L 1 KR 193/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 18 KR 1406/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 193/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 14.07.2022 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben sich auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf eine Gynäkomastie-Operation als Sachleistung.

Der 1971 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Am 04.03.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine beidseitige Mastektomie inklusive volumenreduzierender und bruststraffender Maßnahmen. Er begründete seinen Antrag mit Einschränkungen im Alltag durch die Gynäkomastie, d.h. durch die Ausbildung einer Brustdrüsenschwellung bei Männern. Er habe leicht brennende, kribbelnde Missempfindungen und Berührungsempfindlichkeit im Bereich der Brustwarzen, Druckschmerz und Spannungsgefühl und zeitweise auch „ziehende“ Schmerzen in Ruhe sowie in Bewegung (z.B. beim Joggen). Die von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 01.04.2019 und 10.05.2019 stellten eine nur leichtgradige Brustvergrößerung ohne entzündliche Veränderungen oder maligne Prozesse fest und verneinten die medizinische Notwendigkeit einer Operation. Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 02.04.02019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2019 ab.

Dagegen hat der Kläger am 27.12.2019 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Das Sozialgericht hat im Rahmen der Amtsermittlung Befundberichte bei dem behandelnden Allgemeinmediziner E. D. und bei der Asklepios Klinik in D-Stadt sowie das Sachverständigengutachten nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. H. vom 20.08.2021 nebst ergänzender Stellungnahme vom 14.02.2022 eingeholt. Der Sachverständige hat darin ausgeführt, dass die operative Mastektomie als einzig sinnvolle Behandlungsmaßnahme notwendig sei. Eine dauerhafte symptomatische Behandlung beinhalte die Gefahr von Magenschleimhautveränderungen und der Schädigung des Blutbildes. Es liege eine leichte Entstellung vor. Die Beklagte hat zu diesen Ausführungen des Sachverständigen die gutachtlichen Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes Hessen (MD) vom 12.11.2021 und 29.03.2022 vorgelegt.

Mit seinem Urteil vom 14.07.2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch seien die §§ 27 ff. SGB V. Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, dass bei ihm eine Entstellung vorliege. Eine solche könne das Gericht auch in Anschauung der angefertigten Fotodokumentation nicht im Ansatz erkennen. Das Gericht sei zudem nicht davon überzeugt, dass bei dem Kläger eine operative Behandlung medizinisch notwendig sei. Dabei stütze sich das Gericht auf das überzeugende Gutachten des MD vom 12.11.2021 und sehe es als nicht nachgewiesen an, dass die nicht-operativen Behandlungsmöglichkeiten im Falle des Klägers ausgeschöpft seien. Das anderslautende Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. H. sei auch deshalb nicht überzeugend, da dieser völlig unkritisch die Angaben des Klägers übernehme. Auf die behauptete psychische Beeinträchtigung könne sich der Kläger ebenfalls nicht mit Erfolg berufen, denn dieses Argument vermöge nach ständiger Rechtsprechung bereits aus Rechtsgründen keinen Anspruch auf die Brust-Operation begründen. 

Gegen das ihm am 18.07.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26.07.2022 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben.

Der Kläger vertritt die Auffassung, dass bei ihm eine Entstellung vorliege und sowohl die Schmerzen als auch die psychische Belastung den begehrten Eingriff rechtfertigen würden. Der Kläger hat den Arztbrief von Dr. G. vom 07.02.2023 vorgelegt, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 14.07.2022 und den Bescheid der Beklagten vom 02.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Gynäkomastie-Operation als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte sieht sich durch die erstinstanzliche Entscheidung in ihrer Rechtsauffassung bestätigt.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat der Senat das plastisch-chirurgische Gutachten bei Prof. Dr. Dr. S., dem Chefarzt der Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie, Wiederherstellungs- und Handchirurgie vom 22.01.2024 eingeholt. Dieser hat allein die operative Intervention als die medizinische Methode der Wahl und die einzig notwendige angesehen; auf das Gutachten wird Bezug genommen. Zudem hat der Senat den Befundbericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin D. vom 16.05.2024 eingeholt.

Zum Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Dr. S. hat die Beklagte eine gutachtliche Stellungnahme des MD Hessen vom 14.03.2024 vorgelegt.

Der Berichterstatter hat am 30.11.2023 einen Erörterungstermin mit den Beteiligten durchgeführt. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, § 153 Abs.1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht Darmstadt hat die Klage mit Urteil vom 14.07.2022 zu Recht abgewiesen. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 02.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2019 ist nicht aufzuheben, denn er ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf eine Gynäkomastie-Operation als Sachleistung.

Zur Begründung wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils verwiesen.

Ergänzend führt der Senat aus:

Rechtsgrundlage für die Gewährung der begehrten Operation zur Brustverkleinerung als Sachleistung ist § 27 SGB V. Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, um ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Unter Krankheit ist nach der Rechtsprechung ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper - oder Geisteszustand zu verstehen, der einer ärztlichen Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (BSG, Urteil vom 30.09.1999, B 8 KN 9/98 KR; BSG, Urteil vom 10.02.1993, 1 RK 14/92). Nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit kommt Krankheitswert zu. Eine Krankheit liegt nur vor, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 3/03 R). 

Zur Behandlung einer Krankheit kann grundsätzlich auch eine mittelbare Therapie vom Leistungsanspruch umfasst sein. Wird durch eine Operation dabei jedoch in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert, bedarf diese mittelbare Behandlung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind (BSG, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R und Beschluss vom 17.10.2006, B 1 KR 104/06 B; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 09.01.2014, L 5 KR 325/12; Hessisches LSG, Urteile vom 09.02.2017, L 1 KR 134/14 und vom 06.10.2016, L 8 KR 291/14). Beispielsweise darf eine chirurgische Behandlung in Form einer Verkleinerung der Brust nur die ultima ratio sein, da ein operativer Eingriff stets mit einem erheblichen Risiko verbunden ist. Werden z.B. orthopädische Beschwerden in Folge von übergroßen Brüsten geltend gemacht, ist zu fordern, dass eine schwerwiegende Erkrankung der Wirbelsäule vorliegt, alle konservativen orthopädischen Behandlungsmaßnahmen ausgeschöpft wurden und die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass die Maßnahme auch den gewünschten Behandlungserfolg bringt (Hessisches LSG, Urteil vom 15.04.2013, L 1 KR 119/11; LSG Hamburg, Urteil vom 25.08.2016, L 1 KR 38/15). Entsprechend ist im Fall postbariatrischer Straffungsoperationen ein schwerwiegendes Krankheitsbild der Haut zu fordern, um einen operativen Eingriff zu rechtfertigen (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 02.06.2020, L 1 KR 718/18; Urteil vom 02.05.2024, L 1 KR 247/22). 

Bei dem Kläger bestehen aufgrund der festgestellten Gynäkomastie keine nachgewiesenen orthopädischen oder dermatologischen Beschwerden. Der Kläger klagt jedoch über Schmerzen in beiden Brüsten. 

Aus den Befundberichten der behandelnden Ärzte ergeben sich jedoch keinerlei Anhaltspunkte für eine besondere Ausprägung dieser Schmerzen. Eine notwendige oder durchgeführte schmerztherapeutische Behandlung oder eine daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit ist in den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht dokumentiert. Vielmehr hat die Hausärztin D. in ihrem Befundbericht vom 16.05.2024 ausdrücklich eine Behandlung wegen der Brustschmerzen verneint und mitgeteilt, dass der Kläger (Zitat) „von sich aus manchmal Ibu 400 genommen (sind frei verkäuflich)“ habe. Auch in den mit dem Befundbericht übersandten Tagesprotokollen ihrer Behandlung des Klägers lassen sich keine dauerhaft bestehenden Brustschmerzen ablesen bzw. enthalten diese teilweise den Eintrag, dass „keine Brustschmerzen“ (Eintrag vom 29.04.2024) bestehen.

Die Angaben des Klägers zu seinen Schmerzen in der Anamneseerhebung durch den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. S. können vom Senat vor diesem Hintergrund nicht nachvollzogen werden. Die Angaben des Klägers werden von dem Sachverständigen nicht kritisch überprüft, sondern schlicht als glaubhaft angesehen als typische Beschwerden bei einer idiopatischen Gynäkamastia vera. Insbesondere das Ausmaß der vom Kläger beim Sachverständigen angegebenen Schmerzen (Zitat Bl. 6 des Gutachtens: „ausgiebige und dauerhafte brennende Sensationen, die täglich bestünden und immer da seien. Ebenso eine Druckempfindlichkeit bei Berührung, welche extrem schmerzhaft sind, sowohl bei Alltagstätigkeit als auch bei Sport.“) steht in deutlichem Widerspruch zu der Behandlungsdokumentation der Hausärztin und einem „manchmal“ (Zitat s.o.) eingenommenen rezeptfreien Schmerzmittel. Deshalb können die darauf gestützten medizinischen Bewertungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. S. den Senat nicht überzeugen.

Auch vermag der Hinweis des Sachverständigen auf die S1-Leitlinie „Gynäkomastie im Erwachsenenalter“ (AWMF Registernummer 013-039) den Senat nicht von der Notwendigkeit eines operativen Eingriffs an den Brüsten des Klägers zu überzeugen. Diese Leitlinie der untersten Kategorie ist nicht evidenzbasiert und fasst lediglich Handlungsempfehlungen von Experten im Rahmen einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe der Fachgesellschaft(en) zusammen und erarbeitet im informellen Konsens eine Empfehlung. Einer Leitlinie kommt keinerlei rechtliche Bindungswirkung zu.

Zur Überzeugung des Senats lässt sich deshalb eine Gynäkomastie-Operation als ultima ratio nicht rechtfertigen, da in der Abwägung des hier nicht nachgewiesenen besonderen Ausmaßes der Schmerzen die ganz erheblichen Risiken einer Gynäkomastie-Operation in Gestalt von Narkose, Operationsfolgen wie z.B. Entzündungen, Thrombose bzw. Lungenembolie und operationsspezifischen Komplikationen deutlich überwiegen, selbst wenn man davon ausginge, dass die Schmerzzustände durch die Operation ganz sicher behoben werden könnten. Zudem wurden nicht-operative Behandlungsvarianten, insbesondere eine Schmerztherapie, bisher nicht ausgeschöpft. Entsprechendes gilt für die vom Kläger angeführten psychischen Belastungen, für die Behandlungsalternativen auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie vorrangig in Anspruch zu nehmen sind.

Eine Leistungspflicht der Beklagten ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Entstellung. Für die Annahme einer Entstellung muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein. Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl. BSG, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 19/07 R). Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau oder eine Wangenatrophie oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert (BSG, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 3/03 R).

Vor diesem Hintergrund ist im vorliegenden Fall des Klägers die Erheblichkeitsschwelle zur Entstellung bei weitem nicht erreicht. Zum einen kann der Kläger die betreffenden Körperstellen durch einfachste Mittel, nämlich durch das Tragen angepasster Kleidung, verdecken. Zudem handelt es sich bei der Gynäkomastie um ein außerordentlich häufig anzutreffendes Phänomen in unserer Gesellschaft, das bei mehr als der Hälfte aller erwachsenen Männer auftritt (vgl. den Hinweis auf die Studienlage dazu im MDK-Gutachten vom 12.11.2021, S. 2). Zum anderen kann zwar mit der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 10. März 2022, 1 KR 3/21 R) über den bislang vertretenen Begriff der Entstellung hinaus auch körperlichen Anomalien ein Krankheitswert zugemessen werden, die sich in Bereichen befinden, die regelmäßig von Kleidung bedeckt sind – allerdings müssen in diesen Bereichen die Auffälligkeiten besonders schwerwiegend sein. Erforderlich ist, dass selbst die Offenbarung im privaten Bereich die Teilhabe an der Gesellschaft, etwa im Rahmen der Sexualität, nahezu ausschließt. Hierbei ist nicht das subjektive Empfinden des Betroffenen maßgeblich, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion. Die Auffälligkeit muss evident abstoßend wirken.

Eine derart ausgeprägte Entstellung ist nach sämtlichen gutachterlichen Feststellungen, denen sich der Senat nach eigener Überzeugung unter Zugrundelegung auch der enthaltenen Fotodokumentation anschließt, offensichtlich nicht gegeben. Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. S. hat nachvollziehbar von einer leichten Entstellung gesprochen, die im Alltagsleben nicht hervortritt (vgl. Bl. 14 seines Gutachtens vom 13.10.2023).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

Rechtskraft
Aus
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