Geschehnisse des 17.5.2013 nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Lehre von der wesentlichen Ursache nicht mehr als wesentlich (mit-)ursächlich gewertet werden kann.

 

Zwingend hätte das SG daher zur Ermittlung des Gesundheitszustands der Klägerin vor dem 17.5.2013 zunächst ein vollständiges Leistungsverzeichnis der Krankenkasse der Klägerin über alle ihr gewährten medizinischen Leistungen einschließlich von Krankschreibungen, ferner einen unverschlüsselten Versicherungsverlauf der Rentenversicherung der Klägerin (der insbesondere auch Zeiten medizinischer und/oder beruflicher Rehabilitation offenlegt) sowie die Schwerbehindertenakte der Klägerin und deren Personalakten über ihren Dienst als Brandmeisterin der Feuerwehr (mit den darin enthaltenen Befunden der regelmäßigen medizinischen Untersuchungen und dienstlichen Beurteilungen, die unter anderem auch Angaben über den Gesundheitszustand und die Belastbarkeit enthalten) anfordern müssen. Denn gerade ein Leistungsverzeichnis der Krankenkasse stellt sicher, dass bei der Aufklärung des medizinischen Sachverhalts keine Vorbehandlungen vergessen oder gar verschwiegen werden. Denn in diesem Leistungsverzeichnis ist all das immer vollständig – und nach Diagnosen codiert sowie nach Datum sortiert – gespeichert. Das Leistungsverzeichnis der Krankenversicherung ist damit unverzichtbar für die Begutachtung. Ebenso wichtig ist der unverschlüsselte Rentenversicherungsverlauf. Denn dieser enthält ergänzend die medizinischen Leistungen der Rentenversicherung und gibt zudem Aufschluss über die gesamte Erwerbsbiographie nebst ggf. daraus für die Begutachtung hervorgehender besonders kritischer Phasen. Die Scherbehindertenakte ist eine weitere wertvolle Quelle von länger zurückliegenden Befunden vor allem dann, wenn wie hier bestimmte Aufbewahrungsfristen bei den Behandlern schon abgelaufen sind. Die Personalakte schließlich enthält regelmäßig für die sozialmedizinische Begutachtung unverzichtbare Informationen über berufliche Belastungen aber auch arbeitsmedizinische Daten. An all diesen Quellen fehlt es hier, weil das SG sie nicht beigezogen oder angefordert hat.

 

Dabei wäre ein solches gerichtliches Vorgehen wegen der die prozessualen Mitwirkungspflichten der Klägerin gemäß §§ 103, 106, 106a SGG ein Leichtes gewesen. Es empfehlen sich insoweit folgende Vordrucke, die man den betreffenden Beteiligten an die Hand geben kann und die sich in hunderten von Verfahren des erkennenden Gerichts bewährt haben:

 

Vordruck Anforderung Leistungsverzeichnis Krankenkasse:

 

bitte übersenden Sie mir gemäß § 305 SGB V eine Auskunft über alle mich ^     betreffenden Leistungsdaten – Versicherungsnummer …..“

 

Vordruck Rentenversicherung

 

bitte übersenden Sie mir einen unverschlüsselten Rentenversicherungsverlauf – Versicherungsnummer …..“.

 

Sodann hätte das SG gemäß §§ 103, 106, 106a SGG auch alle weiteren für die Aufklärung des Sachverhalts erheblichen Dokumente zu den Akten nehmen bzw. von den Beteiligten zu den Akten geben lassen müssen, die genauen Aufschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitszustands der Klägerin nach dem 17.5.2013 Aufschluss geben können. Dazu gehören neben den oben bereits genannten Quellen insbesondere die vollständigen Dokumentationen aller medizinischen Behandlungen, die anlässlich der Ereignisse des 17.5.2013 bei der Klägerin erfolgt sind, d.h. die vollständigen Primärbefunde. Gerade bei länger andauernden seelischen Leiden sind hierzu die sogenannten Befundberichte, mit denen sich das SG begnügt hat, nicht ausreichend. Denn oft sind erst die vollständigen Aufzeichnungen über die geführten Gespräche und Therapien wirklich aussagekräftig. Nicht selten stehen diese zeitnah gefertigten und von späteren rechtlichen Interessen noch eher unbeeinflussten und daher unverfälschten Aufzeichnungen auch im Gegensatz zu späteren Angaben, die bereits im Blick auf rechtliche oder finanzielle Interessen erfolgen. Auch die Berichte der Therapeuten selbst sind oft gefärbt von deren Interessen – z.B. an der Verlängerung einer für den Therapeuten lukrativen Therapie bei Beantragung von deren Verlängerung durch die Krankenkasse oder die Befürchtung von Haftungsfolgen bei einer überlangen Therapie ohne sichtbare Erfolge. Gerichte dürfen daher die Angaben, die in den komprimierten Kurzfassungen der sogenannten Befundberichte erfolgen nicht ohne die Kontrollmöglichkeit der beigezogenen Primärdokumentation ausreichen lassen. So handhaben es im Übrigen die Straf- und Zivilgerichte schon lange. Die Sozialgerichte dürfen hinter diesem gerichtlichen Standard sorgfältiger Ermittlungen nicht zurückbleiben – zumal wenn es um so große streitgefangene Summen wie im vorliegenden Fall geht, bei dem die im Streit stehenden bzw. davon abhängenden – lebenslangen – Leistungen (Rente, Krankenbehandlung, Berufsschadensausgleich) ein Volumen von rund einer Million Euro erreichen.

 

Auch insoweit gibt es entsprechende Vordrucke, die den Beteiligten an die Hand gegeben werden können und die sich ebenfalls schon in hunderten von Verfahren vor dem erkennenden Gericht bewährt haben, zumal sie den gerichtlichen Aufwand schlank halten und sonst drohende Doppelermittlungen vermeiden:

 

Vordruck Anforderung der Primärdokumentation von Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern, etc:

 

„in einem anhängigen Berufungsverfahren hat der für Ihren Patienten zuständige 13. Senat des Landessozialgerichts dazu aufgefordert, dass die vollständigen Patientenakten sämtlicher behandelnder Ärzte, Therapeuten und Kliniken eingereicht werden. Die Patientenakten umfassen mehr als nur die Befundberichte und Arztbriefe, sondern vielmehr die vollständige Behandlungsdokumentation, sämtliche Laborbefunde usw. In diesem Umfang liegen diese Unterlagen dem Gericht derzeit nicht vor. Die gerichtliche Auflage muss also dringend erfüllt werden, um den medizinischen Sachverhalt weiter aufzuklären.

 

Nach § 630 f. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist der Behandelnde verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. In der Patientenakte sind sämtliche wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen (insb. Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen und deren Ergebnisse, Befunde, Therapien etc.). Die Patientenakte ist für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren. Jeder Patient hat gemäß § 630 g BGB das Recht auf Einsicht in die Patientenakten. Er kann auch eine elektronische Abschrift verlangen.

 

Zur Erfüllung der oben erwähnten gerichtlichen Auflage möchte ich Sie daher bitten, dass Sie mir die gesamte Patientendokumentation über mich in Kopie übergeben.

 

Kosten für die Kopien dürfen nicht verlangt werden. Dies ergibt sich aus Art. 15 Abs. 3 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Kosten dürfen demnach nur für weitere Kopien beanspruch werden, nicht hingegen für die erstmalige Erstellung von Kopien. Für den Fall einer rein elektronischen Übermittlung der Patientenakte dürfen gar keine Kosten geltend gemacht werden.“

 

Das SG hat aber nicht nur seiner Pflicht zur vollständigen Anforderung der Fremdbefunde nicht genügt, sondern ist auch seiner gesetzlichen Aufgabe zur Anleitung des Sachverständigen nicht hinreichend nachgekommen. Es hätte nämlich sicherstellen müssen, dass dieser seine Aufgabe als medizinischer Sachverständiger und die ihm dabei gestellten Beweisfragen rechtlich korrekt versteht. Denn nichts ist so teuer wie ein Sachverständigengutachten, das seinen Zweck der Aufklärung des Sachverhalts nicht erfüllt. In diesem Sinne „billige“ Gutachten kann sich die öffentliche Hand nicht leisten. Mit sorgfältiger Auswahl und Anleitung des Sachverständigen muss das Gericht vielmehr für eine optimale Ausführung des Gutachtenauftrages sorgen.

 

Das Mittel der Wahl hierzu ist nach dem Gesetz die Einweisung des Sachverständigen in einem gerichtlichen Termin unter Anwesenheit der Beteiligten gemäß § 404a Abs. 2 ZPO unter entsprechenden Vorgaben gemäß § 404a Abs. 3 ZPO jeweils in Verbindung mit § 118 Abs. 1 SGG.

 

Dabei hätte das SG dem Sachverständigen eingehend Folgendes erklären und erläutern müssen:

 

Die Aufgabe eines medizinischen Sachverständigen unterscheidet sich grundlegend von der sonst üblichen helfenden Rolle eines Arztes gegenüber einem Patienten. Der gerichtliche Sachverständige ist allein der Feststellung der empirischen Wahrheit verpflichtet. Er dient nur dem Gericht und nicht den Beteiligten. Wie ein Richter muss der Sachverständige strikt neutral sein. Bei der wissenschaftlichen Feststellung der in sein Fachgebiet fallenden Tatsachen geht es nicht um persönlichen Meinungen, sondern allein um objektive wissenschaftliche Messdaten. Subjektive Beschwerdeangaben eines Probanden reichen für einen Beweis vor Gericht nicht aus.

 

Ein lehrreiches Beispiel dazu ist der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23.03.2017 -  2 WD 16.16 - zu einem Attest, das vorgelegt wurde, um die Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit eines Soldaten zu belegen. Das BVerwG verwarf die entsprechende Behauptung und führte zur Begründung aus:

 

Zu seiner Reisefähigkeit für diesen Tag enthält das truppenärztliche Attest aber gar keine Aussage. Es macht auch eine Verhandlungsunfähigkeit für den Folgetag nicht glaubhaft. Denn es gibt zwar die Behauptungen des Soldaten wieder, unter welchen Krankheitssymptomen er gelitten habe, enthält aber gar keine Erläuterung dazu, wieso diese Behauptungen aus medizinischer Sicht plausibel seien. Vor allem fehlen tatsächliche Feststellungen zur genauen Art der Erkrankung und zum Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigung, auf deren Grundlage hinreichend sicher auf das Vorliegen einer Verhandlungsunfähigkeit geschlossen werden könnte (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. Januar 2014 - 1 Ws 380/13 - juris Rn. 7). Es enthält auch keine entsprechende Diagnose. Es gibt zwar wieder, welche Untersuchungen Oberstabsarzt A. durchgeführt hat, führt aber die Ergebnisse der Untersuchung nicht an. Das Attest führt selbst zutreffend aus, dass die Frage einer Verhandlungsfähigkeit eines Verfahrensbeteiligten durch das Gericht auf der Grundlage einer aussagekräftigen medizinischen Empfehlung festzustellen ist. Dieser Aussagekraft entbehrt es allerdings und ist daher nicht geeignet, dem Senat die medizinische Einschätzung plausibel zu machen.

 

Bei der Überprüfung subjektiver Beschwerde-Angaben ist dementsprechend - schon aus Rechtsgründen - immer von der sog. "Nullhypothese" auszugehen. Das heißt alle subjektiven Angaben einer vom Sachverständigen zu beurteilenden Auskunftsperson sind solange als unwahr anzusehen, bis denkgesetzlich ein objektiver Nachweis für ihre Richtigkeit vorliegt. Subjektive Beschwerdeschilderungen eines Menschen beweisen daher für sich genommen lediglich, dass der Betreffende sie (aus-) sprechen kann. Es geht für die Gutachten vielmehr um die wissenschaftliche Prüfung des geschilderten Beschwerdeinhalts.

 

Dazu hat der Sachverständige dazu Stellung zu nehmen, ob und aufgrund welcher objektivierbaren Fakten die von dem betreffenden Menschen geklagten Funktionsbeeinträchtigungen im geklagten Umfang auch tatsächlich bestehen. Diese Abklärung erfordert eine eingehende Konsistenzprüfung durch kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage. Niemals genügt allein die Beschwerdeschilderung eines Probanden, um hieraus eine Diagnose abzuleiten. Entscheidend ist vielmehr nur der vom Sachverständigen erhobene wissenschaftlich messbare sowie validierte Befund.

 

Das bedeutet allerdings nicht etwa, dass Krankheitsbilder bzw. Krankheitssymptome, die nur schwer bzw. gar nicht direkt messbar sind (zB Schmerz) für den Nachweis ausscheiden. Vielmehr ist hierbei – wie auch sonst bei der gerichtlichen Feststellung sog. innerer Tatsachen (zB Vorsatz) - auf sog. Hilfstatsachen bzw. Indizien abzustellen, die sich objektivierbar messen lassen (näher zum entsprechenden Vorgehen: Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht 5. Auflage 2021, Randnummern 621 ff – dieses Werk ist ohnehin jedem gerichtlichen Sachverständigen ans Herz zu legen, weil es allgemeinverständlich die Grundlagen der insoweit auch für medizinische Sachverständige maßgeblichen Beweislehre erläutert).

 

Dabei ist für die Feststellung von Gesundheitsstörungen auch für Ansprüche aus dem OEG erforderlich, einen Grad an überindividuell erklärbarer Richtigkeit zu belegen, bei dem – so die übereinstimmende Formulierung aller obersten Gerichte in Deutschland - kein vernünftiger Zweifel an der getroffenen Feststellung über den Krankheitszustand besteht. Eine dazu aus der ärztlichen Praxis allgemein bekannte Entsprechung gleichen Wahrscheinlichkeits- bzw. Sicherheitsgrades ist z.B . die Sicherheit der Feststellung der Blutgruppe, wie sie vor jeder Blutspende gefordert wird.

 

Für die Feststellung des Verursachungszusammenhangs zwischen einer Schädigung und der betreffenden Gesundheitsstörung ist der Beweismaßstab allerdings milder. Hier genügt die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Verursachung. Insofern kommt als Wertungsgesichtspunkt die erforderliche Wesentlichkeit der Ursache hinzu. Dies ist zwar im Ergebnis eine rechtliche Wertung. Medizinisch muss der Sachverständige dazu aber prüfen und darlegen, ob Vor- oder Nachschäden beim Probanden gegeben sind und ob bzw. mit welchem Ursachenbeitrag andere medizinische Faktoren zur Entstehung, Verschlimmerung oder Aufrechterhaltung der streitbefangenen Gesundheitsstörung beigetragen haben.

 

In jedem Falle jedoch muss für die sozialgerichtliche Beweiserhebung zu Krankheitszuständen von den international anerkannten Klassifizierungssystemen ausgegangen werden, d.h. von der Klassifizierung nach der sog. ICD-Verschlüsselung der Weltgesundheitsorganisation oder dem international anerkannten Manual der (amerikanischen) medizinischen Fachgesellschaften (DSM). Dies ist schon deswegen zwingend erforderlich, um eine Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit der verwandten Begriffe und Begriffsbestimmungen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass gerichtliche Gutachten vor den Sozialgerichten, die nicht die von der WHO anerkannte Klassifizierung der ICD oder dem DSM zugrunde legen, nicht gerichtlich verwertbar sind.

 

Auch was die wissenschaftliche Methodik angeht, sind für die Beweiserhebung vor deutschen Sozialgerichten nur die in der Naturwissenschaft anerkannten, d.h. evidenzbasierten, empirischen und wissenschaftlich auf der rationalen Aufklärung beruhenden Methoden anzuerkennen. „Alternative“ Methoden, die sich der rationalen wissenschaftlichen Überprüfung entziehen, scheiden von vorneherein für eine gerichtliche Beweiserhebung aus, weil diese gemäß § 128 SGG immer vernunftgeleitet und von den Beteiligten sowie den höheren Instanzen überprüfbar sein muss. Dementsprechend sind vor und für Sozialgerichte auch nur solche Sachverständige zuzulassen, die uneingeschränkt auf dem Boden der wissenschaftlichen evidenzbasierten Schulmedizin stehen und die mit den in dieser Schulmedizin wissenschaftlich anerkannten Methoden arbeiten sowie ihre Ergebnisse transparent im wissenschaftlichen Diskurs nachprüfbar zur Diskussion stellen.

 

Wie später auch das Gericht so kann und muss auch der Sachverständige dabei in medizinischen Gutachten von bestimmten Grundannahmen und Beweiswürdigungs- bzw. Vermutungsregeln ausgehen, die aufgrund der geltenden Rechtsordnung sowie aufgrund allgemeiner Erkenntnisse als Erfahrungssätze zugrunde gelegt werden müssen.

 

Die wichtigste Grundannahme ist dabei die, dass Gesundheit als Regelzustand eines Menschen vermutet und Krankheit als Ausnahmezustand nur bei Vorliegen entsprechender nachprüfbarer Beweise angenommen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die alters- und geschlechtsentsprechende Konstitution von Menschen eine erhebliche Band- und Streubreite aufweist, so dass nur Zustände, die sich jenseits der natürlichen Band- bzw. Streubreite befinden, als fraglich krank angesehen werden können. Regelhafte Zustände, die mit dem Veränderungsprozess des menschlichen Körpers von der Geburt bis zum Tod sowie wie mit natürlichen Veränderungsprozessen des menschlichen Körpers bzw. der menschlichen Seele zusammenhängen und die sich noch innerhalb der o.g. Streubreite bewegen, gelten daher grundsätzlich nicht als Krankheit im Sinne des Sozialrechts

 

Eine weitere wichtige zentrale Vermutungsregel im medizinischen Gutachten für Sozialgerichte besteht darin, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass eine Krankheit nur dann angenommen werden kann, wenn sich im klinischen Bild Hinweise für einen entsprechenden Leidensdruck ergeben. Es gilt die generelle Vermutung, dass es keine Krankheit ohne Leid gibt, so dass bei Abwesenheit von Anzeichen für einen Leidensdruck vom Fehlen einer Erkrankung ausgegangen werden muss. Wichtigstes Indiz für den Leidensdruck ist die Inanspruchnahme fachlicher medizinischer Hilfe im gebotenen Umfang.

 

Nur in Ausnahmefällen und auch dort nur bei hinreichend sicheren Nachweisen kann eine klinisch stumme Erkrankung als sicher gegeben zugrunde gelegt werden. Ebenso wie in diesen Fällen ist auch bei einem Arbeiten auf Kosten der Gesundheit im Einzelnen anhand messbarer Daten nachzuweisen, dass eine Erkrankung tatsächlich vorlag aber nicht erkannt und nicht leidensgerecht behandelt wurde. Ansonsten gilt die Vermutung, dass bei Nichtausschöpfen der vom Gesundheitswesen angebotenen Behandlungsmöglichkeiten kein hinreichender Nachweis für einen der Krankheit entsprechenden Leidensdruck vorliegt. Insofern ist auch das Fehlen von therapeutischen Maßnahmen ein Beweiszeichen für das Fehlen einer Erkrankung. Auch von diesem Grundsatz gibt es in bestimmten Fällen Ausnahmen, nämlich insbesondere dann, wenn die Nicht-Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen Teil des Krankheitsbildes ist. Allerdings muss dann in diesen Fällen aufgrund anderer Umstände der Nachweis für die Erkrankung objektivierbar geführt werden. Die bloß theoretische Möglichkeit, dass ein solcher Fall vorliegen könnte reicht zum Nachweis nicht aus.

 

Bei der Würdigung von Fremdbefunden ist regelmäßig davon auszugehen, dass ausschließlich das Dokumentierte auch tatsächlich durchgeführt wurde. Bei lückenhafter Dokumentation bedeutet dies grundsätzlich, dass nur die Teile berücksichtigt werden können, die ausdrücklich dokumentiert worden sind. Diese Beweisregel kann im Einzelfall allerdings erschüttert werden, wenn festgestellt werden kann, dass die entsprechenden Maßnahmen trotz unvollständiger Dokumentation real durchgeführt wurden. Eine solche Feststellung ist aber regelmäßig Aufgabe des erkennenden Gerichts, das dazu in aller Regel die entsprechenden Lücken der Dokumentation durch Zeugenvernehmung der Therapeuten aufklären bzw. schließen muss. Der medizinische Sachverständige darf und muss eine medizinische Dokumentation ausschließlich medizinisch bewerten. Das aber bedeutet, dass er fremde Diagnosen nicht ohne eigene Prüfung übernehmen darf. In der entsprechenden Analyse muss der Sachverständige genau herausarbeiten, ob die betreffende Diagnose leitliniengerecht und gesichert gestellt wurde, oder ob es sich eine lediglich auf anamnestischen Eigenangaben des Patienten beruhende Verdachtsdiagnose handelte. Letztere hat nur dann einen gesichert(eren) Beweiswert, wenn sich ihre Richtigkeit im späteren Behandlungsverlauf herausgestellt haben sollte („Wer heilt hat recht“).

 

Bei alledem muss der medizinische Sachverständige in seinem Gutachten die Grenzen seiner Fachkompetenz wahren und darf daher nie Ausführungen jenseits davon machen – insbesondere Rechtsausführungen und aussagepsychologische Bewertungen sind einem Mediziner strikt verboten. Das heißt allerdings nicht, dass Aussagen nicht zu würdigen seien – nur eben strikt beschränkt auf die Frage, ob das Ausgesagte medizinisch glaubhaft ist oder nicht, dh ob es sich mit den Erkenntnissen der Medizin generell und den Befunden im konkreten Fall erläutern lässt, ggf. mit welchem Gewissheitsgrad.

 

Bei der abschließenden medizinischen Beurteilung (sog. Epikrise) sind nach alledem immer folgende zwei Leitfragen zur Berücksichtigung zugrunde zu legen:

 

Erstens: Sind die beklagten Erkrankungen und Funktionsstörungen ohne vernünftige Zweifel nachweisbar (Konsistenzprüfung) ?  

 

und

 

Zweitens: Sind die Schilderungen von Krankheiten und Funktionsstörungen sowie ihrer Entwicklung bzw. Verursachung auch alternativ erklärbar, ggf. mit welcher wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit bzw. Sicherheit (Alternativprüfung) ?.

 

Bei der wissenschaftlich und rechtlich immer gebotenen ausdrücklichen Alternativprüfung muss drittens immer dazu Stellung genommen werden, ob eine willentliche Steuerung der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigung in Betracht kommt. Hierbei geht es um die folgenden immer in Betracht zu ziehenden (Selbst-bzw. Fremd-) Täuschungsphänomene Simulation, Aggravation oder Dissimulation.

 

Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer Gesundheitsstörung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken.

 

Aggravation ist die bewusste, verschlimmernde bzw. übertreibende Darstellung einer Gesundheitsstörung zu erkennbaren Zwecken.

 

Dissimulation beschreibt das absichtliche Herunterspielen bzw. das Verbergen von Krankheitsanzeichen um für gesund gehalten zu werden.

 

Verdeutlichungstendenzen sind dem gegenüber legitime Bemühungen einer Probandin / eines Probanden, der Gutachterin oder dem Gutachter das Krankheitsempfinden klarzumachen.

 

Aspekte, die bei einem medizinischen Gutachten in die Abwägung einbezogen werden müssen, sind dabei insbesondere:

 

a) Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten des Betroffenen in der Untersuchung und subjektiver Beschwerdeschilderung.

b) Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht im Missverhältnis zur Vagheit der Schilderung der einzelnen Symptome.

c) Angaben zum Krankheitsverlauf sind wenig oder gar nicht präzisierbar.

d) Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe.

e) Ungeachtet der Angabe schwerer subjektiver Beeinträchtigungen erweist sich die Alltagsbewältigung des Betroffenen als weitgehend intakt.

f). Die Angaben des Probanden weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen und der Aktenlage ab.

 

Gerade die Posttraumatische Belastungsstörung, um deren Vorliegen oder Nicht-Vorliegen es im vorliegenden Fall zentral geht, ist dabei eine besonders täuschungsanfällige Diagnose. Sie muss daher vor Gericht besonders kritisch überprüft werden. Auch die Weltgesundheitsorganisation geht mittlerweile von einer Hyperinflation des Traumabegriffs aus, weshalb die Diagnosekriterien in der ICD 11 sehr viel strenger gefasst werden, als das bislang der Fall war (siehe hierzu Maercker: Traumafolgestörungen, 5. Auflage, 2019, Seite 5). Das beruht auch darauf, dass fingierte Traumafolgestörungen in der Begutachtung seit 2002 immer mehr Bedeutung erhalten haben und sich auch die aktuellere psychotraumatologische Fachliteratur mit diesem Phänomen beschäftigt. So schreiben Sack et al. in "Komplexe Traumafolgestörungen", Seite 120: "Der Opferstatus des Traumatisierten verspricht Anerkennung, Zuwendung und gelegentlich sogar materielle Entschädigung." Ausdrücklich weisen die Autoren darauf hin, dass Hinweise, die eine vorgetäuschte posttraumatische Belastungsstörung vermuten lassen, u.a. eine besondere Schwere und Dramatik der geschilderten Symptomatik umfassen sowie vage und unspezifische Angaben und Antworten, inkonsistente Beschwerdeschilderungen, widersprüchliche Veränderungen und Symptomwechsel, fehlende Schuldgefühle oder Selbstanklagen sowie die Weigerung des Patienten, Vorbefunde einzuholen zu lassen. Dabei kann eine fingierte Traumafolgestörung - wie einer der bekanntesten Traumaforscher, Prof Sachsse, in "Trauma und Justiz", 2007 dargestellt hat - für den Betroffenen ein "sinnstiftendes Narrativ" sein, mit dem soziale oder persönliche Problemlagen vermeintlich gelöst werden können (vgl. ferner: Frommberger, Angenendt, Berger: Die posttraumatische Belastungsstörung — eine diagnostische und therapeutische Herausforderung, Deutsches Ärzteblatt 2014 Seiten 59 ff und Dreßling, Meyer-Lindenberg: Simulation bei posttraumatischer Belastungsstörung, Versicherungsmedizin 2008, Seite 8 ff). Auch wenn eine PTBS „nur“ als eine Möglichkeit im Raum steht und alternativ andere Persönlichkeits- oder Anpassungsstörungen vom Gutachter bejaht werden, wie dies im Gutachten von T. geschehen ist, muss die Auseinandersetzung mit dieser Frage daher besonders eingehend und sorgfältig erfolgen.

 

Gefordert ist im Ergebnis immer eine eingehende sozialmedizinische Epikrise: Sie ist eine zusammenfassende und kritische Interpretation der Krankengeschichte und der veranlassten Therapie. Diese sozialmedizinische Epikrise muss alle wichtigen Angaben zur Vorgeschichte und Beschwerdeschilderung, zum Verlauf, zu den erhobenen Befunden und zu den endgültig festgestellten Krankheiten bzw. Diagnosen sowie zu den möglichen Differentialdiagnosen, zur empfohlenen Therapie und/oder Medikation, zur Heilung oder Linderung der Krankheit sowie auch zur Prognose enthalten. Sozialmedizinisch muss der Mensch, der aus Leib und Seele besteht, dabei unter Mitberücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit in Längsschnittbetrachtung von Biographie und Lebenssituation betrachtet werden.

 

Zur wissenschaftlichen Redlichkeit jedes Gutachtens gehört dabei aber auch, die jeweiligen Messgenauigkeiten der verwandten Messmethoden sowie ihren jeweiligen Messfehler offenzulegen. Das bedeutet, dass zu jeder angewandten Methode anhand der dazu wissenschaftlich veröffentlichten Daten anzugeben ist, in wie vielen Fällen falsch positive bzw. falsch negative Ergebnisse gemessen werden.

 

Es gibt schließlich schon denkgesetzlich keine Messung ohne Messfehler. Das gilt sowohl hinsichtlich des Messinstruments, des Messvorgangs einschließlich der messenden Person sowie schließlich hinsichtlich der gemessenen Probe bzw. der untersuchten Person: Auf jeder dieser Ebenen kommt es immer zwingend zu Messfehlern. Je nach Qualität der Messinstrumente- und Verfahren, nach dem Ausbildungsstand der Messpersonen und der Konstitution und Mitarbeit der untersuchten Personen sind diese Messfehler größer oder kleiner. Ganz vermeiden lassen sie sich nie. Dieses Maß unvermeidlicher Messfehler ist daher auch in medizinischen Gutachten für Gerichte immer offen zu legen und bei jeder Messung durch entsprechenden Sicherheitszuschlag zu berücksichtigenden (Beispiel bei der in orthopädischen Gutachten zugrunde gelegten Neutral-Null-Methode: plus/minus 10 Grad Winkelabweichung).

 

Zudem ist jedes Messverfahren regelmäßig immer nur auf eine spezifische Frage zugeschnitten und für andere Fragestellungen daher sinnlos oder sogar irreführend. In der Sprache der Medizin wird dies mit dem Maß dafür ausgedrückt, wie sensitiv bzw. wie spezifisch die jeweilige Messmethode für eine in Betracht gezogene Erkrankung ist.

 

Schließlich müssen medizinische Messwerte immer mit Blick auf die sogenannte Prävalenz, dh die Normalverteilung des Messwerts in der gesunden Durchschnittsbevölkerung gewichtet und interpretiert werden. Denn sonst kommt es durch die o.g. unvermeidlichen Messfehler - ebenso unvermeidlich - zur Fehlinterpretation der Messwerte und zu medizinischen Fehlurteilen. Diese allgemeinen Aussagen zur (Nicht-)Eignung und zur relevanten Validität der jeweiligen Messverfahren der Medizin sind auch keine allgemein bekannten Tatsachen, die ein Gericht ohne sachverständige Hilfe einordnen kann oder darf – ganz gleich wie viel tatrichterliche Erfahrung ein Richter in medizinischen Fragen haben mag.

 

Bei allen Begutachtungen, bei denen es um eine retrospektive Analyse geht, hat der Sachverständige zudem zu bedenken, dass nicht der Befund zum Untersuchungszeitpunkt ausschlaggebend ist. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, aufgrund aller erreichbaren Informationen retrospektiv eine möglichst sichere Diagnose für den zu beurteilenden Zeitraum zu stellen. Bei allen Begutachtungen, die prognostische Überlegungen beinhalten, muss anhand der zum Untersuchungszeitpunkt erhobenen Befunde umgekehrt eine möglichst sichere Prognose für die Zukunft erstellt werden.

 

Bei der abschließenden sozialmedizinischen Beantwortung der Beweisfragen ist ferner auf die Frage einzugehen, ob alternativ zu medizinischen Ursachen auch andere, z. B. im sozialen Bereich oder in der Beziehungswelt liegende Ursachen für die geklagten Beschwerden in Frage kommen. Darüber hinaus ist abzuklären, ob Erkrankungen vorliegen, welche noch behandelbar sind und ggf. durch welche Therapien und / oder therapeutischen Maßnahmen und / oder Hilfsmittel sowie ob bzw. mit welchem genauen Ergebnis. D. h. es ist immer auch zu prüfen, ob die von der gesetzlichen Krankenversicherung für die betroffenen Leiden vorgesehenen Behandlungsmöglichkeiten und/oder Hilfsmittel innerhalb von sechs Monaten bei motivierter Mitwirkung eines betroffenen Patienten zu einer Heilung oder Linderung des betreffenden Leidens führen können. Für den Fall, dass sich eine solche Heilung oder Linderung allgemein nicht sicher ausschließen lässt, liegt - unabhängig von der Motivation des konkret untersuchten Klägers - ein sogenanntes Behandlungsleiden vor, das für die Feststellung eines sozialmedizinischen Dauerzustandes grundsätzlich außer Betracht bleiben muss. Nur dann also, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Zustand des Betroffenen auch bei optimaler Therapie unveränderbar ist, darf er als Dauerzustand bewertet werden.

 

Es ist schließlich darzulegen, ob bzw. inwieweit die getroffenen Aussagen auch dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutreffen, falls den Eigenangaben des Betroffenen nicht gefolgt werden kann. Denn auch insoweit ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit allein Sache des erkennenden Gerichts. Dem gegenüber ist es Aufgabe von sachverständigen Gutachtern, sich allein auf evidenzbasierte, d. h. wissenschaftliche vor Gericht anerkannte Messergebnisse zu stützen.

 

Sofern keine sichere Diagnose gestellt und/oder die Beweisfragen des Gerichts nicht sicher beantwortet werden können, ist darzulegen, ob sich die gestellte Beweisfrage des Gerichts anhand ergänzender weiterreichender Untersuchungsverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beantworten lässt, z. B. durch stationäre Beobachtung. Sollte dies aber nach dem heutigen Stand der medizinischen Erkenntnisse schlechthin unmöglich sein, so ist auch dies unter der genauen Angabe der Gründe darzulegen.

 

Der medizinische Sachverständige hat sich stets bewusst zu sein, dass auch eine solche Antwort im Sinne einer Nicht-Beantwortbarkeit der gerichtlichen Beweisfragen legitim – und sogar geboten sein kann, wenn die medizinische Wissenschaft nach heutigem Stand eben (noch) keine seriöse Antwort mit dem vom Gericht erfragten Gewissheitsgrad erlaubt. In einer solchen Antwort liegt im Übrigen für ein Gericht kein rechtliches Problem, weil durch die rechtlichen Regeln der (materiellen) Beweislast am Ende jede Frage vor einem Gericht rechtlich für den Urteilsspruch nach den Beweislastregeln entscheidbar ist. Der Sachverständige muss sich mit seinen Antworten daher immer auf dem wissenschaftlich fundierten Gebiet bewegen und darf nie jenseits davon Vermutungen anstellen. Auch nach persönlichen Meinungen oder Einschätzungen ist ein naturwissenschaftlicher Sachverständiger vor Gericht nie gefragt, sondern einzig und allein nach empirischen Messungen und naturwissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitsgraden.

 

4. Diesen grundlegenden Anforderungen an ein medizinisches Sachverständigengutachten genügt das neurologisch-psychiatrische Gutachten von T. nicht – und das hätte das SG auch erkennen können und müssen.

 

Unabhängig von den fehlenden gerichtlichen Vorgaben zum Tatgeschehen (dazu s. o.) springen hier gravierende und unmittelbar auch für jeden medizinischen Laien erkennbare Mängel des Gutachtens von T. ins Auge:

 

Das beginnt schon damit, dass er die Prüfung Identität der Klägerin anhand eines amtlichen Lichtbildausweises in seinem Gutachten nicht dokumentiert hat. Es ist daher schon nicht rechtssicher feststellbar, ob T. tatsächlich die Klägerin und keine andere Person untersucht hat.

 

T. hat sich ferner zu Unrecht schon im Ansatz mit seinen Untersuchungen und Antworten weitgehend auf das neurologisch-psychiatrische Fachgebiet beschränkt. Das hätte er aber angesichts seiner auch gegenüber dem Gericht ausdrücklich ins Feld geführten Zusatzqualifikationen Psychotherapie, Schmerz- und Rehabilitationsmedizin nicht tun dürfen. Gerade die Rehabilitationsmedizin umfasst – genauso wie die Sozialmedizin – als sog. Brückenfach die ganzheitliche Beurteilung eines Menschen mit allen Ressourcen und Restriktionen, die sich aus dessen konkreter gesundheitlich-seelischer Konstitution ergeben (vgl. Richtlinien Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin und Rehabilitationsmedizin abrufbar zB unter https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2020/wbo/wbo-2020-zw-46-sozialmedizin.pdf und https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/25-physikalische-rehabilitative-medizin-2012.pdf ). Daraus folgt, dass die Rehabilitationsmedizin alle Funktionssysteme des Menschen abdeckt und eben nicht nur Gehirn, Nerven und Psyche, auf die sich ein Neurologe und Psychiater in seinen Antworten ggf. beschränken darf.

 

T. hätte also die ihm vom SG gestellten Fragen auch bezüglich der körperlichen Erkrankungen der Klägerin ebenso umfassend beurteilen müssen wie die im engeren Sinne neurologisch-psychiatrischen Fragen.

 

Insoweit fehlt es schon an einer hinreichenden Erhebung der Krankheitsgeschichte. T. hat die Vorerkrankungen der Klägerin nicht sorgfältig erfragt. Nur so ist erklärbar, dass er ihr Analvenenthrombose in seinem Gutachten nicht zunächst vom rehabilitationsmedizinischen Fachgebiet ausgehend körperlich beurteilt und den entsprechenden viszeralchirurgisch-proktologischen Befund nicht mitgeteilt hat. Nichts erfragt hat T. auch zur kardiologischen, orthopädischen, schmerzmedizinischen, gynäkologischen und zur gastroenterologischen Vorgeschichte der Klägerin. All das aber wäre hier rehabilitations- und sozialmedizinisch zwingend erforderlich gewesen. Nur so nämlich ist feststell- und ggf. ausschließbar – ob die von der Klägerin geklagten Beschwerden ggf. (auch) etwas mit den auf diesen Fachgebieten liegenden nicht-schädigungsbedingten Ursachen zu tun haben (zB die körperlichen Folgen der Analvenenthrombose und/oder einer Fibromyalgie, Herzrythmusstörungen, Wechseljahre, Schiliddrüsenfehlfunkton, Nebenwirkungen der Cannabis-haltigen Medikamente etc.).

 

Auch der eigene neurologisch-psychiatrische Befund, den T. selbst erhoben hat, ist unvollständig und zum Teil gerichtlich unverwertbar. Das betrifft nicht nur die lediglich erfragten und nicht selbst von T. bzw. von dessen Hilfspersonen gemessenen Angaben zu Größe und Gewicht der Klägerin, sondern selbst die Messwerte, auf sich T. bzgl. der von ihm selbst angenommenen Erkrankungen ausdrücklich stützt.

 

Ganz generell gilt nämlich für das psychiatrische Gutachten nach dem Stand der einschlägigen Leitlinien (AWMF-Register Nummer 051-029 überarbeitete Fassung von 12/2019), das bei der gutachterlichen Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen eine Beschwerdevalidierung grundsätzlich dazu gehört. Immer muss der psychiatrische Facharzt dabei jede ernstlich in Betracht kommende körperliche Ursache psychischer Beschwerden vorab sicher ausschließen, weil es sonst zu schwerwiegenden Fehldiagnosen kommt (Fehldeutungen von körperlichen Symptomen als vermeintlich psychisch/psychiatrisch). Das gilt auch hier.

 

Hinsichtlich der Analvenenthrombose geht T. – ohne irgendeinen Befund dazu erhoben oder beigezogen zu haben oder auch nur eine Diagnose zu nennen – offenbar von einer psychosomatischen Folge-Erkrankung aus. Zur körperlichen Befundlage der Fibromyalgie, die die Klägerin angibt, sagt T. gar nachts, ebenso wenig zu den Bandscheibenvorfällen der Klägerin. T. hat auch insoweit keinen Befund erhoben oder dokumentiert. Eine Überprüfung der Bewegungsmaße der Wirbelsäule der Klägerin nach der Neutral-Null-Methode fehlt ebenso wie die Überprüfung der sog. Tenderpoints (Druckpunkte) die zur Absicherung der Diagnose bei der Fibromyalgie getestet werden können (vgl. Leitlinien Fibromyalgie AWMF-Register Nr. 145/004 Klasse: S3, Stand 3/2017).

 

Ebenso fehlt ein Blutbild oder eine Haarprobe der Klägerin mit der Messung der von ihr nach eigenen Angaben eingenommenen Medikamente.und von deren Abbauprodukten. T. legt auch nicht dar, warum er auf die entsprechenden Befunde oder Prüfungen verzichtet hat und warum er sie offenbar für nicht erforderlich hielt. Das aber wäre das Mindeste gewesen, um seine Gedanken für das Gericht (und für die Beteiligten) insoweit nachvollziehbar zu machen.

 

Ferner fehlt es auch bezüglich der von der Klägerin angegebenen Angststörung an einer Überprüfung der Herzfunktion, an die in diesem Zusammenhang nach den o.g. Leitlinien immer im Sinne einer Differenzialdiagnose zu denken ist, weil insbesondere auch Herzrythmusstörungen zu Angstzuständen führen können. Das Mindeste, was auch ein nicht-kardiologischer medizinischer Sachverständiger in einem solchen Fall zu tun hat, ist bei der allgemeinen körperlichen Untersuchung den Blutdruck und den Herzschlag durch Abhorchen zu überprüfen und den Körper des Probanden auf etwaigen auffällige Anzeichen von Herzschwäche wie zB sichtbare verdächtige Ansammlungen von Körperflüssigkeiten zu untersuchen (um dann ggf. ein kardiologisches Konsil zu veranlassen, falls keine aktuellen kardiologischen Befunde dokumentiert sind).

 

Die Messung des Blutdrucks und Pulses zu Beginn und zu Ende einer gutachterlichen Untersuchung nebst Temperaturmessung erfüllt darüber hinaus die wichtige Funktion auszuschließen, dass die Probanden später sonst gegen die Verwertung des Gutachtens einwenden können, sie seien an dem betreffenden Tag der Untersuchung akut (mit Fieber o.ä.) erkrankt gewesen. Das nämlich geschieht nach den gerichtlichen Erfahrungen mittlerweile sonst immer öfter, gerade dann, wenn das Gutachtenergebnis den Betroffenen missfällt.

 

Desgleichen fehlt eine Analyse der Blut- und Urinwerte der Klägerin, anhand derer überprüfbar gewesen wäre, ob und ggf. welche Medikamente oder sonstigen Substanzen sie tatsächlich nimmt bzw. zum Untersuchungszeitpunkt im Körper hatte und welche Auswirkungen diese Stoffe auf die in Rede stehenden Erkrankungen ggf. haben. Gerade die nachgewiesene langfristige Einnahme von Medikamenten mit belastenden Nebenwirkungen (wie zB einem Fahrverbot) ist im Übrigen bei der gutachterlichen Untersuchung immer ein gutes Indiz für tatsächlich bestehende Beschwerden, die sich sonst nur kaum messen lassen wie zB Schmerzen .

 

Es wäre also hier also erforderlich gewesen, für Laien nachvollziehbar zu erklären, warum T. Messwerte insbesondere auf viszeralchirurgischem, orthopädischem, kardiologischem, gynäkologischem, gastroenterelogischem und pharmakologischem Fachgebiet im Fall der Klägerin für überflüssig hielt und in seinem Gutachten darauf verzichtete

 

Überhaupt fehlt es im Gutachten von T. an einer gründlichen sozialmedizinischen körperlichen Untersuchung der Klägerin von Kopf bis Fuß. Eine solche gründliche körperliche Untersuchung ist aber für jedes sozial- oder rehabilitationsmedizinische Haupt-Gutachten nach den VMG immer verlangt – und zwar unabhängig von der weitern Fachrichtung des Haupt-Gutachters.

 

Stattdessen finden sich im Gutachten von T. eine Vielzahl von Untersuchungen des neurologisch- psychiatrischen Fachgebiets, deren Bedeutung für die gerichtlichen Beweisfragen er aber weder erklärt noch hinsichtlich ihrer Messgenauigkeit, Belastbarkeit und Fälschungssicherheit für das Gericht und die Beteiligten hinreichend erläutert. Die Vielzahl dieser Testungen erzeugt dabei auf den ersten Blick zwar den Anschein großer wissenschaftlicher Genauigkeit. Es ist aber zu berücksichtigen, dass diese Testverfahren im Wesentlichen nur auf gutachterlich unüberprüfbaren Eigenangaben des Probanden beruhen und damit keine fälschungssicheren Aussagen erlauben.

 

Das gilt jedenfalls für die nachstehenden von T. verwendeten Testungen, angefangen vom Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R Fahrenberg 2001), den Mehrfach-Wortschatz-Intelligenztest (MWI), das Beck´sche Depressions-Inventar (BDI), den Rey-Memory-Test (Rey 1958), die deutsche Version des Self-Report-Symptom Inventory (SRSI) bis zum Mini-IDF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Beeinträchtigungen. Die insofern im Gutachten von T. widergegebenen Erläuterungen enthalten nämlich lediglich allgemeine Beschreibungen dieser Tests, aber keine Daten zu ihrer Messgenauigkeit, Belastbarkeit und Fälschungssicherheit. Das aber wäre nach dem allgemeinen Prinzip jeder wissenschaftlich redlichen Vorgehensweise zwingend erforderlich gewesen, um das Gericht in die Lage zu versetzen, sich auf der Grundlage des Gutachtens ein eigenes Urteil zu bilden. Die allgemeinen Ermittlungen des erkennenden Gerichts zu Qualitätsanforderungen sozialmedizinischer Gutachten, auf die insofern Bezug genommen wird, haben insofern ergeben, dass der Messfehler der o.g. Messverfahren erheblich ist und ihre Ergebnisse daher oft nur eine Scheingenauigkeit vorspiegeln. Auch bezüglich der Hamilton Depressionsskala, auf die sich T. stützt, haben die allgemeinen Ermittlungen des erkennenden Gerichts ergeben, dass der Fremdbewertungsanteil dieser Skalen nur eine sehr grobe und ungenaue Messung erlaubt, da die insofern als Messwert herangezogene persönliche Einschätzung des individuellen Gutachters naturgemäß ebenfalls nicht objektiv ist, sondern subjektiv gefärbt bleibt.

 

Dabei sind gerade bei psychologischen Tests, die wie die oben genannten allein oder überwiegend auf Eigenangaben der Probanden beruhen, noch über die Frage der Messgenauigkeit hinaus weitere zusätzliche Bedingungen wichtig. Zum einen nämlich muss der Sachverständige dem Gericht das jeweilige Messverfahren (also insbesondere die dabei verwandten Fragen) so genau erklären, dass das Gericht selbst überprüfen kann, ob bei dem jeweiligen Test die fundamentalen rechtsstaatlichen Regeln beachtet werden, also insbesondere keine Suggestivfragen verwandt werden. Diese machen die Ergebnisse derartiger Test nämlich sonst uU unverwertbar (vgl. näher Bender/Hächer/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht 5. Auflage 2021, Randnummern 1008 ff).

 

Zum anderen muss auch (und gerade) ein medizinischer Sachverständiger, der psychologische Testungen verwendet (und dabei wie T. als Neurologe und Psychiater über keine gerichtsbekannte psychologische Zusatzqualifikation verfügt) nachprüfbar dokumentieren und in seinem Gutachten für das Gericht und für die Beteiligten erläutern, ob die von den Entwicklern der jeweiligen Tests definierten Voraussetzungen der Testung nach den Maßstäben der psychologischen Wissenschaft von ihm genau eingehalten wurden, also zB die bestimmungsgemäßen Zeitvorgaben sowie Maßnahmen zum Schutz der Testung vor einer Beeinflussung durch Dritte, ferner Vorgaben für die  Ausbildung bzgl. der testenden Person und schließlich die Vorgaben für die wissenschaftlich korrekte Auswertung sowie Einordnung der Messergebnisse lege artis.

 

Die allgemeine Approbation als Arzt bzw. die Qualifikation als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie reicht dazu für psychologische Testungen in Gerichtsgutachten nämlich nicht aus (ebenso wenig wie ein allgemeiner psychologischer Studienabschluss). Vielmehr bedarf es für den Einsatz psychologischer Testungen zu Zwecken gerichtlicher Gutachten insoweit einer nachgewiesenen Qualifikation in forensischer Psychologie. Das hat die Sachverständige Dr. Brockhaus in den allgemeinen Ermittlungen des erkennenden Gerichts zu Qualitätsanforderungen für sozialmedizinische Gutachten überzeugend dargelegt. Auf ihre Ausführungen wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen.

 

Entsprechende Angeben fehlen im Gutachten von T. bezüglich sämtlicher von ihm verwandter Testmethoden und auch zu seiner eigenen Person. Er hat das auch im Berufungsverfahren trotz ausdrücklicher Nachfrage des erkennenden Gerichts nicht ergänzt. Sein Gutachten ist daher auch insoweit weder nachvollziehbar noch verwertbar.

 

Das gilt schließlich auch für die Epikrise bzgl. der Kausalitätsfrage im Gutachten von T.. Denn auch insoweit fehlt es an praktisch allem, was ein seriöses psychiatrisches Gutachten – mindestens – leisten muss. Hier hätte T. nämlich Folgendes ausführlich abwägen und darlegen müssen:

 

a) in welchem Gesundheitszustand sich die Klägerin befand, bevor das schädigende Ereignis auf sie einwirkte,

b) in welchem Gesundheitszustand sich die Klägerin unmittelbar nach dem schädigenden Ereignis befand (möglicher Erstschaden),

c) in welchem Gesundheitszustand sich die Klägerin nach dem schädigenden Ereignis auf Dauer, d.h. für mindestens 6 Monate befand (möglicher Dauerschaden),

d) in welchem Gesundheitszustand sich die Klägerin unter In-Anspruch-Nehmen der medizinisch gebotenen und nicht mit unzumutbaren Nebenwirkungen verbundenen Therapien voraussichtlich auf Dauer weiterhin befinden wird (Prognose),

e) welche Faktoren generell geeignet sind, die bei der Klägerin festgestellten Erkrankungen hervorzurufen (unter Angabe der entsprechenden wissenschaftlichen Datenlage dazu),

f) ob das streitbefangene schädigende Ereignis konkret geeignet ist, die bei der Klägerin seit dem schädigenden Ereignis festgestellten Erkrankungen hervorzurufen,

g) ob vor oder nach dem schädigenden Ereignis andere (nicht mit dem schädigenden Ereignis in Zusammenhang stehende) konkret festgestellte Faktoren auf die Klägerin eingewirkt haben oder vorliegen (zB Veranlagung), die geeignet sind, die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen hervorzurufen,

h) welchen Verursachungsbeitrag die jeweiligen o.g. Faktoren mit welcher Wahrscheinlichkeit nach dem Stand der heutigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Erkrankung der Klägerin beigetragen haben oder

i) ob bzgl. der Erkrankung der Klägerin in abstrakter Betrachtung, dh nicht nur bezogen auf die Klägerin sondern auf alle von dieser Erkrankung betroffenen Menschen, generell in der medizinischen Wissenschaft unklar ist, wodurch sie hervorgerufen wird sowie – für den Fall dass dies so ist – ob bzgl. des streitbefangenen schädigenden Ereignisses eine wissenschaftlich ernst zu nehmende, evidenzbasierte kausale oder empirisch wissenschaftlich seriös mit Daten untermauerte Theorie existiert, die die Kausalität zwischen einem solchen schädigenden Ereignis und einer solchen Krankheit generell begründet (sog. Kann-Versorgung).und schließlich

j) ob im weiteren Verlauf des Lebens der Klägerin andere Ursachen in den Vordergrund getreten sind, die die Fortdauer der ursprünglich durch das schädigende Ereignis hervorgerufene Erkrankung verursachen (Verschiebung der Wesensgrundlage).

 

Auf keine dieser Fragen liefert das Gutachten von T. auch nur ansatzweise eine nachvollziehbare Antwort.

 

Ferner unterliegt T. in seinem Gutachter ersichtlich mehreren weiteren Denkfehlern: So nimmt er zum einen offenbar an, er müsse nur die von ihm bejahten neurologisch-psychiatrischen Diagnose der Klägerin gemäß den bindenden Vorgaben der WHO qualifizieren und quantifizieren sowie codifizieren. Das ist nicht richtig. Vielmehr sind im sozialmedizinischen Gutachten nach den VMG alle diskutierten Diagnosen nach den Vorgaben der WHO und den geltenden Leitlinien zu benennen und anzuwenden, insbesondere hinsichtlich der vom Gutachter ggf. angenommenen Vor- und/oder Nachschäden.

 

Zum zweiten nimmt T. offenbar an, für die anspruchsmindernde Berücksichtigung eines Vor- oder Nachschadens zulasten eines Probanden reiche es bei der Kausalitätsbeurteilung aus, dass ein solcher Vor- oder Nachschaden nach dem zugrunde liegenden Geschehensablauf als bloße Möglichkeit in Frage kommt – so also bei der Klägerin eine Vorschädigung aufgrund ihrer Analvenenthrombose, ferner durch eine Schädigung der Klägerin durch eine (zwar in den polizeilichen Vernehmungen geschilderte aber von der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht Köln nicht für glaubhaft erachtete) Bedrohung der Klägerin durch den Täter, die kurz vor dem Schlag gegen die Partnerin der Klägerin erfolgt sein soll sowie durch Belastungen der Klägerin durch eine angeblich suboptimale Behandlung ihrer Partnerin im Krankenhaus und durch die Polizei sowie die nachfolgenden Gerichtsverfahren mit Enttäuschungen über deren Ausgang.

 

Zu all diesen von T. angenommenen Vorschäden fehlen belastbare Anknüpfungstatsachen in Form gerichtlicher Feststellungen. Derartige Belastungen mögen zwar – wenn sie denn vorgelegen haben sollten - nach allgemeiner Lebenserfahrung als Anlass oder Ursache vorbestehender psychischer Dauerschäden bei der Klägerin hypothetisch möglich sein. Belegt sind sie jedoch nicht. Das gilt im Übrigen auch hinsichtlich der entsprechenden medizinischen Befundlage.

 

Für die Annahme einer Vor-oder Nachschädigung der Klägerin reicht aber die hypothetische Möglichkeit nicht aus. Vielmehr muss auch ein solcher Vor-oder Nachschaden, wenn er denn anspruchsmindernd berücksichtigt werden soll, wie T. das in seinem Gutachten getan hat, mit derselben Gewissheit bewiesen sein, wie der in Rede stehende Dauerschaden, den das schädigende Ereignis verursacht hat – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Alles andere wäre reine Spekulation. Bloße Vermutungen aber reichen zur Anspruchsminderung nach der im sozialen Entschädigungsrecht auch des § 1 OEG geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung nicht aus. Sonst nämlich könnte praktisch jeder Anspruch auf soziale Entschädigung durch reine Hypothesen alternativer Ursachen zunichte gemacht werden.

 

T. hätte also anstelle seiner spekulativen Ausführungen zu Vor-oder Nachschäden der Klägerin harte Daten, Zahlen und Fakten liefern müssen, anhand derer sich eine solche Vor-oder Nachschädigung abgrenzbar und sicher feststellen lässt. Spätestens dafür aber hätte er die entsprechenden Vorbefunde vollständig beiziehen und die Befunde sowie die Diagnosen sachverständig überprüfen sowie um gerichtliche Klärung der Anknüpfungstatsachen bitten müssen Das hat er aber nicht getan, obwohl es dazu selbst für ihn als Arzt in der Untersuchung naheliegende Ermittlungs- und Untersuchungsmöglichkeiten  gab– so z.B. für die Fibromyalgie eine Überprüfung nach der entsprechenden  die Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen („Leitlinie Schmerzbegutachtung“ 5. Version 2023 AWMF-Registernummer 187-006)., die. T. als Schmerzmediziner eigentlich bekannt sein müsste. Gleiches gilt hinsichtlich der etwaigen psychischen Folgen der Analvenenthrombose, bei der es insbesondere auf die vollständige Primär-Dokumentation der entsprechenden Behandlung, ankommt, sowie hinsichtlich der Psyche die Primärdokumentation aller Psychotherapien, denen sich die Klägerin unterzogen. Ebenso unverzichtbar ist die Kenntnis aller betriebsärztlichen Untersuchungen, die die Klägerin als Angehörige der Sicherheitskräfte bzw. später der Werksfeuerwehr durchlaufen haben muss und die sich mit Sicherheit in ihrer Personalakte finden. Nach alldem hat T. nicht einmal gefragt, geschweige denn eigene Befunde dazu erhoben. Auch mit den wenigen Fremdbefunden, die tatsächlich in den Akten vorhanden sind, setzt sich T. nicht näher auseinander.

 

So sagt er nichts dazu, dass die psychosomatische Klinik, in der die Klägerin über viele Wochen stationär behandelt wurde, einerseits eine ganz andere Diagnose stellte, als die, die T. für richtig hält, und andererseits bei Entlassung aus der Klinik ausdrücklich eine wieder hergestellte uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit der Klägerin dokumentierte.  

 

Auch das wichtigste Eingangskriterium eines Schockschadens hat T. in seinem Gutachten i.Ü: nicht medizinisch sorgfältig geprüft. Voraussetzung eines Schockschadens beim Sekundäropfer einer Gewalttat ist nämlich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in medizinischer Hinsicht eine durch das Erleben eines Angriffs auf einen Dritten entstandene unmittelbare erhebliche seelische Erschütterung, die zu einer dauerhaften seelischen Erkrankung geführt haben muss.

 

Das bislang aktenkundige Bild von der Situation unmittelbar nach dem Angriff des Täters ist also insoweit unklar und weiter aufklärungsbedürftig. Denn der Bericht der Rettungssanitäter, die die Klägerin zusammen mit ihrer Partnerin ins Krankenhaus brachten, wurde weder vom SG noch von T. beigezogen. Die Klägerin hat zwar in einer späteren polizeilichen Vernehmung davon gesprochen, dass sie sich als Folge des Angriffs auf ihre damalige Freundin in einem Schock befunden habe und außerstande gewesen sei, die Polizei oder Hilfe zu holen. Die Klägerin hat in derselben Vernehmung aber auch geschildert, dass sie, nachdem ihre Freundin den Notrufknopf ihres Handys gedrückt hatte, die erforderlichen Angaben gegenüber der Leitstelle gemacht hat, die dazu führten, dass der Rettungswagen kam. Gerade hier klafft also im Gutachten T. eine wesentliche Ermittlungslücke – und zwar auch in medizinischer Hinsicht. T. hat insoweit aber nichts zur Aufklärung bzw zur Information des Gerichts über ergänzenden Aufklärungsbedarf unternommen.

 

Stattdessen hat er in seinem Gutachten darauf abgestellt, dass ihm die Klägerin berichtet habe, ihre erheblichen Beschwerden hätten erst richtig begonnen, nachdem sie einige Wochen später bei einem Einsatz als Rettungssanitäterin einen Notfall mit viel Blut versorgen musste, woraufhin ihre Krankschreibung von rund anderthalb Jahren erfolgt sei. Welcher Art dieser Einsatz war, wer die Klägerin mit welcher Diagnose krank geschrieben hat, welche betriebsärztliche Befunderhebung ihrer anschließende Versetzung in den vorbeugenden Brandschutz zugrunde liegen, hat T. nicht aufgeklärt ebenso wenig wie die Frage, wie es zu erklären ist, dass die Klägerin nach dem hier streitbefangenen Angriff auf ihre damalige Freundin zunächst noch mehrere Wochen im aktiven Brandschutz den Dienst verrichtet hat.

 

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen und vielfältigen Belastungen, die auf die Klägerin einwirkten, handelt es sich um eine in medizinischer Hinsicht extrem komplexe Fragestellung.

 

Es ist einerseits denkbar - aber nicht sicher -, dass die Klägerin am 17.5.2013 bereits vorgeschädigt war durch seelische Erkrankungen als Folge einer Analvenenthrombose und/oder einer Fibromyalgie mit Bandscheibenvorfällen, wie es T. offenbar annimmt. Es ist dabei auch denkbar - aber ebenso wenig sicher -, dass die Klägerin schon durch einen (bislang nicht gerichtlich festgestellten) ersten Angriff des Täters, bei dem dieser ihr selbst ein Messer an den Hals hielt nachdem er sie gegen ihren Willen an die Brust gefasst hatte schon eine seelische Erkrankung erlitt – T. sagt aber auch insoweit nichts Näheres zu Art und Umfang dieser Erkrankung. Es mag dann weiter so sein, dass die Klägerin dann (erst) durch den Angriff auf ihre damalige Freundin so stark erschüttert wurde, dass es zum Eintritt einer richtunggebenden Verschlimmerung der o.g. vorbestehenden seelischen Dauerleiden kam (welcher genauen Art diese auch immer gewesen sein mögen)  – allerdings zunächst unbemerkt und mit fortbestehender Dienstfähigkeit der Klägerin, bis dann schließlich der spätere belastende Rettungseinsatz mit dem Anblick blutender Verletzter nur noch sozusagen „der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte“ (und daher bei wertender Betrachtung unwesentlich war, wie T. offenbar in Bezug auf die heutige Dauererkrankung annimmt). Für eine solche Kausalkette,-  von der offenbar T. ausgeht – braucht es aber harte Daten und Befunde, die bislang alle fehlen.

 

Andererseits ist nämlich ebenso denkbar, dass die Klägerin durch die Vorerkrankungen der Analvenenthrombose und der Fibromyalgie gar nicht seelisch vorgeschädigt war – immerhin wurde sie trotz der von T. angenommenen Vorschädigungen erfolgreich für den Rettungsdienst ausgebildet, einschließlich einer Phase auf einer Intensivstation und dann  mit zwingend erforderlicher vorheriger (amts-)ärztlicher Prüfung ihrer körperlichen und seelischen Feuerwehrtauglichkeit über Jahre im Dienst einer Berufsfeuerwehr eingesetzt – so dass sie ggf. robust genug  war, um auch den (fraglichen ersten und sicheren zweiten) Angriff des Täters ohne seelischen Dauerschaden zu überstehen – und deswegen auch weiter ihren Dienst im aktiven Brandschutz versah – bis schließlich uU erst ein extrem belastender Einsatz der Klägerin ihre Dauerschädigung im Sinne einer wesentlichen Ursache auslöste. Auch für solche Feststellungen zur Kausalkette fehlt es aber bislang an Befunden und vor allem an einer genauen Kenntnis des betreffenden belastenden Rettungseinsatzes der Klägerin sowie der uU zuvor auf sie einwirkenden Vorbelastungen.

 

Schließlich ist auch denkbar – wie T. zusätzlich annimmt –, dass die späteren Enttäuschungen der Klägerin über die Behandlung ihrer damaligen Partnerin im Krankenhaus und bei der Polizei sowie die für sie enttäuschenden Ergebnisse der nachfolgenden Gerichtsverfahren zu der heute bestehenden seelischen Dauerschädigung der Klägerin führten. Das würde dann tatsächlich für eine vollständige oder teilweise Verschiebung der Wesensgrundlage und gegen einen fortbestehenden Schockschaden sprechen. Auch dazu fehlt es aber bislang an Befunden.

 

Auch erklärt T. denkgesetzlich nicht hinreichend nachvollziehbar, warum er in seinem Gutachten die eine der von ihm als vorbestehend angenommene Erkrankung der Klägerin als verschlimmert ansieht, die andere aber nicht. Daten oder Studien über den von ihm angenommenen Ausschluss der Möglichkeit einer längeren Latenz zwischen dem schädigenden Ereignis und der Fibromyalgie (so sein entsprechendes Hauptargument) nennt er nicht. Der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand zur Verursachung und zum Verlauf einer Fibromyalgie gehört aber nicht zu den allgemein oder gerichtlich bekannten Tatsachen. Die  Argumentation  von T. kann daher ohne entsprechende Quellen und Belege  gerichtlich nicht nachvollzogen werden.

 

Spätestens an dieser Stelle hätte T. daher klarwerden müssen, dass diese extrem komplexe medizinische Kausalitäts-Fragestellung ohne die gesamte Krankheitsgeschichte der Klägerin und insbesondere ohne die Primärdokumentation aller Therapien und die entsprechenden Berichte der Betriebsärztin über das betreffende Ereignis und die Krankschreibung der Klägerin unmöglich seriös zu beantworten ist. Davon hätte T. dem SG umgehend Meldung machen und die Beiziehung der entsprechenden Unterlagen vorschlagen müssen.

 

Die stattdessen von T. zugrunde gelegte Annahmen sind demgegenüber spekulativer Natur und entbehren einer hinreichenden medizinisch fundierten Grundlage.

 

Das aber hätte auch das SG seinerseits spätestens bei Eingang des Gutachtens von T. erkennen und Abhilfe schaffen müssen. Wie dargelegt, hätte es dazu ergänzend Befunde und Akten beiziehen und die Klägerin sowie deren Ehefrau als Auskunftsperson bzw. als Zeugin anhören müssen. Das gilt im Minimum zu den von der Klägerin vorgetragenen Einschränkungen ihres täglichen Lebens, weil sich nur so die für die Höhe des GdS streitentscheidende Frage nach der vorliegenden Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beurteilen lässt. Schließlich sind auch die Feststellungen über den Tagesablauf der Klägerin Anknüpfungstatsachen, für die es kein medizinisches Messinstrument gibt.

 

Dass die Beteiligten übereinstimmend auf die dazu erforderliche Zeugenvernehmung der Ehefrau der Klägerin verzichteten, ist i.Ü. keine Rechtfertigung dafür, dass das SG davon absah. Denn das SG hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und ist dabei an Beweisanträge der Beteiligten gemäß § 103 S. 2 SGG nicht gebunden. Schließlich dient die Amtsermittlung im sozialgerichtlichen Verfahrens nicht zuletzt auch den Interessen der Allgemeinheit an einem korrekten Sozialrechtsvollzug Da sich das SG aber stattdessen allein auf das lückenhafte und denkgesetzlich unzureichende Gutachtern von T. stützte, das es sich in vollem Umfang zu eigen machte (was nur bei einem perfekten Gutachten rechtlich nicht zu beanstanden ist), muss sich das SG auch dessen Verstöße gegen Denkgesetze und alle weiteren Mängel des Gutachtens von T. zurechnen lassen.

 

Auf der Grundlage des Gutachtens von T. war nach alledem eine gerichtliche Entscheidung nicht zu verantworten.

 

II. Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind wesentlich. Es kann auch vom erkennenden Gericht nicht ohne weitere Beweiserhebung in der Sache entschieden werden.

 

Dabei geht das erkennende Gericht von Folgendem aus:

 

Der tätliche Angriff, den der Täter zunächst noch gegenüber der Klägerin selbst ausführte, ist nicht (mehr) streitbefangen, da die Klägerin – anwaltlich vertreten – ihr Begehren auf die Folgen des späteren Angriffs auf ihre Partnerin und heutige Ehefrau beschränkt hat.

 

Bezüglich des allein noch streitbefangenen Angriffs gegen die Partnerin der Klägerin lässt sich zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auf Grundlage der bisherigen Ermittlungen nicht mit dem rechtlich erforderlichen Gewissheitsgrad feststellen, ob die Klägerin durch das Erleben des Angriffs auf ihre damalige Partnerin eine wesentliche Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes erlitten hat, der die Voraussetzungen erfüllt, die das BSG insofern zur – entsprechenden – Anwendung des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG aufgestellt hat: 

Das hängt allerdings nicht damit zusammen, dass der Täter wegen der späteren Einstellung des Verfahrens nicht rechtskräftig verurteilt wurde und auch nicht damit, dass in dem zuvor ergangenen Strafurteil des Amtsgerichts (wegen alkoholbedingter Einschränkung der Schuldfähigkeit des Täters) „lediglich“ auf eine Bewährungsstrafe von 9 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 StGB erkannt worden war. Der Beklagte nimmt insofern zu Unrecht an, dass es an einer schweren Gewalttat mit der Mindeststrafe eines Jahres fehle. Denn der Begriff der Verletzungshandlung ist in § 1 OEG eigenständig bestimmt. Eine strenge Bindung an die strafrechtliche Würdigung der Tat besteht daher nicht (BSG, Urteil vom 10.09.1997 - 9 RVg 1/96). Die Versorgungsverwaltung und die Sozialgerichte haben vielmehr unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung einer Tat zu entscheiden, ob es sich um eine Gewalttat iSd § 1 OEG handelt und wie schwer sie war (BSG, Urteil vom 15.10.1995 - 9 RVg 4/93; BSG, Urteil vom 15.10.1995-9 RVg 7/93).

Hier lässt sich sehr wohl mit dem für das OEG erforderlichen – sicheren - Gewissheitsgrad feststellen, dass eine schwere Köperverletzung gemäß § 226 ABs 1 Nr 3 StGB zu Lasten der damaligen Freundin der Klägerin vorlag. Das ist – entgegen der Annahme des SG – schon den Strafakten zu entnehmen, die im OEG-Verfahren eigenständig zu würdigen sind. Denn wegen rechtlicher Gleichwertigkeit der jeweiligen Tatmodalitäten gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB (1. Alternative: „Waffe“  bzw. 2. Alternative: „gefährliches Werkzeug“) kann hier  letztlich offen bleiben, ob der Täter einen Schlagring oder „nur“ einen regulären Ring als Tatwaffe benutzte, zumal in beiden denkbaren Varianten die Qualifikation des § 226 Abs. 1 Nr. 3 letzte Alternative mit einer Mindeststrafe einem Jahr von  erfüllt ist, weil das unmittelbare Tatopfer als Folge der Tat eine – vom Beklagten anerkannte – geistige Krankheit und dauernde Behinderung in Gestalt einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge der Tat erlitten hat. All das ist mit Gewissheit aufgrund der glaubhaften Bekundungen der im Strafverfahren als Zeuginnen gehörten Klägerin und ihrer Freundin sowie den Ausführungen des im Strafverfahren gehörten Rechtsmediziners sowie dem richterlichen Augenschein der in den Strafakten enthaltenen Bilder der Gesichtsverletzungen des unmittelbaren Tatopfers zu entnehmen. Da der Unmittelbarkeitsgrundsatz des Strafprozesses im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gilt, ist dazu keine erneute Beweisaufnahme erforderlich. Es kann insofern vielmehr auf die überzeugenden Feststellungen und die Beweiswürdigung des Amtsgerichts Köln Bezug genommen werden. Zu dieser Feststellung bedarf es keiner Beweiserleichterung iSd § 15 KOVVfG, weil schon die im Strafverfahren erhobenen Beweise in Gestalt der Zeugenaussagen der Klägerin, ihrer Partnerin und des im Strafverfahren gehörten Rechtsmediziners für die entsprechende richterliche Gewissheit ausreichen.

Damit sind die Eingangs-Voraussetzungen der vom Beklagten angeführten Weisungslage zur Anerkennung von Schockschäden bei Sekundäropfern grundsätzlich erfüllt. Auch die weiteren rechtlichen Eingangsvoraussetzungen der sog. Schockschadensrechtsprechung sind hier nach der gegenwärtigen Beweislage grundsätzlich sicher feststellbar.

Denn nach der entsprechenden Rechtsprechung des BSG sind mittelbar von einer Gewalttat Betroffene zwar nur unter weiteren sehr engen Bedingungen in den Schutzbereich des § 1 Abs. 1 OEG einbezogen (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R; Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 8/01; so nunmehr auch das Rundschreiben des BMAS vom 26.11.2002 - IVc 2-62039/3 – Bundesarbeitsblatt 2003, Heft 1, 111). Die in § 1 Abs 1 Satz 1 OEG angeordnete entsprechende Anwendung der Vorschriften des BVG sehen eine Entschädigung nämlich grundsätzlich nur für unmittelbare Schäden vor (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97). An dem Erfordernis der unmittelbaren Schädigung ist im Grundsatz auch für das OEG festzuhalten (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97). Daher können Schockschäden sogenannter Sekundäropfer, wie sie hier die Klägerin geltend macht, weiterhin nur ausnahmsweise als unmittelbare Schäden iSd § 1 OEG angesehen werden (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97).

Voraussetzung hierfür ist - ebenso wie bei Primäropfern - eine unmittelbare Schädigung, also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R; BSG, Urteil vom 10.12.2002 - B 9 VG 7/01 R;-, zuletzt BSG Beschluss vom 25.09.2017 - B 9 V 30/17 B). ). Bei Sekundäropfern ist insoweit an den das Primäropfer schädigenden Vorgang anzuknüpfen. Sie müssen also durch Wahrnehmung dieses Vorganges oder eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sein (BSG, Urteil vom12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R; BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 8/01 R). Darüber hinaus müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen zeitlichen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt. Umgekehrt muss der Mangel eines zeitlichen und örtlichen Zusammenhangs zu dem das Primäropfer schädigenden Vorgang nicht schaden, wenn das Sekundäropfer eine enge personale Beziehung zum Primäropfer hat (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R; BSG, Urteil vom 10.02.2002 - B 9 VG 7/01 R). Aufgrund personaler Nähe hat das BSG die Unmittelbarkeit jedenfalls bei einem nahen Angehörigen auch dann bejaht, wenn das Sekundäropfer erst später Kenntnis von der vorsätzlichen gewaltsamen Tötung des Primäropfers erhält und dadurch eine Schädigung erfährt (BSG, Urteil vom12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R). Ob für diese enge persönliche Nähe auch ein Liebesverhältnis ausreicht, das wie im Fall der Klägerin zur Zeit der Tat noch keine Ehe, Partnerschaft oder ein Verlöbnis war und auch keine nicht-eheliche Lebensgemeinschaft oder gemeinsame Elternschaft darstellte, hat das BSG zwar noch nicht entschieden. Hierauf kommt es aber – entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG – aber hier schon deswegen gar nicht an, weil die Klägerin unmittelbar Tatzeugin der Gewalttat im Sinne einer schweren Körperverletzung ihrer damaligen Partnerin war. Der erforderliche zeitlich-örtliche Zusammenhang liegt schon damit vor.

Entscheidend ist damit, was für unmittelbare Primär- und dauerhafte Sekundärfolgen durch die Wahrnehmung der schweren Körperverletzung ihrer damaligen Partnerin am 17.5.2013 bei der Klägerin eingetreten sind.

Denn in den Fällen des Schockschadens setzt sich der schädigende Vorgang in Bezug auf das Sekundäropfer zwar so lange fort, bis dieser Schock bei ihm unmittelbar beeinträchtigende Wirkungen entfaltet (BSG, Urteil vom 12.02.2003 - B 9 VG 2/02 R). Der Schock in diesem Sinne ist jedoch nur ein zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindender Wahrnehmungsvorgang und kein Dauerzustand, wie z.B. das Vorliegen von geänderten familiären Lebensumständen (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97). Ebenso wenig reicht es aus, wenn es bei einem Sekundäropfer zu einer initialen Schädigung erst aufgrund von Ereignissen gekommen ist, die das Primäropfer nach Abschluss des betreffenden schädigenden Vorganges erfasst haben (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 8/01 R).  Als "Schockschaden" in diesem Sinne ist demnach ein zu einem datierbaren Zeitpunkt ausgelöster, plötzlich eintretender Beginn einer psychischen Beeinträchtigung zu verstehen (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97), wobei die die sich anschließende psychische Gesundheitsstörung Dauercharakter in rentenberechtigendem Ausmaß - das heißt mit einem GdS von mehr als 20 - haben muss, um zu einer Rentenleistung zu führen (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 - 9 BVg 5/97). Nur durch ein zeitlich begrenztes Ereignis ausgelöste Schäden kommen mithin als Schockschäden in Betracht, nicht aber psychische Beeinträchtigungen, die aufgrund veränderter Lebensumstände - ggf allmählich – eingetreten sind.

Allerdings setzt der Schockschaden iSd § 1 OEG keinen pathophysiologischen Zusammenbruch voraus– das heißt in Form eines nach außen deutlich sichtbaren Kreislaufkollapses, der einer sofortigen medizinischen Behandlung bedarf. Entscheidend ist vielmehr, dass das belastende Ereignis im Ergebnis eine seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirkt (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R). Ausreichend ist es, wenn durch die entsprechende Nachricht ein - zunächst weitgehend symptomloses - psychisches Trauma eingetreten ist (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R).

Diese rechtlichen Vorgaben des BSG stellen höchste Anforderungen an die Präzision der medizinischen Feststellungen, gerade auf psychiatrischem Fachgebiet. Bloße Spekulationen oder Mutmaßungen genügen nicht, mögen sie auch noch so plausibel sein. Denn der Beweisgrad ist auch hier bezüglich der Erkrankungen der Strengbeweis, das heißt das Erfordernis der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit. Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Schädigungsfolge ist daher auch beim Schockschaden – wie auch sonst im Versorgungs- und Unfallversicherungsrecht - eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme (ICD-10/11; DSM IV/V) erforderlich. Auch der rechtlich erforderliche Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen der entsprechenden Schädigung und einer seelischen Krankheit kann mit nur dann zumindest im Sinne einer guten Möglichkeit bejaht werden, wenn nach dem aktuellen medizinischen Erkenntnisstand ein Schädigungsereignis der in Rede stehenden Art überhaupt allgemein geeignet ist, die betreffende Störung hervorzurufen.(so für das Unfallversicherungsrecht, das insofern denselben Grundsätzen wie das BVG folgt, der 2. Senat des BSG – Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R-).

Wie oben dargelegt, ist das Gutachten T.s für derartige Feststellungen keine tragfähige Grundlage. Das gilt auch für die ergänzende Stellungnahme T.s, die das erkennende Gericht im Berufungsverfahren von T. eingeholt hat. Denn auch darin ist T. nicht seriös auf die Komplexität der hiesigen Kausalitätsfrage eingegangen, ebenso wenig wie auf Qualitäts-Erfordernisse, die sich für seine Begutachtung nach den o.g. Kriterien ergeben. Vielmehr hat T. lediglich seine Ersteinschätzung pauschal bekräftigt (obwohl ihm dabei das Gutachten von C. vorlag).

Auch in den Verwaltungsakten findet sich zur medizinischen Beweislage nichts Verwertbares, weil der Beklagte für seine Entscheidungsfindung davon ausging, dass schon keine Tat vorlag, die die Anwendung der Grundsätze der Schockschadensentschädigung nach dem OEG rechtfertigt und daher keine medizinischen Ermittlungen durchgeführt hat.

Diese Ermittlungen müssen daher gerichtlich durchgeführt werden. Es handelt sich dabei um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG gebieten (so auch LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07 a. a. O.). Andernfalls bestünde nicht zuletzt die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden.

Das erkennende Gericht hat daher von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten sowie der Allgemeinheit an einer höchstrichterlichen Klärung der dabei streitentscheidenden Grundsatzfragen im entschiedenen Sinne durch Zurückverweisung bei gleichzeitiger Zulassung der Revision Gebrauch gemacht.

 

III. Anordnungen gemäß § 159 Abs. 2 SGG an das SG

Folgendes wird das SG nachzuholen haben (jeweils nach entsprechender Befreiung von Schweigepflichten seitens der Betroffenen, soweit erforderlich):

 

1. Beiziehen der Akten des gegen den Täter geführten Straf- und Zivilverfahrens vor dem Amts-bzw. Landgericht Köln,

2. Beiziehen der Schwerbehinderten- und Personalakten der Klägerin,

3. Beiziehen der OEG-Akten der Ehefrau der Klägerin als unmittelbar Geschädigter,

4. Anfordern der vollständigen Primärbefunde über die medizinischen Behandlungen und Therapien bzgl. aller vor und nach dem 17.5.2013 bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen, bei Unklarheiten und Lücken in diesen Dokumentationen Vernehmung der entsprechenden Ärzte/Therapeuten als Zeugen,

5. Anfordern eines vollständigen Leistungsverzeichnisses der Krankenversicherung der Klägerin über alle ihre gewährten Leistungen sowie eines unverschlüsselten Rentenversicherungsverlaufs der Klägerin,

6. Vernehmung der Klägerin zu ihrem üblichen Tagesablauf sowie zu den von ihr angegebenen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im täglichen Leben sowie zum gleichen Beweisthema Vernehmung der Ehefrau der Klägerin als Zeugin

7. Sodann Vorgabe von richterlichen Feststellungen zum Tatgeschehen und zum Tagesablauf der Klägerin als Anknüpfungstatsachen für ein gerichtliches Sachverständigengutachten gemäß § 106 Abs 2 Nr 4 SGG mindestens auf dem (Haupt-)Fachgebiet Psychiatrie (mit Zusatzqualifikation in Sozialmedizin oder gleichwertigem medizinischen Brückenfach) zu folgenden Beweisfragen auf Basis der VMG und dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft:

a) In welchem Gesundheitszustand befand sich die Klägerin bevor, das schädigende Ereignis (s.o. Anknüpfungstatsachen) am 17.5.2013 auf sie einwirkte (Beweisgrad: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

b) In welchem Gesundheitszustand befand sich die Klägerin unmittelbar nach dem schädigenden Ereignis am 17.5.2013 (Beweisgrad: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit),?

c) In welchem Gesundheitszustand befand/befindet sich die Klägerin nach dem schädigenden Ereignis auf Dauer, d.h. für mindestens 6 Monate – ggf. gestaffelt (Beweisgrad: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

d) In welchem Gesundheitszustand wird sich die Klägerin unter In-Anspruch-Nehmen der medizinisch gebotenen und nicht mit unzumutbaren Nebenwirkungen verbundenen Therapien voraussichtlich auf Dauer weiterhin befinden (Beweisgrad: überwiegende Wahrscheinlichkeit)?

e) Welche Faktoren sind generell geeignet, die bei der Klägerin festgestellten Erkrankungen hervorzurufen (Beweisgrad: überwiegende Wahrscheinlichkeit)?

f) Ist das streitbefangene schädigende Ereignis vom 17.5.2013 (s.o. Anknüpfungstatsachen) konkret geeignet, die bei der Klägerin seit dem schädigenden Ereignis festgestellten Erkrankungen hervorzurufen (Beweisgrad: gute Möglichkeit)?

g) Haben vor oder nach dem schädigenden Ereignis vom 17.5.2013 andere (nicht mit dem schädigenden Ereignis in Zusammenhang stehende) konkret festgestellte Faktoren auf die Klägerin eingewirkt haben oder liegen auf Dauer vor (zB Veranlagung), die geeignet sind, die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen hervorzurufen (Beweisgrad: gute Möglichkeit)?

h) Welchen Verursachungsbeitrag haben die jeweiligen unter Frage g) feststellbaren Faktoren mit welcher Wahrscheinlichkeit nach dem Stand der heutigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur den Erkrankungen der Klägerin beigetragen?

oder

i) Ist bzgl. der Erkrankung(en) der Klägerin in abstrakter Betrachtung, dh nicht nur bezogen auf die Klägerin sondern auf alle von diesen Erkrankungen betroffenen Menschen, generell in der medizinischen Wissenschaft unklar, wodurch sie hervorgerufen werden sowie – für den Fall dass dies so ist – existiert bzgl. des streitbefangenen schädigenden Ereignisses eine wissenschaftlich ernst zu nehmende Lehrmeinung, die die generelle Annahme einer solchen entsprechenden Verursachung evidenzbasiert kausal oder empirisch wissenschaftlich mit Daten aus repräsentativen Studien untermauert  (Beweisgrad: gute Möglichkeit)?

und schließlich

j) Sind im weiteren Verlauf des Lebens der Klägerin andere Ursachen in den Vordergrund getreten – ggf. mit welchem Verursachungsbeitrag und mit welcher Grad an feststellbarer Wahrscheinlichkeit- die die Fortdauer der ursprünglich durch das schädigende Ereignis hervorgerufene Erkrankung verursachen (Verschiebung der Wesensgrundlage)?

k) Verursachen die bei der Klägerin durch das schädigende Ereignis im Sinne der obigen Fragen ggf. auf Dauer hervorgerufenen Erkrankungen im Beruf der Rettungssanitäterin und/oder der Werksfeuerwehrfrau im vorbeugenden Brandschutz besondere berufliche Einschränkungen ggf. welche? (Beweisgrad: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit) Gehen sie dabei hinsichtlich des Berufsbildes von den Feststellungen des Bundesinstituts für Berufsbildung aus, abrufbar unter https://www.bibb.de/dienst/berufesuche/de/index_berufesuche.php/profile/apprenticeship/909089

 

Spätestens nach Eingang des Gutachtens wird das SG auch zu erwägen haben, ob es die vom gerichtlichen Sachverständigen gemachten Angaben nochmals mit denen behandelnder Ärzte abgleicht und diese dazu in einem gerichtlichen Termin persönlich anhört.

 

Dass ein solches Vorgehen – gerade auch als Korrektiv sonst drohender Fehlbeurteilungen komplexer seelischer Krankheitsbilder wie dem bei der Klägerin in Rede stehenden sinnvoll und geboten ist, belegen die Erfahrungen des erkennenden Gerichts, wie beispielhaft im Verfahren L 13 SB 21/23, das zuvor ebenfalls bei dem SG Köln anhängig war und dessen erstinstanzlicher Entscheidung ebenfalls ein – mangelhaftes - Gutachten desselben Sachverständigen zugrunde lag, dessen Fehlleistungen auch hier Gegenstand sind. Dieses Protokoll wird hier deswegen exemplarisch im Wortlaut wiedergegen:

 

  • Der Kläger, ausgewiesen durch seinen Personalausweis im Beistand von Herrn xxx der Berichterstatter weist darauf hin, dass sich die Beklagte wegen Erkrankung der Sachbearbeiterin entschuldigt habe.
  • als Zeuge Herr xxx

 

Der Kläger erklärt:

„Ich entbinde meinen Arzt, Herrn xxxxi, von seiner ärztlichen Schweigepflicht.“

Sodann wird der Zeuge xxxx hereingebeten und wie folgt vernommen:

 

Vorab überreicht er die vom ihm mitgebrachten Fremdbefunde und die den Kläger betreffende Korrespondenz aus der Patientendatei, die vom Berichterstatter zur Akte genommen wird, mit dem Versprechen, dem Zeugen die Originale nach Fertigung gerichtlicher Kopien zurückzureichen.

 

Sodann wird der Zeuge zunächst zur Person vernommen.

 

 

Zur Sache:

„Ich behandele den Kläger seit dem Jahr 2018, im Dezember. Der Kläger ist erstmals im Dezember 2018 zu mir gekommen, mit den Symptomen eines depressiven Syndroms. Das heißt Schwindel, Panikattacken - alles was dazu gehört. Der damals erhobene Befund war der, dass der Patient zu allen Qualitäten orientiert war, in der Stimmung depressiv bis subdepressiv und im Antrieb erheblich reduziert, der Affekt war verflacht. Es gab keinen Anhalt für eine Psychose und auch nicht zur Suizidalität. Bei der Erstbehandlung wurde die Möglichkeit und die Motivation des Patienten zu einer psychotherapeutischen Behandlung besprochen.

 

Gleichzeitig habe ich mit Einverständnis des Patienten Medikamente verordnet und zwar handelte sich um Citanopram 10 mg und Prometazin 10 mg, jeweils morgens und abends. Später habe ich die Medikation am Abend auf Metazapin verändert. Zunächst 15 dann 30 mg. Die erstmalige Änderung war im Dezember ´19. Das Metazapin ist ein a-typisches Antidepressivum und wird auch als Schlafmittel verwandt. Er hat mir auch von seinen Schlafproblemen berichtet. Zunächst war die Arbeitsdiagnose eine mittelgradige Depression mit akutem Zustand. ICDF 32.1, später dann F.33.1, was eine rezidivierende depressive Störung bedeutet. Die Möglichkeit einer Psychotherapie hat sich im Sinne einer niederfrequenten Psychotherapie, nicht im Sinne einer tiefenpsychologischen Therapie verwirklicht. Das führe ich selbst durch, denn ich bin selbst zugelassener Psychotherapeut. Das seit 32 Jahren. Ich möchte noch ergänzen, dass die Therapie deswegen niederfrequent durchgeführt wird, weil sich neurotische Anteile in seiner Krankheitsgeschichte nicht eruieren lassen und sie daher stützend durchgeführt wird. Es handelt sich nämlich um eine reaktive Depression als Reaktion auf die diversen Krankheiten und die damit zusammenhängenden Schmerzen, insbesondere und weitere Folgen, ebenfalls die familiären und sozialen Zusammenhänge. Ich beziehe mich auf die damals erhobene ausführliche Anamnese, wie sie auch in den Akten des Gerichts dokumentiert ist. Am Anfang fanden natürlich probatorische Sitzungen statt mit Fragestellungen, ob eine Therapie überhaupt möglich ist. Die stützenden Sitzungen muss man sich so vorstellen, als die Zeit vom 50 Minuten, die allerdings auch gesplittet werden kann, etwa alle 2 Monate bis einmal im Quartal. Zunächst wird der Status erhoben und dann das Gespräch geführt.“

 

Befragt zu seinem Eindruck vom Kläger hinsichtlich seiner Entwicklung erklärt der Zeuge:

„Ich würde sagen, es gab Phasen von Euphorie, vor allem, als der Kläger in einer neuen Beziehung war, zu Beginn. Diese Beziehung ist dann im Jahr 2020 allerdings auch schon schnell wieder auseinandergegangen. Zusammengekommen mit der neuen Partnerin - was auch eine längere Phase der Annäherung und auch mit Höhen und Tiefen war – ist der Kläger im Jahr 2020 und dann nach relativ kurzer Zeit schon wieder geschieden worden. Danach ging es ihm dann deutlich schlechter. Es ist allerdings nicht sicher zu sagen, was hier eigentlich Ursache und Wirkung ist. D. h. ob die Trennung Ursache der Verschlechterung war oder die Gesundheitssituation des Klägers als Ursache für die Trennung. Ich möchte noch dazu sagen, dass nach meinem Eindruck in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers eine Ambivalenz vorliegt, in dem Sinne, dass er sich einerseits sehr stark nach Verschmelzung und Nähe sehnt, dies aber andererseits nicht zulassen kann. D.h. dass ihm eine solche Nähe auch Angst macht. Was dann letztlich auch eine Abwehr der Nähe hervorruft bis hin zu einer Zerstörung der Beziehung.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Zustand des Klägers heute eher schlechter zu bewerten sei als zu Beginn der Behandlung erklärt der Zeuge:

„Ich würde sagen: eher schlechter. Dazu ist allerdings auch noch zu erwähnen, dass es im letzten Jahr beim Kläger einen Hörsturz gab. Ich habe hier notiert:  im März 23. Psychische Dekompensation. Die Kur, die der Kläger gemacht hat, war allerdings vorher. Ich habe den Kläger damals auch krankgeschrieben. Ich habe notiert, dass neben dem Hörsturz und Schwindel auch noch Halswirbelsäulenbeschwerden bestanden. Der Zustand hat sich dann etwas gebessert, allerdings ist nach meinen Unterlagen der Tinnitus gleichgeblieben. Später im Juli ist dann der Halswirbelsäulenbefund vom MRT gekommen und zwar ist das eine Arthrose.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters wie der Umstand zu werten sei, dass der Kläger trotz der beschriebenen Schwierigkeiten noch vollschichtig arbeitet, und ob die Arbeit ggf. eine schützende Funktion habe oder ob der Kläger auf Kosten der Gesundheit arbeite, erklärt der Zeuge:

„Zu bedenken ist, dass es sich damals um eine akute Situation handelte und der Kläger tatsächlich arbeitsunfähig war. Später ist er dann wieder arbeiten gegangen. Es hat sich eine gewisse Annäherung an die zweite geschiedene Ehefrau ergeben, sodass die beiden fast wieder zusammen sind. Das ist allerdings auch wechselhaft und schwierig. Es ist schwer einzuschätzen, ob es dem Kläger jetzt bessergeht. Es ist mal so, mal so. Der Kläger hat auch selbst erkannt, dass die Arbeit für ihn eine stabilisierende Funktion hat. Er hat mir berichtet, dass es ihm zuhause nicht bessergehe, dass er dort grübele und nicht Schlaf finde. Auch ist das alleine leben für ihn schwierig. Er lebt allerdings tatsächlich alleine und nicht mit der früheren Frau zusammen, sie sehen sich nur gelegentlich. Wie vorhin beschrieben, mit Blick auf die dargelegten Ausführungen zur Ambivalenz in der Persönlichkeit des Klägers hat diese Beziehung zugleich auch eine für ihn stabilisierende Funktion. Ich möchte allerdings nicht falsch verstanden werden in dem Sinne, dass der Kläger beziehungsunfähig sei. Zu bedenken ist auch, dass seine frühere Frau, von der gerade sprach, ihrerseits in ihrer Persönlichkeit nicht einfach ist.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Zeuge Zweifel daran habe, ob der Kläger die von ihm verordneten Medikamente nehme erklärt er:

„Ich habe daran keinen Zweifel. Er meldet sich regelmäßig, wenn die Medikamente verbraucht sind und nach meinem Eindruck nimmt er die regelmäßig.“

 

Der Zeuge fährt fort:

„Ich möchte noch ergänzen, dass ich natürlich auch Patienten habe, die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum Beispiel begehren, wo ich als behandelnder Arzt Zweifel am medizinischen Hintergrund habe. Bei dem Kläger ist es jedoch umgekehrt. Er ist immer wieder mit Beschwerden gekommen und hat keine entsprechenden Bescheinigungen verlangt. Nur dann wenn es gar nicht mehr ging, sich krankschreiben lassen und auch nur dann, wenn ich es ausdrücklich selber empfohlen habe. Ich habe keine Zweifel an dem, was er vorbringt auch nicht an der Objektivität seiner Beschwerden. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass er eher dissimuliert. Er hat erkannt, dass er ohne die Arbeit keine andere Perspektive hat und dass es ihm bessergeht, wenn er weiterarbeitet. Die Arbeit ist sozusagen für ihn eine wichtige psychische Prothese.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Kläger das Gutachten von Herrn T. mit ihm besprochen habe, erklärt der Zeuge:

„Er hat das mitgebracht und ich habe es kurz überflogen. Ich möchte hier keine Kritik am Kollegen üben, aber letztlich aus meiner Sicht als behandelnder Arzt ist es hinsichtlich der Beurteilung ein Unding, den Kläger so einzuschätzen. Mit Unding meine ich allerdings nur, dass es in der kurzen Zeit sehr schwierig ist, einen Probanden so einzuschätzen. Ich meine, dass es besser wäre, wenn die Probanden mehrere Male von den Gutachtern gesehen würden.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob es aus Sicht des Zeugen noch etwas Wichtiges zum Kläger und seiner Behandlung zu ergänzen gäbe, erklärt der Zeuge:

„Ja, das ist der Fall. Ich möchte noch aus den Gesprächen mit dem Kläger ergänzen, dass er sich sehr frustriert fühlt und auch nicht wertgeschätzt, vor dem Hintergrund, dass er seit seinem 18. Lebensjahr, seit er nach Deutschland kam, ununterbrochen arbeitet. Teilweise war auch eine Rückkehr in die Türkei ein Thema. Aber auch dort sieht er für sich keine Perspektive und es fehlt ihm an einer Wertschätzung.“

 

Auf Nachfrage des Klägerbevollmächtigten, ob dem Zeugen von Seiten des Klägers über Kontakte zu Arbeitskollegen oder sonstigen Bekannten oder Freunden berichtet wurde, erklärt der Zeuge:

„Nein. Nach meiner Einschätzung ist mit der Erkrankung auch ein erheblicher sozialer Rückzug verbunden, zumindest solche Tendenzen.“

 

Der Kläger erklärt, befragt vom Berichterstatter, ob das vom Zeugen soeben Gesagte auch seinem persönlichen Eindruck entspreche:

„Ja, das stimmt.“

 

Der Zeuge erklärt noch ergänzend und resümierend:

„In dem, was ich sagte, kommt auch die Resignation des Klägers zum Ausdruck, in dem Sinne, dass er es so empfindet nicht gesehen zu werden, auch im Vergleich zu anderen, die möglicherweise erheblich geringere Beschwerden haben und in ihren jeweiligen Anträgen auf Schwerbehinderung oder Sonstigen Erfolg haben.“

 

Die Erklärungen des Zeugen und des Klägers sowie seines Bevollmächtigten werden laut diktiert und genehmigt. Auf nochmaliges Vorspielen wird allseits verzichtet. Anträge auf Vereidigung des Zeugen werden nicht gestellt.

 

Der Berichterstatter weist darauf hin, dass die Erklärungen des Zeugen auch für ihn ausgesprochen aufschlussreich und glaubhaft erscheinen und einen anderes Bild vom Kläger ergeben.

 

Der Berichterstatter weist darauf hin, dass ein neues Gutachten vom Amts wegen eingeholt werden soll, weil das Gutachten von Herrn T. aus gerichtlicher Sicht nicht überzeugt. Auch die dort durchgeführten Testungen ergeben nur eine Scheinobjektivität und nach den glaubhaften Erklärungen des Zeugen ist ein zutreffendes Bild von der Persönlichkeit und der Erkrankung des Klägers bislang sachverständig nicht erhoben worden.

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters an den Kläger und den anwesenden Zeugen, ob zur Begutachtung ein Dolmetscher für die türkische Sprache hinzugezogen werden solle, erklärt der Kläger:

„Ich kann deutsch. Es ist nur manchmal so, dass ich auch auf Türkisch keine Worte finde. Das hat nichts mit der Sprache zu tun, ich brauche keinen Dolmetscher.“

 

Der anwesende Zeuge bestätigt, dass die Therapie ohne sprachliche Schwierigkeiten aus Sicht der deutsch-türkischen Sprachübersetzung durchgeführt werden könne.

 

Der Kläger erklärt, indem er den Berichterstatter anblickt:

„Manchmal möchte ich gar nicht leben, manchmal kann ich noch nicht mal oder möchte ich noch nicht mal sprechen.“

 

Abschließend macht der Berichterstatter zur vollständigen Erledigung des Rechtsstreits folgenden Vergleichsvorschlag:

 

Mit Blick darauf, dass die Erklärungen des gehörten Zeugen glaubhaft waren und auch der Kläger einen persönlich glaubwürdigen Eindruck macht, erscheint es dem Berichterstatter plausibel, dass beim Kläger tatsächlich eine erhebliche Einschränkung der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit in dem Ausmaß vorliegt, dass allein die Bewertung der psychischen Erkrankung mit einem Grad der Behinderung von 50 angemessen sein dürfte. Hinzu kommt, dass auch die Tinnitus-Erkrankung des Klägers, die sich nach den Erklärungen des gehörten Zeugen im letzten Jahr nach dem erlebten Hörsturz deutlich verschlechtert hat, wohl zu gering bewertet ist. Insoweit liegt auch noch kein gerichtliches Gutachten vor. Mit Rücksicht darauf, dass eine erneute gerichtliche Beweiserhebung durch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten sowie ein weiteres Hals-Nasen-Ohrenärztliches Gutachten unter Auswertung der vorhandenen Akten und Befunde aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens noch ein weiteres Jahr dauern würde und mindestens noch 5000 bis 6000 € kosten würde, regt der Berichterstatter an, dass die Beklagte beim Kläger mit Wirkung ab heutigen Tage, d. h. dem 19.01.2024, einen Gesamtgrad der Behinderung von 50 anerkennt und die Kosten der Beteiligten gegeneinander aufgehoben werden. „

 

An diesem Beispiel zeigt sich: Erst durch die unmittelbare Begegnung mit den betroffenen Menschen von Angesicht zu Angesicht ist es für das Gericht möglich, seiner Aufgabe gerecht zu werden, die Angaben eines Sachverständigen anhand externer Quellen zu überprüfen um zu einem eigenen Urteil zu gelangen (oder – besser noch -  zu einem sachgerechten Vergleichsvorschlag). Ein solches Vorgehen (das i.Ü. auch erhebliche Kosten einsparen kann) sollte daher sozialgerichtlicher Standard sein, und das nicht erst in der zweiten Instanz.

 

Dabei ist dem erkennenden Gericht bewusst, dass die hiermit verlangten tatrichterlichen Anstrengungen unter den erstinstanzlich in NRW üblichen Bedingungen mit einer Belastung von rund 600 Verfahren pro Richterstelle nicht zu leisten sind, zumal sich die Lage in der Sozialgerichtsbarkeit von NRW durch die Vorgabe einer weiteren Einsparung von 20 % des Personals seitens der Justizverwaltung weiter verschärfen wird. Die (bundes-)gesetzlichen Vorgaben der Aufklärung des Sachverhalts mit dem Ziel der Gewinnung einer an Sicherheit grenzenden Gewissheit sind aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für die Sozialgerichte maßgeblich – unabhängig von der jeweiligen Haushaltslage. Daher ist der Haushaltsgesetzgeber des Landes NRW stets verpflichtet, die Sozialgerichte auch in NRW so auszustatten, dass sie ihren bundesgesetzlichen Aufgaben in der vom Bundessozialgericht vorgegebenen Weise nachkommen können.

 

IV. Für die Zulassung der Revision ist die Erwägung maßgeblich, dass die Vorgaben, die dem SG hier gemäß § 159 Abs .2 SGG erteilt wurden, insofern grundsätzliche Bedeutung haben, als sie auf einer zum Teil von der bisherigen Gerichtspraxis abweichenden Auslegung revisiblen Rechts, nämlich der §§ 103, 106, 128 SGG beruhen. Dabei geht es um die Auslegung der vorgenannten Normen des Bundesrechts und die danach zugrunde zu legenden Maßstäbe für medizinische Sachverständigengutachten nach den VMG sowie ihre richterliche Vorbereitung und Auswertung. Betroffen sind dabei zwar insofern auch Tatfragen, für die grundsätzlich das erkennende Gericht in NRW als letzte Tatsacheninstanz zuständig ist. In Tatfragen von allgemeiner Natur im Sinne von Erfahrungssätzen oder von Qualitätsmaßstäben hat die höchstrichterliche Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte jedoch bereits klargestellt, dass auch ein Revisionsgericht hierzu – generellen – Beweis erheben darf und muss, wenn es dies für geboten erachtet. Dies ist so bereits durch den Bundesgerichtshof (BGH) in der mit den hiesigen Fragen vergleichbaren Frage nach den allgemeinen Qualitätsanforderungen an aussagepsychologische Gutachten geschehen und hat zu der Beweisaufnahme und dem Urteil des BGH vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – geführt. Mit dieser Rechtsprechung – der sich i.Ü. auch das BSG angeschlossen hat, vgl. zuletzt Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – hat der BGH  eine grundlegende Klärung der Qualitätsansprüche für psychologischen Gutachten herbeigeführt, ähnlich der Klärung, die hier mit diesem (und weiteren für die Zulassung der Revision vorgesehenen Parallelverfahren) angestrebt wird. Mit der Zulassung der Revision ist dabei gleichzeitig der Weg zu einer höchstrichterlichen Beurteilung der hier nach § 159 Abs 2 SGG formulierten Beweisfragen eröffnet.

 

Damit verbunden ist die Hoffnung, dass das BSG – soweit möglich -  generelle Vorgaben dazu macht, in welchen Fällen zur Vorbereitung eines Gutachtens die Primärbefunde beizuziehen und/oder die behandelnden Ärzte in verstärktem Maße persönlich zu hören sind, ggf. z.B. weil die Angaben aus den Behandlungskontexten zunehmend unzuverlässig (wozu allerdings bislang valide Daten fehlen, weswegen das erkennende Gericht die beabsichtige Befragung einer repräsentativen Gruppe von Sachverständigen beabsichtigt hatte, die hier jedoch bislang an der Gerichtsverwaltung von NRW scheiterte).

 

Dass das erkennende Gericht dabei den Weg der konsentierten Einzelrichtentscheidung gewählt hat, hängt damit zusammen, dass der erkennende Senat seit rund drei Jahren keinen regulären Vorsitzenden hat, sondern im drei-Monats-Wechsel von unterschiedlichen Senatsvorsitzenden vertretungsweise geschleppt wird, so dass es im erkennenden Senat keinen festen Spruchkörper gibt.

 

V. Einer Kostenentscheidung bedurfte es für dieses Urteil nicht, denn durch die Zurückverweisung ist das erstinstanzliche Urteil – einschließlich seiner Kostentscheidung – aufgehoben und das Verfahren in den Zustand vor dem aufgehobenen Urteil zurückversetzt. Das SG wird bei Abschluss des Verfahrens von Amts wegen gemäß § 193 SGG über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.

 

 

[1] Der Text verwendet zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum, es sind jedoch alle Ge­schlechter gemeint.

[2] Z.B. Ebert, H.: Divergierende Einschätzung des Leistungsvermögens von Rentenklägem in Gutachten des Rentenversicherers und der Sozialgerichte bei Anträgen auf Erwerbsminderungsrente. Dissertation Hamburg, 2010.

[3] Vgl. dazu Rau/Gaidzik/Schiltenwolf, Vergütung medizinischer Sachverständigengutachten nach dem JVEG - Deutsche Bundesländer im Vergleich, MedSach 2018, 50 ff.; ähnl. schon Widder/Gaidzik, Leistungsgerechte Vergütung nach dem Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz, MedSach 2005. 127 ff.

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