L 11 SB 191/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 9 SB 238/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 191/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Ein Urteil, das bei Verkündung noch nicht vollständig vorgelegen hat, ist im Sinne des § 202 SGG in Verbindung mit § 547 Nr. 6 der Zivilprozessordnung nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten ab Verkündung schriftlich niedergelegt, von den beteiligten Berufsrichtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übermittelt worden sind.
  2. Ist ein Urteil nicht mit Gründen versehen, kann der demnach vorliegende Verfahrensfehler allenfalls zu einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG führen (hier verneint).
  3. Teil A Nr. 2 f) der Anlage zu § 2 VersMedV besagt nichts zum Feststellungszeitpunkt, sondern scheidet lediglich vorübergehende Erkrankungen aus. Besteht eine Erkrankung aber nach sechs Monaten fort, ist sie grundsätzlich ab dem Zeitpunkt ihres Auftretens zu berücksichtigen.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 4. März 2022 geändert. Der Bescheid des Beklagten vom 28. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2019 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 23. Dezember 2020 wird aufgehoben, soweit der Beklagte den Grad der Behinderung ab dem 3. Juli 2018 auf unter 50 festgestellt hat.

 

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten für den gesamten Rechtsstreit zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin wendet sich gegen eine Absenkung ihres Grades der Behinderung (GdB) auf unter 50.

 

Bei der 1966 geborenen Klägerin wurde 2012 ein Mammakarzinom rechts im Stadium pT2 (2) pN1a (3/4) (sn) L1 V0 Pn1 R0 G2 diagnostiziert. Der Tumor wurde am 21. August 2012 im Rahmen einer hautsparenden Mastektomie mit Sentinel-Lymphknotenentfernung sowie IUD-Extraktion entfernt. Es schlossen sich eine Chemo- und Strahlentherapie an. Mit Bescheid vom 8. November 2012 stellte der Beklagte zugunsten der Klägerin wegen einer Brustdrüsenerkrankung rechts in Heilungsbewährung den GdB mit 60 fest. Einen Antrag auf Feststellung eines höheren GdB lehnte der Beklagte bestandskräftig mit Bescheid vom 11. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Oktober 2014 ab, wobei er zusätzlich mit Einzel-GdB von je 10 eine psychische Minderbelastbarkeit sowie eine Funktionsstörung der Wirbelsäule berücksichtigte.

 

Der Beklagte leitete Ende 2017 eine Nachprüfung des GdB von Amts wegen ein. Nach medizinischen Ermittlungen und nach Anhörung der Klägerin hob der Beklagte mit Bescheid vom 28. Februar 2018 seinen Bescheid vom 8. November 2012 und die folgenden Bescheide mit Wirksamkeit ab Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides teilweise auf und stellte den GdB nunmehr nur noch mit 30 fest wegen einer Aufbauplastik der rechten Brust (Einzel-GdB 30) und wegen mit Einzel-GdB von je 10 bewerteter psychischer Minderbelastbarkeit, Funktionsstörung der Wirbelsäule und Lymphödems des rechten Armes. Nach weiteren medizinischen Ermittlungen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2019 den Widerspruch der Klägerin zurück, wobei er die psychische Minderbelastbarkeit nun mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete. 

 

Gegen den ihr am 27. Mai 2019 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 26. Juni 2019 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie unter anderem einen Entlassungsbericht der Kliniken im T--Werk über eine teilstationäre Behandlung der Klägerin vom 5. August bis 11. Oktober 2019 zu den Gerichtsakten gereicht (Diagnose unter anderem eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome).

 

Das Sozialgericht hat Befundberichte bei dem Psychiater Dr. L, der Frauenärztin S, dem Psychiater S, der Kardiologischen Gemeinschaftspraxis i und der Allgemeinmedizinerin Dr. K eingeholt.

 

Der Beklagte hat nach Auswertung der Befundberichte mit Schriftsatz vom 23. Dezember 2020 ein Teilanerkenntnis abgegeben, wonach er den GdB ab dem 1. Dezember 2018 mit 40 festgestellt hat. Grundlage hierfür ist eine Bewertung des psychischen Leidens mit einem Einzel-GdB von 30 gewesen. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 5. Februar 2021 das Teilanerkenntnis angenommen, den Rechtsstreit aber im Übrigen fortgesetzt.

 

Das Sozialgericht hat einen Entlassungsbericht der Dr. E Fachkliniken GmbH  über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 22. März bis 26. April 2021 beigezogen.

 

Durch Urteil vom 4. März 2022 hat das Sozialgericht die auf Erhalt eines GdB von 50 gerichtete Klage abgewiesen bei einer Kostenquote von einem Drittel. Das Sitzungsprotokoll haben die Beteiligten Ende Januar 2023 erhalten. Das vollständig abgefasste Urteil ist am 6. März 2023 zur Geschäftsstelle gelangt und der Klägerin am 10. März 2023 zugestellt worden. Statthaft sei die isolierte Anfechtungsklage, so dass die gesundheitlichen Verhältnisse nach Erlass des Widerspruchsbescheides außer Betracht zu bleiben hätten. Der GdB betrage 40. Insoweit liege ein Einzel-GdB von 30 für eine psychische Störung (Nr. 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze <VMG>) vor. Der vom Beklagten vergebene Einzel-GdB von 30 für die Aufbauplastik der rechten Brust sei bei der durchgeführten Operationsmaßnahme zu hoch, insoweit sei ein GdB-Rahmen von 10 bis 20 richtig (Nr. 14.1 VMG). Ein Lymphödem des rechten Armes sei mit 10 zu bewerten (Nr. 9.2.3 VMG), gleiches gelte für ein Halswirbelsäulen-Syndrom (Nr. 18.9 VMG). Bluthochdruck und eine minimale Mitralklappeninsuffizienz seien je mit keinem Einzel-GdB zu bewerten.

 

Bereits am 4. August 2022 hat die Klägerin zur Fristwahrung Berufung eingelegt. Sie habe schon länger vor 2018 unter psychischen Beschwerden gelitten. Bei ihre liege mindestens seit 2018 ein sehr ausgeprägtes seelisches Leidensbild vor. Eine Polyneuropathie mit Taubheitsgefühlen in der rechten Hand sei unberücksichtigt geblieben. Die Ausführungen des Sozialgerichts zur Aufbauplastik der rechten Brust seien unzutreffend. Sie habe sich auch 2014 und 2015 operativen Verfahren zur Herstellung der Brust unterzogen und leide immer noch unter einer schmerzhaften Narbenbildung. Hinsicht des Bluthochdrucks sei auf eine Retinopathie zu verweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 4. März 2022 und den Bescheid des Beklagten vom 28. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2019 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 23. Dezember 2020 aufzuheben, soweit damit ein Grad der Behinderung von weniger als 50 festgestellt wird.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

 

Allerdings ist ein Urteil, das bei Verkündung noch nicht vollständig vorgelegen hat, im Sinne des § 202 SGG in Verbindung mit § 547 Nr. 6 der Zivilprozessordnung nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe – wie hier - nicht binnen fünf Monaten ab Verkündung schriftlich niedergelegt, von den beteiligten Berufsrichtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übermittelt worden sind (vgl. BeckOGK/Harks SGG § 134 Rn. 15). Der hier demnach vorliegende Verfahrensfehler (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt SGG/Keller SGG § 134 Rn. 6) führt indes vorliegend nicht zu einer Zurückverweisung gemäß dem allein in Betracht kommenden § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Denn auf Grund dieses Mangels ist eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme hier nicht notwendig.

 

Die zulässige Berufung der Klägerin ist überwiegend begründet, das Urteil des Sozialgerichts größtenteils unzutreffend. Die der Berufung zugrunde liegende Klage ist als reine Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig. Der angegriffene Bescheid erschöpft sich in der teilweisen Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung (hier des Bescheides vom 8. November 2012; ggf. auch des Bescheides vom 11. April 2014). Die Klage ist auch im hier streitigen Umfang – die Klägerin begehrt nur den Erhalt des GdB von 50 – weitgehend begründet. Der Bescheid vom 28. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2019 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 23. Dezember 2020 ist größtenteils rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten.

 

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, gegen den formelle Bedenken nicht bestehen, ist hier § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Wege einer gebundenen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen hier insoweit vor, als im maßgeblichen Prüfungszeitraum nur noch ein GdB von 30 vorlag. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ist dabei der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides (vgl. dazu eingehend Urteil des Senats vom 6. November 2014 - L 11 SB 178/10; auch BSG, Beschluss vom 27. Mai 2020 - B 9 SB 67/19 B - juris), hier zwischen dem 3. März 2018 (nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X) und dem 27. Mai 2019 (Zugangsdatum des Widerspruchsbescheides).

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der hier maßgeblichen Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.

 

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).

 

Der GdB bei der Klägerin war wegen der Brustkrebserkrankung nach Maßgabe von Teil B Nr. 14.1 der Anlage zu § 2 VersMedV bei der hier in Rede stehenden Tumorformel mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten.

 

Eine Neubewertung des GdB war vorliegend aufgrund des Ablaufs der Heilungsbewährung grundsätzlich zulässig (vgl. Teil A Nr. 7b der Anlage zu § 2 VersMedV). Nach Teil B Nr. 1 c VMG beträgt der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung in der Regel und nach Maßgabe von Teil B Nr. 14.1 der Anlage zu § 2 VersMedV vorliegend fünf Jahre. Maßgeblicher Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung ist der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann; eine zusätzliche adjuvante Therapie hat keinen Einfluss auf den Beginn der Heilungsbewährung. Maßgeblich ist hier daher das Operationsdatum am 21. August 2012, so dass die Heilungsbewährung bei Erlass des angefochtenen Bescheides abgelaufen war. Metastasen und Rezidive sind innerhalb des Zeitraums der Heilungsbewährung wie auch innerhalb des hier maßgeblichen Prüfungszeitraums nicht aufgetreten. Ein Einzel-GdB für die Krebserkrankung war demnach nicht mehr zu vergeben.

 

In dem genannten Prüfungszeitraum zwischen dem 3. März 2018 und dem 27. Mai 2019 ist der GdB ab dem 3. Juli 2018 mit 50 zu bewerten, davor lässt sich ein höherer GdB als 30 nicht feststellen. Dies folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen.

 

Im maßgeblichen Prüfungszeitraum ist der Einzel-GdB für ein psychisches Leiden nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV ab dem 3. Juli 2018 mit 40 zu bewerten. Denn es liegen stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, die sich eher im Grenzbereich zur schweren als zur leichteren psychischen Störung bewegen. Ausweislich einer Auskunft der Allgemeinmedizinerin Dr. K hat diese am 20. August 2018 einen psycho-physischen anhaltenden Erschöpfungszustand bei beruflicher Belastungssituation festgestellt. Als Funktionsbeeinträchtigungen sind Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit, Ängste und eine eingeschränkte mentale und körperliche Leistungsfähigkeit vermerkt. Eine schwere depressive Reaktion hat auch der Psychiater Dr. L mitgeteilt, der anlässlich der Erstvorstellung am 6. September 2018 eine geminderte Konzentration, Zukunftsängste, eine deutlich gedrückte Stimmung, einen stark reduzierten Antrieb, einen geminderten Appetit, Schlafstörungen und Lebensüberdrussgedanken vermerkt hat. Hieraus ergibt sich auch die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin seit dem 3. Juli 2018. Die krankheitsbedingten Auswirkungen sind von ihm als sehr schwer eingeschätzt worden. Die Arbeitsunfähigkeit hat seit dem 3. Juli 2018 auch durchgehend bestanden, was sich aus einem Arztbrief der Kliniken im T--Werk über eine teilstationäre Behandlung der Klägerin vom 5. August bis 11. Oktober 2019 ergibt, in dem als Diagnose eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome mitgeteilt worden ist. Bestätigt wird das Erkrankungsbild in einem Entlassungsbericht der Dr. E Fachkliniken GmbH  über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 22. März bis 26. April 2021. Der Senat verkennt dabei nicht, dass diese Behandlung deutlich nach dem hier in den Blick zu nehmenden Prüfungszeitraum stattgefunden hat. Dem Entlassungsbericht ist aber nicht nur anschaulich der Krankheitsverlauf zu entnehmen, sondern es ergibt sich aus ihm auch, dass es seit dem 3. Juli 2018 zu keiner wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes gekommen ist. Insbesondere schwere Probleme am Arbeitsplatz haben im Juli 2018 zu einem völligen Zusammenbruch der Klägerin geführt, im September 2018 kam es zur Trennung vom Partner, weil dieser kein Verständnis dafür hatte, dass sich die Klägerin nicht hat aufraffen können. Die Klägerin hat sich im häuslichen Bereich etwas stabilisiert, auch hat sie von Maßnahmen – keine medikamentösen, da Nebenwirkungen aufgetreten sind – etwas profitiert. Gleichwohl ist im Entlassungsbericht ein aufgehobenes Leistungsvermögen nicht nur für die letzte berufliche Tätigkeit, sondern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt festgestellt worden. Dass volle Erwerbsminderung und Schwerbehinderung in keinem Wechselwirkungsverhältnis stehen, verkennt der Senat nicht. Die zur Aufhebung des beruflichen Leistungsvermögens führenden Funktionsbeeinträchtigungen wiegen aber so schwer, dass sie einen Einzel-GdB von 40 für das seelische Leiden rechtfertigen. So haben sich nach dem Entlassungsbericht der Dr. E Fachkliniken GmbH  bei der Klägerin erheblich bis voll ausgeprägte Beeinträchtigungen in der Flexibilität und Umstellungsfähigkeit und erhebliche Beeinträchtigungen in der Entscheidungs-, Urteils-, Widerstands- und Durchhaltefähigkeit ergeben sowie in der Konversation und Kontaktfähigkeit. Therapeutische Maßnahmen haben stattgefunden, sind aber – wie etwa eine tiefenpsychologisch orientierte Langzeittherapie – überwiegend erfolglos geblieben. Dass die Klägerin aktiv im Chor singt, verkennt der Senat nicht. Vor dem Hintergrund einer krankheitsbedingten Trennung und einem krankheitsbedingten aufgehobenen beruflichen Leistungsvermögen rechtfertigen die Funktionsbeeinträchtigungen aber gleichwohl einen Einzel-GdB von 40 ab dem 3. Juli 2018, dem Beginn der durchgehenden Arbeitsunfähigkeit. Denn die krankheitsbedingten Folgen – Ausschluss einer beruflichen Tätigkeit und Trennung vom Partner – rechtfertigen die Annahme schon schwerer soziale Anpassungsschwierigkeiten, wenn auch die Abgrenzung mittelgradiger und schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten erst dann eine Rolle spielt, wenn – anders als vorliegend – eine schwere psychische Störung vorliegt (vgl. Urteil des Senats vom 10. Mai 2022 – L 11 SB 125/18 – juris). Die Einwände des Beklagten greifen nicht durch. Dass die psychische Erkrankung maßgeblich auf Probleme am Arbeitsplatz zurückzuführen ist, mag sein, spielt aber für das final ausgelegte Schwerbehindertenrecht (vgl. auch Teil A Nr. 2 a) der Anlage zu § 2 VersMedV) keine Rolle. Der Hinweis, die Klägerin sei nicht wegen einer Leistungsminderung krankgeschrieben worden, sondern aufgrund einer Mobbing-Situation, verkennt den Charakter der Krankschreibung, die eben aufgrund Arbeitsunfähigkeit erfolgt und damit auf eine Leistungsminderung zwingend zurückzuführen ist. Dass bei der Klägerin seit dem 3. Juli 2018 eine erhebliche Leistungsminderung vorliegt, erhellt auch der Umstand, dass sie nach dem „üblichen“ Weg über Krankengeld, Aussteuerung aus demselben und Arbeitslosengeld I-Bezug nunmehr eine volle Erwerbsminderungsrente bezieht. Der Hinweis, Beeinträchtigungen und Belastungen wie Heulkrämpfe, Zittern und Herzrasen entstünden nur bei dem Gedanken an Arbeit und wenn sie von dort Briefe erhalte, beruht auch einer selektiven Lesart des Reha-Entlassungsberichts, dem sich tatsächlich zahlreiche Funktionsbeeinträchtigungen ohne Zusammenhang zur Arbeit entnehmen lassen. Dass nach Teil A Nr. 2 f) der Anlage zu § 2 VersMedV der GdB eine nicht nur vorübergehende und damit eine über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten sich erstreckende Gesundheitsstörung voraussetzt, steht der Berücksichtigung des GdB ab dem 3. Juli 2018 nicht entgegen. Denn die Regelung besagt nichts zum Feststellungszeitpunkt, sondern scheidet lediglich vorübergehende Erkrankungen aus. Besteht eine Erkrankung aber nach sechs Monaten fort, ist sie grundsätzlich ab dem Zeitpunkt ihres Auftretens zu berücksichtigen. Vor dem 3. Juli 2018 ist der GdB für das psychische Leiden dagegen noch nicht feststellbar, weil objektivierbare Anknüpfungstatsachen insoweit fehlen.

 

Die Aufbauplastik zur Wiederherstellung der Brust mit Prothese ist hier nach Teil B Nr. 14.1 der Anlage zu § 2 VersMedV nach einseitiger subkutaner Mastektomie unter Berücksichtigung eines – wenn auch leichten – Lymphödems mit der Notwendigkeit von zwei Nachoperationen mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Daneben ist ein Bluthochdruck nach Teil B Nr. 9.3 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Denn bei der Klägerin liegt mit einer retionapathia hypertensiva Stadium I eine Organbeteiligung leichten Grades vor, die nicht erst in einem augenärztlichen Befund vom 13. Februar 2019, sondern schon von der Allgemeinmedizinerin Dr. K bei letzter Befunderhebung vom 20. August 2018 mitgeteilt worden ist, und die damit offenbar auch schon am 3. Juli 2018 vorgelegen hat. Der diastolische Blutdruck war auch mehrfach über 100 mmHg trotz Behandlung, was sich etwa aus einer Langzeitblutdruckmessung am 11. Oktober 2017 ergibt (durchschnittlicher Blutdruck 142/102 mmHg).

 

Abweichend vom Regelfall, wonach sich Einzel-GdB von 20 vielfach nicht erhöhend auswirken, wird hier der Einzel-GdB von 40 durch den Einzel-GdB von 20 für den Zustand nach Aufbauplastik der Brust einschließlich Lymphödem erhöht. Die besonders ungünstige Wechselwirkung zwischen der psychischen Erkrankung und der durchgemachten Krebserkrankung dokumentiert sich etwa in den Ausführungen des Entlassungsberichts der Dr. E Fachkliniken GmbH , wo unter „Psychodynamik/Verhaltensanalyse“ darauf verwiesen wird, dass die Klägerin immer wieder die Erfahrung gemacht habe, nicht gut genug zu sein oder sich hilflos ausgesetzt zu fühlen. Als Beispiel hierfür wird die Krebserkrankung genannt, die als Mitursache der aktuellen schweren depressiven Episode genannt wird und die der Klägerin auch vor dem Hintergrund des – wenn auch leichten – Lymphödems stets präsent ist. Der so erreichte GdB von 50 wird durch das Bluthochdruckleiden nach unten abgesichert. Bis zum 2. Juli 2018 lässt sich dagegen kein höherer GdB als 30 feststellen.

 

Da der GdB von 50 ab dem 3. Juli 2018 hier sicher feststellbar ist, kommt es nicht darauf an, dass vorliegend der Beklagte für das Vorliegen der Aufhebungsvoraussetzungen beweispflichtig ist. Der Senat gestattet sich aber den Hinweis, dass dem Beklagten in Herabsetzungsverfahren die Beweisführung häufig wohl leichter gelänge, würde er die Betroffenen ambulant ärztlich begutachten lassen, wozu hier in Ansehung der Verfahrensdauer von rund eineinhalb Jahren zwischen Einleitung des Nachprüfungsverfahrens und Erlass des Widerspruchsbescheides hinreichend Gelegenheit bestanden hätte, zumal die Klägerin eine entsprechende Anregung im Schreiben vom 16. Februar 2018 gegeben hat.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das geringfügige Unterliegen der Klägerin wirkt sich kostentechnisch nicht aus.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

 

 

 

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