L 18 R 1044/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 26 R 67/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 18 R 1044/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 17.11.2021 wird zurückgewiesen.

 

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens unter Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die ihre außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen hat.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von über den Tod des Versicherten hinaus gezahlter Rente.

 

Der am 00.00.0000 verstorbene Werner N. (nachfolgend: Versicherter) bezog von der Beklagten eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der monatliche Rentenzahlbetrag wurde auf das Konto des Versicherten bei der Beigeladenen überwiesen. Von diesem Konto wurden u.a. die monatlichen Mietzahlungen für die von der Klägerin an den Versicherten vermietete Wohnung (Dauernutzungsvertrag) im Lastschriftverfahren zugunsten der Klägerin abgebucht. Die Klägerin ist Eigentümerin des Hauses, in dem sich die an den Versicherten seit dem 01.03.2007 vermietete Wohnung befindet.

 

Am 24.02.2020 setzte der Rentenservice die Beklagte davon in Kenntnis, dass der Versicherte am 00.00.0000 verstorben war. Die Rente sei jedoch bis März 2020 geleistet worden. Die Beklagte wandte sich daraufhin an die Beigeladene und forderte diese zur Rückzahlung der im Zeitraum vom 01.01.2016 bis 31.03.2020 überzahlten Rentenbeiträge in Höhe von insgesamt 49.972,60 € auf. Die Beigeladene überwies im Folgenden einen Betrag in Höhe von 34.650,72 € an die Beklagte. Dabei handelte es sich um das Guthaben auf dem Konto des Versicherten zum Zeitpunkt des Eingangs der Rückforderung am 11.03.2020.

 

Mit Schreiben vom 16.09.2020 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer Rückforderung gemäß § 118 Abs. 4 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in Höhe von 15.321,88 € an. Der Versicherte sei am 00.00.0000 verstorben. Die Rentenzahlung habe jedoch erst zum 31.03.2020 eingestellt werden können. Daher sei für die Zeit vom 01.01.2016 bis 31.03.2020 eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 49.972,60 € eingetreten. Abzüglich bereits durch die Beigeladene gezahlter 34.650,72 € verbleibe ein Überzahlungsbetrag in Höhe von 15.321,88 €. Nach Auskunft der Beigeladenen habe die Klägerin im Zeitraum von Januar 2016 bis Januar 2020 einen Betrag in Höhe von insgesamt 16.516,76 € empfangen. Es sei daher beabsichtigt, den Betrag in Höhe von 15.321,88 € zurückzufordern. Sodann forderte die Beklagte mit Bescheid vom 18.11.2020 einen Betrag in Höhe von 15.321,88 Euro von der Klägerin zurück.

 

Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 02.12.2020 Widerspruch ein. Eine Heranziehung zur Rückzahlung scheide bereits deswegen aus, weil sie bei Erhalt der Zahlungen gutgläubig gewesen sei, da sie zu dem Zeitpunkt keine Kenntnis vom Tod des Versicherten gehabt habe. Darüber hinaus habe sie ihrerseits ihre aus dem bestehenden Mietvertragsverhältnis bestehende Verpflichtung erfüllt. Insoweit werde auf die Ausführungen in dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 18.12.2019 (L 2 R 116/19) Bezug genommen.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch sodann mit Widerspruchsbescheid vom 12.01.2021 zurück. Die Klägerin sei als Empfängerin der Geldleistungen verpflichtet, den zu Unrecht gezahlten Betrag zu erstatten. Der Einwand der Entreicherung sei im Rahmen von § 118 Abs. 4 S. 1 SGB VI nicht vorgesehen. Insoweit sei auch nicht zu prüfen gewesen, ob die Klägerin bei Erhalt der Zahlungen gutgläubig war. Eine Vertrauensschutzprüfung finde nicht statt.

 

Dagegen hat die Klägerin am 19.01.2021 Klage beim Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhoben. Zur Begründung hat sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Aufgrund der Gutgläubigkeit einerseits und der von ihr erbrachten Leistungen andererseits bestehe vorliegend kein Erstattungsanspruch. Die Beklagte setze sich mit der von ihr zitierten Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 18.12.2019 nicht auseinander.

 

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

 

den Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 18.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2021 aufzuheben.

 

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig gehalten. Das von der Klägerin angeführte Urteil betreffe einen völlig anders gelagerten Sachverhalt. Der Gesetzgeber habe durch § 118 Abs. 4 SGB VI das Risiko, dass Rentenzahlungen fehlschlagen und in der Folge rückabgewickelt werden müssen, vom Rentenversicherungsträger auch auf mittelbare Empfänger eines der überzahlten Geldleistung entsprechenden Betrages übertragen. Die Vorschrift solle sicherstellen, dass Geldleistungen, die nach dem Tod des Rentenberechtigten auf dessen Konto überwiesen worden seien, als zu Unrecht erbrachte Leistungen schnell, effektiv und vollständig zurückerstattet werden, um die gesetzliche Rentenversicherung vor finanziellen Verlusten zu bewahren. Ein weiterer Rückforderungsanspruch gegenüber der Beigeladenen habe nicht bestanden. Da der Gesetzgeber zudem für einen gutgläubigen Empfang von Rentenzahlungen grundsätzlich keine Vertrauensschutzprüfung zulasse, sei die Klägerin erstattungspflichtig.

 

Mit Beschluss vom 04.02.2021 hat das SG die Beigeladene zum Rechtsstreit beigeladen. Diese hat keinen Antrag gestellt.

 

Das Sozialgericht Gelsenkirchen hat die Klage – mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung – mit Urteil vom 17.11.2021 abgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet. Die Beklagte sei berechtigt, von der Klägerin die Erstattung eines Betrages in Höhe von 15.321,88 € durch Verwaltungsakt zu verlangen. Die Voraussetzungen für den Erstattungsanspruch nach § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI seien gegeben. Dass die Klägerin mutmaßlich darauf vertraut hat, die empfangenen Geldleistungen behalten zu dürfen, veranlasse das SG zu keiner anderen Beurteilung. Durchgreifende Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von § 118 Abs. 4 SGB VI habe das SG vor dem Hintergrund der besonderen Schutzfunktion der Norm nicht.

 

Gegen das ihr am 25.11.2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 02.12.2021 Berufung eingelegt. Sie habe über Jahre hinweg die Mietwohnung des Versicherten weiter zur Verfügung gestellt und nicht anderweitig vermieten können. Sie habe keine Kenntnis vom Tode des Rentenempfängers und auch nicht von den näheren Umständen der Rentenzahlung gehabt. Bis einschließlich Januar 2020 seien die Mieten regelmäßig und pünktlich gezahlt worden. Im Februar 2020 sei erstmalig eine Rücklastschrift der Miete erfolgt. In diesem ersten Monat habe sie sich noch nicht veranlasst gesehen, Nachforschungen hinsichtlich des Mieters anzustellen, da es immer mal wieder vorkomme, dass Mieter mit einer Monatsmiete säumig werden. Als im März 2020 jedoch die zweite Miete rückständig geworden sei, habe sie eine Anfrage bei dem Einwohnermeldeamt unternommen und erfahren, dass der Mieter verstorben sei. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie überhaupt keinen Grund gehabt, anzunehmen, dass der ehemalige Vermieter verstorben sei. Einen Schriftverkehr habe es mit dem verstorbenen Versicherten nicht gegeben. Das letzte in ihrer Akte befindliche Schreiben sei das Anschreiben zum Mietvertrag vom 06.03.2007. Die jährlich postalisch an den Versicherten ergangenen Betriebskostenabrechnungen seien nie zurückgekommen. Es sei überhaupt kein Grund erkennbar, weshalb der Rentenleistungsträger hier allein schutzbedürftig sein solle. Über eine teleologische Reduktion sei ein angemessener Ausgleich für gutgläubige Empfänger der Leistung zu schaffen, wie das LSG Niedersachsen-Bremen zutreffend erkannt habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass ein Fehler der Stadt allein zu ihren Lasten gehen soll.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 17.11.2021 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 18.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2021 aufzuheben.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Bei dem Erstattungsanspruch gegenüber Empfängern oder Verfügenden nach § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI handele es sich um einen eigenständigen, von § 50 SGB X losgelösten Anspruch. Eine Vertrauensschutzprüfung im Sinne von § 45 SGB X fände nicht statt. Dementsprechend seien dem Betroffenen keine Vertrauens-, Entreicherungs- oder Haftungseinschränkungsaspekte zuzubilligen. Der Gesetzgeber habe für die Versichertengemeinschaft insoweit eine „Schutzvorschrift“ geschaffen. Sie treffe auch kein Verschulden.

 

Die Beigeladene, die keinen Antrag gestellt hat, hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

 

Der Senat hat Auskünfte vom Renten Service und von dem Einwohnermeldeamt der Stadt Recklinghausen eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Antwortschreiben des Renten Service vom 06.09.2023 und der Stadt Recklinghausen vom 11.10.2023 verwiesen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

 

Das SG hat die Anfechtungsklage der Klägerin zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Bescheid vom 18.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2021 ist rechtmäßig. Die Beklagte war berechtigt, von der Klägerin die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Rente wegen Erwerbsminderung in Höhe von 15.321,88 € durch Verwaltungsakt zu verlangen.

 

Die angefochtene Verwaltungsentscheidung ist formell rechtmäßig. Die Beklagte hat die Klägerin mit Schreiben vom 16.09.2020 ordnungsgemäß nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu einer Rückforderung angehört.

 

Die angefochtene Verwaltungsentscheidung ist auch materiell rechtmäßig. Ermächtigungsgrundlage für den von der Beklagten geltend gemachten Erstattungsanspruch ist § 118 Abs. 4 SGB VI. Nach § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI sind, soweit Geldleistungen für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht erbracht worden sind, sowohl die Personen, die die Geldleistungen unmittelbar in Empfang genommen haben oder an die der entsprechende Betrag durch Dauerauftrag, Lastschrifteinzug oder sonstiges bankübliches Zahlungsgeschäft auf ein Konto weitergeleitet wurde (Empfänger), als auch die Personen, die als Verfügungsberechtigte über den entsprechenden Betrag ein bankübliches Zahlungsgeschäft zu Lasten des Kontos vorgenommen oder zugelassen haben (Verfügende), dem Träger der Rentenversicherung zur Erstattung des entsprechenden Betrages verpflichtet. Gemäß § 118 Abs. 4 Satz 2 SGB VI hat der Rentenversicherungsträger Erstattungsansprüche durch Verwaltungsakt geltend zu machen.

 

Die Voraussetzungen sind gegeben. Bei den von der Beklagten für Januar 2016 bis März 2020 aus der Rentenversicherung des Versicherten erbrachten Rentenleistungen handelt es sich um Geldleistungen im Sinne des § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI, die für diese Monate zu Unrecht erbracht worden sind. Nach § 102 Abs. 5 SGB VI besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente nur bis zum Ende des Sterbemonats, vorliegend bis zum 31.12.2015. Die Bindungswirkung der Rentenbewilligung steht dem nicht entgegen. Der diesbezügliche Verwaltungsakt erledigt sich mit dem Tod des Versicherten auch ohne Aufhebungsbescheid nach § 39 Abs. 2 SGB X „auf andere Weise“ (vgl. dazu Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 26.07.2023 – B 5 R 25/21 R – juris Rdn. 13; BSG Urteil vom 20.05.2020 – B 13 R 4/18 R – juris Rdn. 20 m.w.N.).

 

Die Beklagte war nicht wegen eines vorrangigen Rückzahlungsanspruchs gegen die Beigeladene an der Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs in Höhe von 15.321,88 € gegen die Klägerin gehindert. Ist ein Rentenbetrag im unbaren Zahlungsverkehr auf ein Bankkonto des Rentenberechtigten, wie vorliegend, überwiesen worden, kommt ein eigenständiger Erstattungsanspruch des Rentenversicherungsträgers nach § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI nur in Betracht, soweit kein Rücküberweisungsanspruch gegen das Geldinstitut nach § 118 Abs. 3 Satz 2 SGB VI besteht (st. Rspr., vgl. nur BSG Urteil vom 20.05.2020 – B 13 R 4/18 R – juris Rdn. 22 m.w.N.). 

 

§ 118 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 SGB VI regeln die vorrangige Verpflichtung des Geldinstituts zur Rücküberweisung. Diese besteht nicht, soweit über den entsprechenden Betrag bei Eingang der Rückforderung bereits anderweitig verfügt wurde und die Rücküberweisung auch nicht aus einem Guthaben erfolgen kann (Satz 3); zur Befriedigung eigener Forderungen darf das Geldinstitut den überwiesenen Betrag nicht verwenden (Satz 4). Dabei kann das Geldinstitut im Sinne des § 118 Abs. 3 Satz 3 SGB VI stets geltend machen, „sämtliche" Verfügungen hätten die eingegangene Gutschrift der Sozialleistung wieder aufgezehrt, soweit die Gutschriften des Rentenversicherungsträgers und etwaige Gutschriften Dritter nicht bis zum Zeitpunkt der Rückforderung zu einem Habensaldo auf dem betroffenen Konto geführt haben (vgl. BSG Urteil vom 20.05.2020 – B 13 R 4/18 R – juris Rdn. 22 m.w.N.). Ein vorrangiger Anspruch gegen die Beigeladene bestand lediglich im Umfang von 34.650,72 €. Bei Eingang des Rückforderungsersuchens befand sich ein entsprechendes Guthaben auf dem Bankkonto des Versicherten. Über diesen Betrag hinaus, den die Beigeladene auch an die Beklagte zurückzahlte, griff zugunsten der Beigeladenen der Auszahlungseinwand des § 118 Abs. 3 Satz 3 HS. 1 SGB VI. Da die Beklagte insgesamt Rentenleistungen in Höhe von 49.972,60 € objektiv zu Unrecht gezahlt hatte, verblieb nach Abzug eines Betrages von 34.650,72 € noch ein Betrag in Höhe von 15.321,88 €. Diesen Betrag kann die Beklagte gegenüber der Klägerin geltend machen.

 

Die Klägerin ist im Umfang der Erstattungsforderung als mittelbare Empfängerin von Geldleistungen anzusehen. Zu den Geldleistungsempfängern zählen auch Personen, die - wie vorliegend die Klägerin - die zu Unrecht gewährten Geldleistungen zwar nicht unmittelbar vom Rentenversicherungsträger in Empfang genommen haben, an die der entsprechende Betrag jedoch durch Dauerauftrag, Lastschrifteinzug oder sonstiges bankübliches Zahlungsgeschäft auf ein Konto weitergeleitet worden ist (vgl. BSG Urteil vom 20.05.2020 – B 13 R 4/18 R – juris Rdn. 24 m.w.N.; BSG Urteil vom 11.12.2002 – B 5 RJ 42/01 R – juris Rdn. 23).

 

Die Beklagte war nicht gehalten, anstelle der Klägerin eine andere erstattungspflichtige Person (z.B. Erbe bzw. Erbin) in Anspruch zu nehmen. Zwar lässt § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI einen Anspruch gegen die Erben nach § 50 SGB X ausdrücklich unberührt. Bei der Auswahl zwischen mehreren nach § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI in Betracht kommenden Verfügenden und Empfängern handelt sich um eine gerichtlich nicht überprüfbare Zweckmäßigkeitsentscheidung des Leistungsträgers (Pflüger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 118 SGB VI Rdn. 173 (Stand: 31.08.2022) m.w.N.). Soweit, wie vorliegend, kein vorrangiger Rückabwicklungsanspruch gegen das Geldinstitut nach § 118 Abs. 3 Satz 2 SGB VI gegeben ist, bestehen die Erstattungsansprüche gegen die Empfänger und Verfügenden nach § 118 Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 und 2 SGB VI sowie gegen die Erben nach § 118 Abs. 4 Satz 4 SGB VI grundsätzlich gleichrangig und eigenständig (BSG Urteil vom 20.05.2020, a.a.O., juris Rdn. 30).

 

Dass die Klägerin mutmaßlich darauf vertraut hat, die empfangenen Geldleistungen behalten zu dürfen, steht der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsentscheidung nicht entgegen. § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI weist – im Unterschied zu den Regelungen zum Beispiel in § 50 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X in Verbindung mit §§ 45, 48 SGB X oder § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X – keine Vertrauensschutzregelung auf. Unter Beachtung des Wortlauts, der Systematik und des im Gesetzestext erkennbaren Willens des Gesetzgebers können sich daher Verfügende und Empfänger im Sinne der Vorschrift nicht darauf berufen, sie hätten auf ein „Behaltendürfen“ des zu Unrecht erlangten Betrages vertrauen dürfen (vgl. BSG Urteil vom 20.05.2020 – B 13 R 4/18 R –  juris Rdn. 40; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.03.2021 – L 2 R 246/20 – juris Rdn. 45; LSG Hamburg Urteil vom 26.02.2019 – L 3 R 50/17 – juris Rdn. 79; Pflüger a.a.O. Rdn. 164; Westphal in: Kreikebohm/Roßbach, Kommentar zum SGB VI, 6. Auflage 2021, § 118 Rdn. 68).

 

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze reicht jedenfalls eine Gutgläubigkeit des Empfängers nicht aus, eine Erstattungsforderung ihm gegenüber zu verneinen. § 118 Abs. 4 SGB VI überträgt das Risiko, dass Rentenzahlungen fehlschlagen und in der Folge rückabgewickelt werden müssen, vom Rentenversicherungsträger auch auf mittelbare Empfänger eines der überzahlten Geldleistung entsprechenden Betrages. Dazu nimmt die Vorschrift einen Personenkreis in Anspruch, der weder am Sozialrechtsverhältnis des Rentenberechtigten noch in seiner bankvertraglichen Beziehung zum kontoführenden Geldinstitut Anteil hat noch zu erkennen vermag, dass der ihm zugewandte Geldwert ganz oder teilweise gerade dem Betrag der Geldleistung entspricht (vgl. BSG Urteil vom 17.06.2020 – B 5 R 21/19 R – juris Rdn. 14).

 

Die Klägerin ist auch nicht berechtigt gewesen, die Leistung zu verweigern. Unabhängig davon, dass sie die Einrede der Verjährung jedenfalls nicht explizit geltend gemacht hat, ist eine Verjährung des Erstattungsanspruchs nicht eingetreten. Nach § 118 Abs. 4a Satz 1 SGB VI verjährt der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalendermonats, in dem der Rentenversicherungsträger Kenntnis von Überzahlung und von dem erstattungspflichtigen Empfänger/Verfügenden erlangt hat. Kenntnis von Überzahlung bedeutet das Bewusstsein, dass die Geldleistung zu Unrecht über den Monat des Versterbens hinaus gezahlt wurde. Von dem Tod des Versicherten ist die Beklagte erst am 24.02.2020 durch eine Mitteilung des Renten Service in Kenntnis gesetzt. Eine vorherige Kenntnis des Renten Service über den Tod des Versicherten, welches sich der Rentenversicherungsträger zurechnen lassen müsste (BSG Urteil vom 26.07.2023 – B 5 R 18/21 R – juris Rdn. 23), liegt nicht vor. Auch der Renten Service wurde erst Anfang 2020 über den Tod des Versicherten informiert.

 

Eine etwaige vorherige Kenntnis des Einwohnermeldeamtes der Stadt Recklinghausen über den Tod des Versicherten ist der Beklagten nicht zuzurechnen. Das Einwohnermeldeamt ist, anders als der Renten Service, nicht als Wissensvertreter der Beklagten anzusehen. Wissensvertreter ist jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie gegebenenfalls weiterzuleiten. Dazu gehört etwa die Verfolgung eines Anspruchs des Geschäftsherrn (BSG Urteil vom 26.07.2023 – B 5 R 18/21 R – juris Rdn. 24).

 

Offenbleiben kann, ob in entsprechender Anwendung des § 254 BGB ein der Beklagten anzurechnendes Mitverschulden (z.B. Länge des Zeitraums der Überzahlung) zu einer Reduzierung der Erstattungsforderung Anlass geben könnte. Ein Mitverschulden der Beklagten bzw. des Renten Service, welches sie sich zurechnen lassen müsste, liegt nicht vor.

 

Dem von der Klägerin zitierten Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 18.12.2019 – L 2 R 116/19 –), wonach die Inanspruchnahme gutgläubiger mittelbarer Empfänger in bestimmten Konstellationen einer einschränkenden Auslegung (verfassungskonforme teleologische Reduktion) bedarf, folgt der Senat nicht. Die vom LSG Niedersachsen-Bremen vorgenommene Gesetzesauslegung findet keine Stütze im Gesetzeswortlaut und ist auch nicht vom Gesetzeszweck gedeckt (so auch Pflüger in jurisPK-SGB VI, a.a.O., Rdn. 169). Mag auch der Hinweis auf die Gesetzgebungsgeschichte, nämlich auf die Absicht, eine Inkorporation zivilrechtlicher Ansprüche in das SGB VI zu bewirken, zutreffend sein (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., Rdn. 45 ff), so ist der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 13/2590) ein ausdrücklicher Wille, die zivilrechtlichen Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung auf das sozialrechtliche Rückabwicklungsverhältnis des § 118 Abs. 4 SGB VI zu übertragen, gerade nicht zu entnehmen. Der dortige Hinweis auf die Nichtanwendung der §§ 45ff SGB X und den möglichen Rückgriff auf Erlass und Stundung nach den Regeln des SGB IV in Härtefällen (BT-Drs. 13/2590, S. 25 zu Nummer 17) zeigt nach Auffassung des Senats deutlich auf, dass mit der Neuregelung nicht lediglich eine Zuordnung der Erstattungsstreitigkeiten zu den Sozialgerichten, sondern eine umfassende Einbettung in das sozialrechtliche Regelungsgefüge erfolgen sollte.

 

Nach Ansicht des Senats bestehen in der vorliegenden Fallkonstellation auch keine durchgreifenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des so in Anwendung des § 118 Abs. 4 SGB VI gefundenen Ergebnisses. § 118 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 SGB VI und die darauf gestützte Erstattungspflicht der Klägerin verstoßen weder gegen die Gewährleistung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Senat schließt sich insoweit den überzeugenden und auch auf den vorliegenden Fall übertragbaren Ausführungen des BSG im Urteil vom 20.05.2020 (B 13 R 4/18 R - juris Rdn. 31ff) an. Abweichend von der dort entschiedenen Fallkonstellation handelt es sich vorliegend zwar um eine gutgläubige Empfängerin einer Geldzahlung, für die sie eine nicht rückforderbare Gegenleistung (Zurverfügungstellung von Wohnraum) erbracht hat. Jedoch hält der Senat auch in dem hier zu entscheidenden Fall in Ansehung des überragend wichtigen Gemeinwohlzwecks der Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung die mit der Erstattungspflicht verbundene Belastung für die Klägerin für zumutbar. Dabei verkennt der Senat nicht, dass es für die Klägerin mit erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, die nunmehr ausstehenden Mietzahlungen von der Erbin des Rentenempfängers zu erlangen. Gerade diese Verlagerung des Ausfallrisikos auf das Vertragsverhältnis zwischen der Klägerin und der Erbin des Rentenempfängers sieht der Senat jedoch als für die Klägerin zumutbar an, zumal offenbar die Ausgestaltung des Mietverhältnisses in Bezug auf das Objektmanagement die fehlende Kenntnis vom Versterben des Rentenempfängers begünstigte.

 

Gegen die Berechnung der Höhe der Erstattungsforderung in Höhe von 15.321,88 € bestehen keine Bedenken. Diesbezüglich sind auch keine Einwendungen von der Klägerin und der Beigeladenen geltend gemacht worden.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

 

Anlass, die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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