L 7 AS 2471/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 281/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 2471/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die nach § 12 Abs. 1 SGB II zu treffende Prognoseentscheidung, ob ein Vermögensgegenstand (hier: Erbschaftsanteil) innerhalb des Bewilligungszeitraums verwertbar ist, bemisst sich nach den Umständen im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.

Auf die Berufung der Klägerinnen wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. Juli 2023 aufgehoben und der Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 28. Oktober 2020, 9. September 2021 und 8. November 2021 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 20. Januar 2022 verurteilt, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate Oktober 2020 bis März 2021, August 2021 bis Oktober 2021 sowie den Monat November 2021 als Zuschuss zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen in beiden Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob den Klägerinnen die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit von Oktober 2020 bis März 2021, von August 2021 bis Oktober 2021 sowie für November 2021 als Zuschuss statt als Darlehen zustehen.

Die 1971 geborene Klägerin Ziff. 1 und ihre 2015 geborene Tochter, die Klägerin Ziff. 2, für welche die Klägerin Ziff. 1 das alleinige Sorgerecht hat, standen bei dem Beklagten im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Die Klägerinnen bewohnten seit März 2015 eine 45 Quadratmeter große Wohnung in einem ursprünglich im Eigentum des Vaters der Klägerin Ziff. 1 stehenden Dreifamilienhauses in R1, für die sie 350,00 EUR (300,00 EUR Kaltmiete, 50 EUR Nebenkostenpauschale) entrichteten. Zum 1. Juli 2020 bezogen die Klägerinnen eine andere, 65 Quadratmeter große Wohnung im selben Haus, für die sie eine Gesamtmiete von 556,67 EUR (456,67 EUR Kaltmiete, 100 EUR Nebenkostenpauschale) zu entrichten hatten. Die Klägerin Ziff. 1 bezog in den streitigen Zeiträumen für die Klägerin Ziff. 2 Kindergeld (204,00 EUR im Jahr 2020; 219,00 EUR im Jahr 2021); die Klägerin Ziff. 2 bezog Unterhalt in Höhe von monatlich 267,00 EUR.

Der Vater der Klägerin Ziff. 1 verstarb am 14. Oktober 2019. Der Nachlass fiel der aus der Klägerin Ziff. 1 und ihren beiden Brüdern bestehenden Erbengemeinschaft zu, die zu je einem Drittel Erben wurden.

Zuletzt hatte der Beklagte mit Bescheid vom 5. Februar 2020 Leistungen für die Zeit vom 1. Februar 2020 bis 31. Januar 2021 in Höhe von monatlich 759,52 EUR für die Klägerin Ziff. 1 bewilligt. Der Bedarf der Klägerin Ziff. 2 in Höhe von 425,00 EUR war durch eigenes Einkommen in Form von Unterhalt in Höhe von 254,00 EUR und Kindergeld gedeckt. Auf den Bedarf der Klägerin Ziff. 1 (Regelbedarf 432,00 EUR, Mehrbedarf für Alleinerziehende 155,52 EUR, Grundmiete 150,00 EUR und Nebenkosten 25,00 EUR) wurde das den Bedarf der Klägerin Ziff. 2 übersteigende Kindergeld in Höhe von 33,00 EUR abzüglich einer Versicherungspauschale von 30,00 EUR angerechnet.

Nachdem die Klägerin Ziff. 1 am 17. Februar 2020 den Beklagten über den Tod ihres Vaters informiert hatte, hob der Beklagte – nachdem er zunächst mit Bescheid vom 26. März 2020 die Leistungen für die Zeit vom 1. April 2020 bis 31. Januar 2021 entzogen hatte – mit Bescheid vom 30. März 2020 den Bescheid vom 5. Februar 2020 für die Zeit ab 1. April 2020 ganz auf, weil die Klägerin Ziff. 1 geerbt habe bzw. Miteigentümerin einer Immobilie sei und das Vermögen voraussichtlich zum vollständigen Wegfall der Hilfebedürftigkeit führe.

Mit weiterem Bescheid vom 30. März 2020 bewilligte der Beklagte der Klägerin Ziff. 1 vorläufig für die Zeit vom 1. April 2020 bis 30. September 2020 ohne Berücksichtigung von Unterkunftskosten Leistungen in Höhe von 413,52 EUR monatlich und auf deren Widerspruch mit Änderungsbescheid vom 28. April 2020 unter Berücksichtigung von Unterkunftskosten in Höhe von 746,52 EUR monatlich sowie mit Änderungsbescheid vom 6. August 2020 ab 1. Juli 2020 unter Berücksichtigung der höheren Unterkunftskosten in Höhe von 923,18 EUR monatlich (865,85 EUR für die Klägerin Ziff. 1, 57,33 EUR für die Klägerin Ziff. 2).

Am 30. September 2020 beantragten die Klägerinnen die Weiterbewilligung der Leistungen über den 30. September 2020 hinaus.

Unter dem 28. Oktober 2020 erließ der Beklagte einen Darlehensbescheid über Leistungen für die Zeit vom 1. Oktober 2020 bis 31. März 2021, wobei er die Leistungen auf monatlich 923,18 EUR (865,85 EUR für die Klägerin Ziff. 1 und 57,33 EUR für die Klägerin Ziff. 2) festsetzte.
Die Rückzahlung des Darlehens sei, wenn keine abweichende Rückzahlungsvereinbarung getroffen worden sei, nach erfolgter Verwertung des Vermögens sofort in voller Höhe fällig (§ 42a Abs. 3 SGB II). Die Klägerin Ziff. 1 habe nachgewiesen, dass der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von grundsätzlich zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich sei oder für sie eine besondere Härte bedeuten würde, so dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen zu erbringen seien. Die Klägerin Ziff. 1 befinde sich in einer Erbengemeinschaft. Bisher habe sie noch keine Klärung über ihren Anteil an der Erbmasse erzielen können. Sobald sie dies habe klären können, werde sie um die Einreichung eines Nachweises gebeten.

Die Klägerinnen legten gegen den Bescheid Widerspruch ein, soweit es sich um eine darlehensweise Gewährung und nicht um einen Zuschuss handele, und baten um Ruhendstellung des Widerspruchsverfahrens bis zur Erbauseinandersetzung, da danach voraussichtlich kein verwertbares Vermögen verbleibe.

Nach einer Besprechung der Erbengemeinschaft im Januar 2021 teilte die Klägerin Ziff. 1 mit, dass eine abschließende Verständigung über die Erbauseinandersetzung noch nicht getroffen worden sei. Die Auseinandersetzung hänge davon ab, wie sich die Beteiligten der Erbengemeinschaft bezüglich der Aufteilung einigten. Es sei beabsichtigt, dass die Klägerin Ziff. 1 die Wohnung, in der sie derzeit wohne, im Rahmen der Erbauseinandersetzung zugewiesen bekomme.

Nachdem die Klägerin Ziff. 1 vom 1. April 2021 bis 31. Juli 2021 befristet eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hatte, beantragte sie am 17. August 2021 die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II.

Mit Darlehensbescheid vom 9. September 2021 bewilligte der Beklagte weiterhin darlehensweise Leistungen für die Zeit vom 1. August 2021 bis 31. Oktober 2021 in Höhe von 986,22 EUR (884,89 EUR für die Klägerin Ziff. 1, 101,33 EUR für die Klägerin Ziff. 2).

Auch gegen diesen Bescheid legten die Klägerinnen Widerspruch ein.

Am 22. Oktober 2021 beantragten die Klägerinnen die Weiterbewilligung über den 31. Oktober 2021 hinaus, woraufhin der Beklagte mit Bescheid vom 8. November 2021 darlehensweise Leistungen für die Zeit vom 1. November 2021 bis 31. Dezember 2021 in Höhe von 1.186,36 EUR monatlich (für die Klägerin Ziff. 1 884,89 EUR zzgl. 200,14 EUR Zuschuss zu Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen; für die Klägerin Ziff. 2 101,33 EUR) und für die Zeit vom 1. Januar 2022 bis 30. April 2022 in Höhe von 659,70 EUR monatlich bewilligte, wogegen die Klägerinnen unter dem 1. Dezember 2021 Widerspruch einlegten.

Am 27. Dezember 2021 informierten die Klägerinnen den Beklagten über die erfolgte Erbauseinandersetzung und legten die Vereinbarung vom 19. November 2021 sowie einen notariellen Vertrag vom 24. November 2021 vor, wonach das Alleineigentum an der von den Klägerinnen bewohnten Wohnung an die Klägerin Ziff. 1 und Miteigentum je zur Hälfte an den zwei weiteren Wohnungseigentumsrechten an die Brüder der Klägerin Ziff. 1 übertragen wurde. Diese erhielten zudem das gesamte Geldvermögen in Form von Geldanlagen bei der K1kasse T1 und der V1bank N1 e.G. Die Klägerin Ziff. 1 verpflichtete sich darüber hinaus, als Ausgleich im Rahmen der Erbteilung an die Miterben jeweils 4.801,67 EUR zu zahlen. Der Mietvertrag mit der Klägerin Ziff. 1 wurde zum 30. November 2021 aufgehoben. Im notariellen Vertrag vom 24. November 2021 wurde der Verkehrswert der Wohnung Nr. 1 (von den Klägerinnen bewohnt) mit 280.000,00 EUR angegeben, ebenso der Wert der Wohnung Nr. 2, der Wert der Wohnung Nr. 3 mit 150.000 EUR. Ferner wurde Geldvermögen mit 80.485,00 EUR zuzüglich 23.705,00 EUR Vorabauszahlungen angegeben. Zum Zweck der Finanzierung der von ihr zu erbringenden Ausgleichszahlung sowie der zu übernehmenden Notarkosten nahm die Klägerin Ziff. 1 ein Privatdarlehen über 15.000,00 EUR auf.

Mit Widerspruchsbescheiden vom 20. Januar 2022 wies die Beklagte die Widersprüche gegen den Bescheid vom 28. Oktober 2020 (für die Zeit vom 1. Oktober 2020 bis 31. März 2021), den Bescheid vom 9. September 2021 (für die Zeit vom 1. August 2021 bis 31. Oktober 2021) und den Bescheid vom 8. November 2021 unter dessen Abänderung dahingehend, dass Leistungen für die Zeit ab 1. Dezember 2021 als Zuschuss gewährt würden, zurück. Am 14. Oktober 2019 sei der Vater der Klägerin Ziff. 1 gestorben und die gesetzliche Erbfolge eingetreten. Die Widerspruchsführerin und ihre beiden Brüder bildeten zu gleichen Teilen eine Erbengemeinschaft.
Die Erbmasse habe vornehmlich aus einer Immobilie, bestehend aus drei einzelnen Wohnungen, sowie zwei Bankkonten mit einem Gesamtbestand in Höhe von 104.190,00 EUR bestanden. Der Eintritt des Erbfalls sei für den Zeitraum vom 1. Oktober 2020 bis 31. März 2021 als Einkommen, für die Zeit ab 1. August 2021 als Vermögen zu werten. Bereits mit dem Erbfall könne der Erbe über seinen Anteil am Nachlass verfügen, ohne dass es auf die Durchsetzung von Ansprüchen etwa gegen die Miterben ankomme. Da es sich bei den Geldkonten um ein Gemeinschaftskonto gehandelt habe, habe die Klägerin Ziff. 1 auch die tatsächliche Zugriffsmöglichkeit auf das Konto gehabt. Die theoretische Zugriffsmöglichkeit bestätige sich gerade in der Tatsache, dass ein Miterbe Vorausabhebungen von über 23.000,00 EUR durchgeführt habe und diese dann im Rahmen der Erbauseinandersetzung ihre Berücksichtigung gefunden hätten. Korrekt wäre eine Ablehnung wegen mangelnder Hilfebedürftigkeit gewesen und die Klägerinnen seien durch die Gewährung von Leistungen auf Darlehensbasis rechtlich bevorteilt.

Am 16. Februar 2022 haben die Klägerinnen gegen die Widerspruchsbescheide jeweils Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben (S 2 AS 281/22, S 2 AS 287/22 und S 2 AS 288/22), die das SG mit Beschluss vom 22. Februar 2022 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat, und die Gewährung der Leistungen für die Zeit von Oktober 2020 bis März 2021, von August 2021 bis Oktober 2021 sowie für November 2021 als Zuschuss statt als Darlehen geltend gemacht.
Die darlehensweise Gewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sei rechtswidrig, da die Hilfebedürftigkeit der Klägerinnen durch den Anfall der Erbschaft nicht entfallen gewesen sei. Die Klägerinnen hätten keinerlei Zugriffsmöglichkeit auf die in Frage stehenden Konten gehabt. Es habe auch kein materiell-rechtlicher Anspruch auf Auszahlung gegen die Erbengemeinschaft bestanden. Dies zeige sich im Ergebnis auch dadurch, dass die Erbengemeinschaft einer Übertragung der von den Klägerinnen bewohnten Wohnung im Rahmen einer Erbauseinandersetzung erst zugestimmt habe, als die Klägerinnen bereit und in der Lage gewesen seien, ein Privatdarlehen aufzunehmen, um die rechnerische Differenz bei der Erbaufteilung auszugleichen.

Mit Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2023 hat das SG die Klagen abgewiesen.
Die Klägerinnen hätten keinen Anspruch auf die Gewährung der als Darlehen gewährten Leistungen in der Zeit von Oktober 2020 bis März 2021 und von August 2021 bis November 2021 als Zuschuss. Die Gewährung von Leistungen als Darlehen stelle sich in den genannten Zeiträumen als rechtmäßig dar, denn der Gewährung von Leistungen als Zuschuss stehe bei der Klägerin Ziff. 1 vorhandenes und zu berücksichtigendes Vermögen entgegen. Soweit die Klägerinnen geltend gemacht hätten, keine Zugriffsmöglichkeiten auf die infrage stehenden Konten des Erblassers gehabt zu haben und dass auch kein materiell-rechtlicher Anspruch auf Auszahlung gegen die Erbengemeinschaft bestanden habe, sei darauf hinzuweisen, dass ein Miterbe jederzeit über seinen Anteil am Nachlass verfügen könne. Diese Verfügungsmöglichkeit über den Erbanteil bedeute bereits einen Zufluss im Sinne des SGB II. Da es sich bei den Geldkonten des Erblassers um Gemeinschaftskonten gehandelt habe, habe die Klägerin Ziff. 1 zudem eine tatsächliche Zugriffsmöglichkeit auf das Konto gehabt. Auch hätte ein Verkauf des gesamten Hauses unter – was die Klägerinnen geltend gemacht hätten – Aufgabe ihrer Wohnung keine unzumutbare Härte dargestellt, weil die bis zum Zeitpunkt der Erbauseinandersetzung von den Klägerinnen bewohnte Wohnung noch kein Schonvermögen dargestellt habe, da sie noch nicht im Eigentum der Klägerin Ziff. 1 gestanden habe, sondern vielmehr nur Teil des Nachlasses gewesen sei. Auch hätte im Falle einer Auseinandersetzung des Nachlasses in der Form eines Verkaufs des Hauses des Erblassers nicht zu einem Verlust der Wohnung der Klägerinnen geführt, denn der Mietvertrag der Klägerinnen, den sie über die von ihnen bewohnte Wohnung abgeschlossen hätten, wäre durch einen Verkauf des Hauses nicht beeinträchtigt worden.

Gegen den ihrer Prozessbevollmächtigten am 31. Juli 2023 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Klägerinnen am 25. August 2023 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden‑Württemberg eingelegt und ihr Vorbringen aus dem Klageverfahren wiederholt.

Die Klägerinnen beantragen,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. Juli 2023 aufzuheben und den Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 28. Oktober 2020, 9. September 2021 und 8. November 2021 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 20. Januar 2022 zu verurteilen, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate Oktober 2020 bis März 2021, August 2021 bis Oktober 2021 sowie den Monat November 2021 als Zuschuss zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Die Berichterstatterin hat mit den Beteiligten am 25. April 2023 einen Erörterungstermin durchgeführt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.

Der Beklagte hat zuletzt geltend gemacht, im Zeitraum von Oktober 2020 bis März 2021 handele es sich (nur) hinsichtlich des Erbanteils der Klägerin Ziff. 1 an dem im Erbe enthaltenen Barvermögen in Höhe von 80.485,00 EUR (gemäß der Aufstellung bei Erbauseinandersetzung am 24. November 2021) um Einkommen, das erst dann leistungsmindernd zu berücksichtigen sei, wenn es tatsächlich zur Verfügung stehe, was bisher nicht eingetreten sei. Bei dem Anteil der Klägerin Ziff. 1 an dem im Erbe enthaltenen Haus (nach der Aufstellung bei Auseinandersetzung am 24. November 2021 mit einem Gesamtwert von 710.000,00 Euro) handele es sich nach seiner Ansicht nicht um Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, sondern um Vermögen nach § 12 SGB II.
Bei dem Erbanteil an dem im Erbe enthaltenen Haus handele es sich nicht um Geld, weswegen es nicht als Einkommen nach § 11 SGB II zu berücksichtigen sei. Für die Gewährung von Leistungen als Darlehen nach § 24 Abs. 5 SGB II wegen nicht sofort verwertbaren Vermögens ergebe sich durch die Wertung eines Teils des Erbanteils als (nicht zu berücksichtigendes) Einkommen kein Unterschied, da der Erbanteil der Klägerin Ziff. 1 an dem im Erbe enthaltenen Haus die Vermögensfreibeträge nach § 12 SGB II wertmäßig übersteige. Darüber hinaus beeinflusse eine nach den streitgegenständlichen Zeiträumen vollzogene Vermögensumwandlung die Rechtmäßigkeit der Gewährung von Leistungen als Darlehen nach § 24 Abs. 5 SGB II nicht. Nach § 12 Abs. 5 Satz 2 SGB II sei der maßgebliche Zeitpunkt für die Bewertung von Vermögen bezüglich des Leistungsanspruchs die Antragstellung beziehungsweise der Erwerb des Vermögens. Nach ständiger Rechtsprechung sei der maßgebliche Zeitraum für die Entscheidung, ob Leistungen als Darlehen nach § 24 Abs. 5 SGB II oder als Zuschuss zu gewähren sind, der Bewilligungszeitraum. Es sei daher nicht die Vermögenslage der Klägerinnen zum jetzigen Zeitpunkt maßgeblich für die Entscheidung, ob Leistungen rechtmäßig als Zuschuss oder als Darlehen zu gewähren seien, sondern die Vermögenslage im streitgegenständlichen Zeitraum. Es bestehe dabei kein Widerspruch zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (dem Tag der letzten mündlichen Verhandlung), da die Sach- und Rechtslage im streitgegenständlichen Zeitraum (nicht beschränkt auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses), auch bei einer Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt, maßgeblich sei.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerinnen ist zulässig, insbesondere statthaft,
da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Die Berufung ist auch begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits sind die Bescheide des Beklagten vom 28. Oktober 2020, 9. September 2021 und 8. November 2021 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 20. Januar 2022 (§ 95 SGG), mit denen der Beklagte die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate Oktober 2020 bis März 2021, August 2021 bis Oktober 2021 sowie den Monat November 2021 als Darlehen bewilligt hat. Die dagegen gerichtete Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) zulässig. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten enthalten den Verfügungssatz, dass die Leistungen lediglich als Darlehen bewilligt werden. Die Beklagte muss daher verpflichtet werden, die Leistungen als Zuschuss und nicht als Darlehen zu gewähren. Der Zulässigkeit einer Leistungsklage steht entgegen, dass die Geldleistungen bereits erbracht sind; bei einer reinen Anfechtungsklage würde der Verfügungssatz insgesamt entfallen (BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 – B 14 AS 42/07 R – SozR 4-4200 § 12 Nr. 12 Rdnr. 16).

Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig, soweit der Beklagte die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts den Klägerinnen lediglich als Darlehen und nicht als Zuschuss bewilligt hat, und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten.

Die Klägerinnen haben in den streitgegenständlichen Zeiträumen einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II als Zuschuss, nicht nur als Darlehen.

Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben (Nr. 1), die erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören nach § 7 Abs. 3 SGB II insbesondere die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (Nr. 1) sowie die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können (Nr. 4). Diese Voraussetzungen erfüllen die Klägerinnen. Die 1971 geborene Klägerin Ziff. 1, die in den streitigen Zeiträumen das 15. Lebensjahr vollendet, aber die Altersgrenze von 67 Jahren nach § 7a Satz 2 SGB II noch nicht erreicht hat, erwerbsfähig ist und ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, bildet mit der Klägerin Ziff. 2 als zu ihrem Haushalt gehörende Tochter, die ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenem Einkommen (Unterhalt) und Kindergeld (§ 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II) decken kann, eine Bedarfsgemeinschaft.

Die Klägerinnen waren auch hilfebedürftig. Hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, sind gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils zu berücksichtigen. Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig, dabei bleiben die Bedarfe nach § 28 außer Betracht (§ 7 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Gemäß § 11 Abs. 
1 Satz 1 SGB II in der maßgeblichen Fassung vom 26. Juli 2016 sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen. Dies gilt auch für Einnahmen in Geldeswert, die im Rahmen einer Erwerbstätigkeit, des Bundesfreiwilligendienstes oder eines Jugendfreiwilligendienstes zufließen (§ 11 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Als Vermögen sind nach § 12 Abs. 1 SGB II in der Fassung vom 13. Mai 2011 alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Gemäß Abs. 3 Satz 1 der Vorschrift ist als Vermögen nicht zu berücksichtigen insbesondere ein selbst genutztes Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung (Nr. 4). Nach Abs. 4 ist das Vermögen mit seinem Verkehrswert zu berücksichtigen. Für die Bewertung ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem der Antrag auf Bewilligung oder erneute Bewilligung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gestellt wird, bei späterem Erwerb von Vermögen der Zeitpunkt des Erwerbs. Wesentliche Änderungen des Verkehrswertes sind zu berücksichtigen.

In den streitgegenständlichen Zeiträumen bestand bei der Klägerin Ziff. 1 Vermögen in Form des Erbschaftsanteils. Die Klägerin Ziff. 1 war mit dem Tod ihres Vaters im November 2019 neben ihren beiden Brüdern Miterbin des Nachlasses geworden. Die Klägerin Ziff. 2 verfügte über kein zu berücksichtigendes Vermögen.

Der Erbschaftsanteil der Klägerin Ziff. 1 stellte in den streitgegenständlichen Zeiträumen Vermögen, nicht Einkommen dar. Es handelt sich bei dem Nachlass des Vaters der Klägerin Ziff. 1 insgesamt um eine geldwerte Einnahme. Insbesondere sind einzelne Nachlassgegenstände nicht unterschiedlich zu beurteilen, jedenfalls wenn der Nachlass nicht ausschließlich in Geld (ggf. auch Buchgeld in Form von Bankguthaben) besteht. Nach § 1922 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geht mit dem Tode einer Person (Erbfall) deren Vermögen (Erbschaft) als Ganzes auf eine oder mehrere andere Personen (Erben) über. Gemäß § 2033 Abs. 1 BGB kann jeder Miterbe über seinen Anteil an dem Nachlass verfügen.
Der Vertrag, durch den ein Miterbe über seinen Anteil verfügt, bedarf der notariellen Beurkundung. Über seinen Anteil an den einzelnen Nachlassgegenständen kann ein Miterbe nicht verfügen (§ 2033 Abs. 2 BGB). Die Bankguthaben stellen einen Nachlassgegenstand dar, über den die Klägerin Ziff. 1 auch nicht in Höhe ihres Erbteils von einem Drittel verfügen konnte. Vielmehr können Erben über einen Nachlassgegenstand nur gemeinschaftlich verfügen (§ 2040 BGB). Soweit ein Bruder der Kläger bereits vor der Auseinandersetzung des Nachlasses über einen Teil der Bankguthaben verfügt hat, ist dies nicht Ausdruck einer Verfügbarkeit von Geld (auch) für die Klägerin Ziff. 1; vielmehr ist der betreffende Bruder hierbei als Nachlassverwalter für die Erbengemeinschaft tätig geworden. Damit handelt es sich auch insoweit nicht um einen Zufluss von Geld. Der Neureglung des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zum 1. August 2016 hat der Gesetzgeber zugrunde gelegt, dass Einnahmen in Geld als bereites Mittel für den Lebensunterhalt zur Verfügung stehen und daher unmittelbar als Einkommen zu berücksichtigen sind. Einnahmen in Geldeswert, die nach der vorherigen Rechtslage nur bzw. erst dann berücksichtigt werden konnten, wenn sie zum Einsatz für den Lebensunterhalt bereit sind, sollen dagegen als Einkommen anrechnungsfrei bleiben und ab dem Folgemonat des Zuflusses als Vermögen berücksichtigt werden (BT-Drs. 18/8041, S. 32). Abgesehen von den dogmatischen Unklarheiten und Wertungswidersprüchen hinsichtlich der Behandlung einer geldwerten Einnahme im Monat ihres Anfalls (vgl. Schmidt/Lange in Luik/Harich, SGB II, 6. Auflage 2024, § 11 Rdnr. 20), stellt die Erbschaft jedenfalls im Oktober 2020, dem ersten Monat der streitgegenständlichen Zeiträume, insgesamt Vermögen dar, nachdem die Erbschaft bereits im November 2019 angefallen ist.

Liegt verwertbares, zu berücksichtigendes Vermögen vor, bestimmt § 9 Abs. 4 SGB II in Abweichung von § 9 Abs. 1 SGB II korrespondierend zu § 24 Abs. 5 SGB II, dass hilfebedürftig auch derjenige ist, dem der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich ist oder für den dies eine besondere Härte bedeuten würde. Lediglich in diesen Fallgestaltungen, deren Voraussetzungen in § 24 Abs. 5 SGB II erneut aufgegriffen werden, sind die Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 24 Abs. 5 SGB II nur darlehensweise zu erbringen. Die Obergrenze der darlehensweisen Leistungserbringung bildet der voraussichtlich aus dem Verbrauch oder der Verwertung des die darlehensweise Leistungserbringung rechtfertigenden, vorübergehend nicht zu verwertenden Vermögens zu erzielenden Bedarfsdeckungsbeitrags. Über diesen Betrag hinaus sind die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als verlorener Zuschuss zu gewähren (Behrend/König in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 24 Rdnr. 116; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17. Oktober 1974 – V C 50.73 – BVerwGE 47, 103 Rdnr. 35; BSG, Urteil vom 25. August 2011 – B 8 SO 19/10 R – juris Rdnr 27).

Der Erbschaftsanteil der Klägerin Ziff. 1 stellt jedoch in den streitgegenständlichen Zeiträumen kein verwertbares, zu berücksichtigendes Vermögen dar. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Widerspruchsbescheide am 20. Januar 2022 war die Erbschaft bereits auseinandergesetzt, wobei die Klägerin Ziff. 1 aus dem Nachlass einzig das Wohnungseigentum der von ihr und der Klägerin Ziff. 2 bewohnten Wohnung unter Leistung einer Ausgleichszahlung an die Miterben erworben hat. Damit handelte es sich bereits bei Erlass der letzten Behördenentscheidung um geschütztes Vermögen, das gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nicht zu berücksichtigen ist. An der Angemessenheit der Wohnung bestehen bei einer Wohnungsgröße von 65 Quadratmetern selbst für einen Einpersonenhaushalt keine Zweifel (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – L 8 SO 294/16 – juris Rdnr. 40 unter Verweis auf BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 2/05 R – SozR 4-4200 § 12 Nr. 3 Rdnr. 22).

Vermögen ist verwertbar, wenn seine Gegenstände verbraucht, übertragen und belastet werden können. Ist der Inhaber dagegen in der Verfügung über den Gegenstand beschränkt und kann er die Aufhebung der Beschränkung nicht erreichen, ist von der Unverwertbarkeit des Vermögens auszugehen. Mithin hat der Begriff der Verwertbarkeit in § 12 Abs. 1 SGB II den Bedeutungsgehalt, den das BSG bereits in einer früheren Entscheidung zum Recht der Arbeitslosenhilfe (Alhi) mit dem Begriff der Möglichkeit des „Versilberns“ von Vermögen umschrieben hat. Darüber hinaus enthält der Begriff der Verwertbarkeit aber auch eine tatsächliche Komponente. Die Verwertung muss für den Betroffenen einen Ertrag bringen, durch den er, wenn auch nur kurzzeitig, seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Tatsächlich nicht verwertbar sind Vermögensgegenstände, für die in absehbarer Zeit kein Käufer zu finden sein wird, etwa weil Gegenstände dieser Art nicht (mehr) marktgängig sind oder weil sie, wie Grundstücke infolge sinkender Immobilienpreise, über den Marktwert hinaus belastet sind. Eine generelle Unverwertbarkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II liegt vor, wenn völlig ungewiss ist, wann eine für die Verwertbarkeit notwendige Bedingung eintritt. Maßgebend für die Prognose, dass ein rechtliches oder tatsächliches Verwertungshindernis wegfällt, ist im Regelfall der Zeitraum, für den die Leistungen bewilligt werden, also regelmäßig der sechsmonatige – bzw. nunmehr zwölfmonatige – Bewilligungszeitraum des § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II in der Fassung vom 24. Dezember 2004 – bzw. § 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II in der Fassung vom 29. April 2019. Für diesen Bewilligungszeitraum muss im Vorhinein eine Prognose getroffen werden, ob und welche Verwertungsmöglichkeiten bestehen, die geeignet sind, Hilfebedürftigkeit abzuwenden. Eine Festlegung für darüber hinaus gehende Zeiträume ist demgegenüber nicht erforderlich und wegen der Unsicherheiten, die mit einer langfristigen Prognose verbunden sind, auch nicht geboten (zum Ganzen BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 14 AS 2/09 R – SozR 4-4200 § 12 Nr. 15, Rdnr. 17ff. m.w.N.).

Die zu treffende Prognoseentscheidung besteht – wie Prognosen allgemein – in der vorausschauenden Feststellung einer hypothetischen Tatsache (vgl.
BSG, Urteil vom 6. September 2007 – B 14/7b AS 60/06 R – SozR 4-4200 § 7 Nr. 5). Da eine prognostische Einzelbeurteilung zu treffen ist, ist dem Grundsicherungsträger bzw. Wahrnehmungszuständigen kein Beurteilungsspielraum (Beurteilungsermächtigung, Einschätzungsprärogative) eingeräumt. Die gestellte Prognose unterliegt vielmehr der vollen Überprüfung durch das kontrollierende Gericht, da sie tatsächlichen Feststellungen im gerichtlichen Verfahren mit gleicher Sicherheit zugänglich ist wie im Verwaltungsverfahren (Hengelhaupt in Hauck/Noftz SGB II, § 12a Rdnr. 284 m.w.N.). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose ist die letzte Behördenentscheidung (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26. September 1990 – 9b/11 RAr 151/88BSGE 67, 228; BSG, Urteil vom 31. März 1992 – 9b RAr 18/91BSGE 70, 226; BSG, Urteil vom 11. Mai 2000 – B 7 AL 18/99 RSozR 3-4100 § 36 Nr. 5; BSG, Urteil vom 3. Juli 2003 – B 7 AL 66/02 RSozR 4-4300 § 77 Nr. 1). Hat der Grundsicherungsträger bzw. Wahrnehmungszuständige zu diesem Moment die abwägungserheblichen Belange vollständig und zutreffend erfasst, so bleibt die Prognose rechtmäßig, auch wenn die spätere Entwicklung diese Belange verändert (BSG, Urteil vom 6. September 2007 – B 14/7b AS 60/06 R – SozR 4-4200 § 7 Nr. 5 m.w.N.; BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 119/10 RBSGE 108, 86 m.w.N.). Das überprüfende Gericht hat die Vorausschau auf den Zeitpunkt der Bescheiderteilung zurückzuverlegen und darf nach diesem Zeitpunkt entstandene oder zugänglich gewordene Erkenntnismittel nicht berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 1982 – 1 RJ 102/80BSGE 53, 100). Ihre Einbeziehung und Auswertung darf allenfalls erfolgen, um ihnen Anhaltspunkte für die Richtigkeit der im maßgeblichen Zeitpunkt getroffenen Einschätzung zu entnehmen. Demgegenüber haben erst nach dem maßgeblichen Zeitpunkt eingetretene, aber unvorhersehbare Tatsachenentwicklungen außer Betracht zu bleiben (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 1992 – 9b RAr 18/91BSGE 70, 226).

Damit erweist sich die Annahme des Vorhandenseins verwertbaren Vermögens und die Gewährung nur darlehensweiser Leistungen in den streitgegenständlichen Zeiträumen als rechtswidrig. Beurteilungszeitpunkt für die Überprüfung der Prognoseentscheidung ist danach der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides. Zwar ist die Prognose darüber zu treffen, ob und in welcher Höhe zum Zeitpunkt des Beginnes des Bewilligungszeitraumes im Bewilligungszeitraum voraussichtlich Vermögen zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen wird. Da die Prognoseentscheidung der Behörde endgültig jedoch erst mit dem Widerspruchsbescheid ergeht, sind auch die bis dahin erlangten Erkenntnisse zu berücksichtigen; anderenfalls trifft die Behörde „sehenden Auges“ eine Entscheidung auf der Grundlage von Annahmen, die sich bereits als unzutreffend erwiesen haben. Insbesondere können einer Prognoseentscheidung nicht (rechtmäßig) Hypothesen zugrunde gelegt werden, die von den bei Ergehen der Prognoseentscheidung bereits eingetretenen und bekannten Tatsachen abweichen.

Die Verwertung des in den streitigen Bewilligungszeiträumen noch bestehenden Miterbenanteils der Klägerin Ziff. 1 konnte grundsätzlich erfolgen durch den Verkauf des Erbteils, die Verpfändung des Erbteils, die Verfügung über einzelne Nachlassgegenstände, die jedoch nur gemeinschaftlich durch alle Erben möglich ist (§ 2040 BGB), sowie durch die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft (§ 2042 BGB).
Die Wahl der Verwertungsart ist grundsätzlich dem Hilfebedürftigen selbst überlassen. Doch folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II), dass er nur zwischen den Verwertungsarten wählen kann, die den Hilfebedarf in etwa gleicher Weise decken (BSG, Urteil vom 16. Mai 2007 – B 11b AS 37/06 R – SozR 4-4200 § 12 Nr. 4 Rdnr. 31). Die Klägerin Ziff. 1 hat eine Vermögensverwertung durch Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft gewählt. Da sie sich dabei zur Abgeltung ihres Erbanteils das im Zusammenhang mit der Erbauseinandersetzung gebildete Wohneigentum an der von ihr bewohnten Wohnung hat übertragen lassen, hat die Verwertung ausschließlich zu gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II privilegiertem Vermögen geführt, wobei die Klägerin Ziff. 1 einen Vermögenswert erlangt hat, der ihren Anteil von einem Drittel an der gesamten Erbmasse überstiegen hat. Der Verkehrswert der Wohnung wurde im notariellen Vertrag vom 24. November 2021 mit 280.000,00 EUR angegeben. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Wert – ebenso wie derjenige der weiteren Wohnungen – unzutreffend festgesetzt worden ist, sind nicht ersichtlich. Damit hat die Klägerin Ziff. 1 bei der Verwertung ihres Erbanteils mehr als ein Drittel des insgesamt auseinanderzusetzenden Vermögens von 814.190,00 EUR erhalten, weswegen sie auch zu Ausgleichszahlungen an die Miterben und Übernahme der Notarkosten verpflichtet war. Damit war die von der Klägerin gewählte Verwertungsart einerseits keineswegs unwirtschaftlich, andererseits begründet der ausschließlich aus der von den Klägerinnen bewohnten Eigentumswohnung bestehende Erlös die Unverwertbarkeit bereits des Erbanteils der Klägerin Ziff. 1 schon während der streitgegenständlichen Bewilligungszeiträume. Zweck der Regelung des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II in der maßgeblichen Fassung ist allein der Schutz der Wohnung im Sinne der Erfüllung des Grundbedürfnisses „Wohnen“ und als räumlicher Lebensmittelpunkt und nicht der Schutz der Immobilie als Vermögensgegenstand (BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 2/05 R – SozR 4-4200 § 12 Nr. 3 Rdnr. 13). Da die Klägerinnen bereits während der streitigen Zeiträume in einer zum Nachlass gehörenden Wohnung lebten, durfte die Klägerin Ziff. 1 auch zum Schutz der Wohnung als Lebensmittelpunkt ihre Verwertungsbemühungen auf den Erhalt der Wohnung konzentrieren. Hinsichtlich der Verwertung eines Erbteils, in dem eine zu einem Teil selbst bewohnte Immobilie enthalten ist, kann nichts anderes gelten als für eine – weil sie nicht vollständig selbst genutzt wird oder sie die angemessene Größe übersteigt – nicht dem Schutz des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II unterfallenden Immobilie: Grundsätzlich hat eine Verwertung stattzufinden, jedoch kann sich der Inhaber eine angemessene Wohneinheit zur Selbstnutzung vorbehalten – etwa durch Schaffung von Wohnungseigentum –, auf die dann der Privilegierungstatbestand anzuwenden ist (Schwabe in beckOGK SGB II § 12 Rdnr. 61).

Damit war jedenfalls bei Erlass der Widerspruchsbescheide am 20. Januar 2022 bekannt, dass die von der Klägerin Ziff. 1 verfolgte Vermögensverwertung des in den jeweils streitigen Bewilligungszeiträumen bestehenden Vermögens in Form des Erbanteils durch Auseinandersetzung erfolgt und die Klägerin Ziff. 1 hierdurch unmittelbar Eigentümerin einer selbst genutzten angemessenen Wohnung werden wird, ohne dass ihr zu irgendeinem Zeitpunkt Geldmittel zugeflossen sind, die sie zur Bestreitung des Lebensunterhalts für sich und die Klägerin Ziff. 2 hätte einsetzen können. Denn die Verwertung muss für den Betroffenen einen Ertrag bringen, durch den er, wenn auch nur kurzzeitig, seinen Lebensunterhalt bestreiten kann (BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 – B 14 AS 42/07 R – SozR 4-4200 § 12 Nr. 12 Rdnr. 21), anderenfalls fehlt es an einer Verwertbarkeit.

Nach alledem erweist sich die Gewährung (nur) eines Darlehens als rechtswidrig.

Das Ergebnis, dass den Klägerinnen auch die vor Auseinandersetzung der Erbschaft erbrachten Leistungen als Zuschuss zustehen, ist auch insgesamt sachgerecht. Letztlich stehen die Klägerinnen nicht anders, als wenn der Klägerin Ziff. 1 von Anfang an ihr Erbteil in Gestalt der von ihnen ohnehin schon bewohnten Wohnung zugefallen wäre. Auch läge im Rahmen des § 34 SGB II bei Verwendung vorhandenen Vermögens zum Erwerb einer angemessenen Eigentumswohnung kein vorwerfbares sozialwidriges Verhalten vor (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Juli 2007 – L 5 B 410/07 AS ER – juris). Zudem ist zu berücksichtigen, dass bei Erbringung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen die Gewährung der Grundsicherungsleistungen in Form eines Darlehens ein Ende finden muss, wenn die Belastungen (durch das Darlehen) den Verkehrswert des Vermögensgegenstandes erreichen. Denn anderenfalls stünde der Darlehensnehmer schlechter als derjenige, der sein Vermögen verwertet und im Anschluss daran Hilfe zum Lebensunterhalt erhält (BSG, Urteil vom 25. August 2011 – B 8 SO 19/10 R – juris Rdnr. 27). Erweist sich jedenfalls bis zur letzten Behördenentscheidung das Vermögen als wertlos oder nicht verwertbar, kann nichts anderes gelten; dann stehen Leistungen von Anfang an als Zuschuss zu. Im Übrigen geht auch die Bundesagentur für Arbeit in ihren fachlichen Weisungen zu § 42a SGB II (Seite 5, Stand: 4. August 2016) davon aus, dass ein Darlehen nachträglich in entsprechendem Umfang in einen Zuschuss umzuwandeln ist, soweit der zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung angenommene Vermögenswert höher ist als der später durch die Verwertung tatsächlich erzielte Ertrag. Demzufolge wäre auch danach bei einem bei Verwertung gänzlich fehlenden Ertrag das Darlehen insgesamt in einen Zuschuss umzuwandeln. Schließlich wäre es auch mit dem Bedarfsdeckungsprinzip des SGB II nicht vereinbar, wenn vom Hilfebedürftigen die Begleichung der Darlehensschuld in voller Höhe verlangt würde, obgleich das einzusetzende Vermögen nicht ausgereicht hätte, um über den vollen Zeitraum des darlehensweisen Leistungsbezugs den Lebensunterhalt zu sichern (vgl. Bittner in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 42a Rdnr. 66). Nichts anderes gilt im Fall der Klägerinnen, die nach der Erbauseinandersetzung keinerlei Mittel zur Verfügung hatten, mit denen sie den Lebensunterhalt in den streitgegenständlichen Zeiträumen hätten decken können und nunmehr zur Begleichung einer Darlehensschuld einsetzen könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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