L 11 SB 274/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 SB 485/23
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 274/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Eine Rechtsbehelfsbelehrung muss richtig, vollständig und unmissverständlich sein, wenn sie auch Angaben, die gegebenenfalls nicht zwingend vorgeschrieben sind, enthält (Anschluss an BSG, Beschluss vom 9. März 2023 - B 4 AS 104/22 BH – juris).
  2. Die Benennung nur eines einzigen sicheren Übermittlungsweges iSd § 65a Abs. 4 Satz 1 SGG – hier der absenderauthentifizierten De-Mail – in der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides erweckt den unzutreffenden Eindruck, es gebe insoweit nur diese Möglichkeit. Damit ist die Rechtsbehelfsbelehrung unvollständig und irreführend.
  3. Zu den Voraussetzungen einer Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG.

 

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 2023 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

 

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die Feststellungen eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung).

 

Auf einen Antrag vom 12. April 2021 der 1960 geborenen Klägerin, zu deren Gunsten der Beklagte bereits einen GdB von 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung) festgestellt hatte, stellte der Beklagte nach Einholung ärztlicher Auskünfte mit Bescheid vom 4. Oktober 2021 einen GdB von 80 fest und lehnte das eingangs genannte Merkzeichen ab. Er ging von Einzel-GdB von 50 für eine seelische Erkrankung, 50 für ein organisches Nervenleiden, 40 für eine Nierenfunktionsbeeinträchtigung und 20 für einen Kunstgelenkersatz des Kniegelenks rechts aus. Dem hiergegen erhobenen Widerspruch, den die Klägerin unter anderem damit begründete, sie könne seit einem Fußbruch 2021 nur noch unter starken Schmerzen und nur in der Wohnung einige Schritte gehen, außerhalb der Wohnung werde sie von ihrem Mann im Rollstuhl gefahren, gab er mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2022 statt, als er den GdB mit 90 feststellte bei Bestätigung der Ablehnung des Merkzeichens „aG“. Er berücksichtigte zusätzlich eine Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenks rechts und bewertete diese zusammen mit dem Knieleiden mit einem Einzel-GdB von 30. Die Rechtsbehelfsbelehrung in dem Widerspruchsbescheid lautet auszugsweise wie folgt:

 

Rechtsbehelfsbelehrung

 

Gegen diesen Bescheid kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Klage beim Sozialgericht Berlin, Invalidenstr. 52, 10557 Berlin erhoben werden.

 

Hinweise zur Rechtsbehelfsbelehrung

 

Die Klage ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts oder in elektronischer Form mit einer qualifizierten elektronischen Signatur im Sinne des Vertrauensdienstegesetzes (VDG) versehen oder mittels absenderauthentifizierten De-Mail zu erheben. Ab dem 01.01.2022 muss der in § 65d SGG genannte Personenkreis Klagen grundsätzlich elektronisch einreichen.

 

[…]“

 

Der Widerspruchsbescheid wurde am 14. Juli 2022 zur Post aufgegeben.

 

Die Klägerin hat am 24. April 2023 Klage erhoben. Die Klage sei zulässig, da die Klagefrist wegen falscher Rechtsbehelfsbelehrung ein Jahr betrage. Sie hat einen vorläufigen Entlassungsbrief des S G-Krankenhauses vom 15. November 2022 zu den Gerichtsakten gereicht, in dem unter anderem mitgeteilt wird, der Gang sei am Rollator bis zu 100 Metern bei eingeschränkter Aufrichtung möglich, spätestens dann habe sie eine Belastungsdyspnoe. Die Klägerin hat unter Vorlage eines ärztlichen Attests auf einen bei ihr bestehenden Blepharospasmus hingewiesen, der allein einen Einzel-GdB von 100 rechtfertige.

 

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 28. September 2023 abgewiesen. Die Klage sei wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig. Der Widerspruchsbescheid sei der Klägerin nach Maßgabe des § 37 Abs. 2 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) am 17. Juli 2022 zugegangen, einen späteren Zugang habe sie nicht behauptet. Die Klagefrist sei somit am 17. August 2022 abgelaufen, die am 24. April 2023 eingegangene Klage verspätet. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid sei auch dann zutreffend, wenn man annehme, es sei auch über die Form der Klage und die Möglichkeit der elektronischen Klageerhebung zu belehren. Denn in der Rechtsbehelfsbelehrung werde die Möglichkeit einer elektronischen Klageerhebung erwähnt und diese nicht auf die Möglichkeit einer qualifizierten elektronischen Signatur beschränkt. Vielmehr werde auch ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erwähnt. Weitergehender Hinweise auf spezielle Formen der elektronischen Kommunikation habe es nicht bedurft, da bereits der Hinweis auf die Möglichkeit einer elektronischen Übermittlung der Klage ausreiche, um den Kläger über die erforderliche und zugelassene Form seines Rechtsbehelfs zu informieren und ihm eine formgerechte Klage zu ermöglichen. Wiedereinsetzungsgründe nach § 67 Abs. 1 SGG seien ebenfalls nicht vorgetragen worden.

 

Gegen den ihr am 6. Oktober 2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 19. Oktober 2023 Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe den Unterschied zwischen einer Klageerhebung mit qualifizierter elektronischer Signatur und einer Klageerhebung ohne qualifizierte elektronische Signatur auf einem sicheren Übermittlungsweg verkannt.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 2023 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 4. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juli 2022 zu verurteilen, zu ihren Gunsten mit Wirkung ab dem 12. April 2021 den Grad der Behinderung mit 100 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ festzustellen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Bezüglich der elektronischen Form sei in der Rechtsbehelfsbelehrung die Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur oder De-Mail genannt worden. Diese Übermittlungswege seien für die betroffene Personengruppe von Antragstellerinnen und Antragstellern im Schwerbehindertenverfahren am praktikabelsten. Weitere Ausführungen zu elektronischen Übermittlungsmöglichkeiten hätten dem Überfrachtungsverbot widersprochen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden kann, ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Berlin und der Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht begründet.

 

Rechtsgrundlage für diese Entscheidung ist § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Hiernach kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage (zu Unrecht) abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Denn das Sozialgericht hat die Klage wegen Versäumung der Klagefrist zu Unrecht als unzulässig abgewiesen und damit nicht in der Sache selbst entschieden.

 

Allerdings hat die Klägerin die Klagefrist nach § 87 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGG nicht gewahrt, wonach die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben ist. Denn hier galt der Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2022 als am 17. Juli 2022 bekanntgegeben (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X), was das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat. Dass die Klage vom 24. April 2023 weit außerhalb der einmonatigen Klagefrist erhoben worden ist, bestreitet auch die Klägerin nicht. Hier galt die einmonatige Klagefrist aber nicht. Denn nach § 66 Abs. 1 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs grundsätzlich innerhalb eines Jahres seit Zustellung zulässig (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG). Hier ist die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig erteilt worden.

 

Die Rechtsbehelfsbelehrung dient vor allem dem Zweck, rechtsunkundige Beteiligte darüber zu unterrichten, auf welchem Weg sie die ergangene Entscheidung anfechten können (vgl. hierzu und zum Folgenden Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 9. März 2023 - B 4 AS 104/22 BH – juris). Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Belehrung zumindest diejenigen Merkmale zutreffend wiedergeben, die § 66 Abs. 1 SGG als Bestandteile der Belehrung ausdrücklich nennt. Gleichzeitig muss sie so einfach und klar wie möglich gehalten sein (sog. Überfrachtungsverbot). Hiervon ausgehend muss sie nicht allen tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten Rechnung tragen, sondern den Beteiligten nur in die richtige Richtung lenken (sog. Wegweiserfunktion). Diese Funktion ist erfüllt, wenn sie einen Hinweis darauf gibt, welche ersten Schritte ein Beteiligter unternehmen muss.

 

Ob über den Wortlaut der Regelung des § 66 Abs. 1 SGG hinaus nach ihrem Sinn und Zweck auch eine Belehrung über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften erforderlich ist (dafür jetzt BSG, Urteil vom 27. September 2023 – B 7 AS 10/22 R – juris), kann ebenso offenbleiben wie die Frage, ob es sich bei der elektronischen Form um eine eigenständige gleichberechtigte Kommunikationsform neben der herkömmlichen Schriftform handelt oder um einen Unterfall der Schriftform. Denn jedenfalls muss eine Rechtsbehelfsbelehrung richtig, vollständig und unmissverständlich sein, wenn sie auch Angaben, die gegebenenfalls nicht zwingend vorgeschrieben sind, enthält (BSG, Beschluss vom 9. März 2023 - B 4 AS 104/22 BH – juris).

 

Gemessen an vorstehenden Maßstäben ist die hier in Rede stehende Rechtsbehelfsbelehrung nicht vollständig und daher missverständlich. Denn es wird zum einen auf die Möglichkeit einer Klageeinreichung mit qualifizierter elektronischer Signatur (§ 65a Abs. 3 Satz 1 1. Alt. SGG), zum anderen aber nur auf die weitere Möglichkeit der Klageeinreichung mittels absenderauthentifizierter De-Mail hingewiesen. Bei letzterer handelt es sich um einen sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 65a Abs. 3 Satz 1 2. Alt., Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGG. Es fehlt aber damit der Hinweis auf die für natürliche Personen in Betracht kommenden sicheren Übermittlungswege des § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 4, 5 SGG. Dabei handelt es sich um das elektronische Bürger- und Organisationenpostfach (eBO) (Nr. 4) und den Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens genutzten Postfach- und Versanddienst eines Nutzerkontos im Sinne des § 2 Absatz 5 des Onlinezugangsgesetzes (OZG) und der elektronischen Poststelle des Gerichts (Nr. 5, Nutzerkonto nach dem OZG). Auch fehlt – für den hier ja auch eingetretenen Fall, dass sich der unvertretene Rechtsmittelführer anwaltliche Hilfe sucht – ein Hinweis auf das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) (§ 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG). Der Senat verkennt nicht, dass mit Blick auf das skizzierte Überfrachtungsverbot eine allzu kleinteilige Rechtsbehelfsbelehrung nicht zu verlangen ist. Die hier vorliegende Benennung nur eines einzigen sicheren Übermittlungsweges - absenderauthentifizierte De-Mail - erweckt aber den unzutreffenden Eindruck, es gebe insoweit nur diese Möglichkeit. Damit ist er unvollständig und irreführend. Der Senat zitiert als Denkanstoß für eine ausreichende Rechtsbehelfsbelehrung folgende Ausführungen des BSG, die einen denkbaren Weg für eine zutreffende, aber auch nicht überbordende Rechtsbehelfsbelehrung aufzeigt (Beschluss vom 9. März 2023 - B 4 AS 104/22 BH – juris, Rn. 17):

 

„Die Klägerin ist in der Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die elektronische Form nur durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt wird, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und entweder von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 65a Abs 4 SGG eingereicht worden ist. Zudem ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass sich weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur aus der ERVV in der jeweils gültigen Fassung ergeben. Schließlich ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass Informationen hierzu über das Internetportal des BSG abgerufen werden können.“

 

Angepasst auf die hier vorliegende Fallkonstellation könnte sich ein Verweis auf das Internetportal des Sozialgerichts Berlin anbieten.

 

Im Rahmen der gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung hat sich der Senat veranlasst gesehen, die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen, weil er dem Erhalt des Instanzenzuges im vorliegenden Fall den Vorrang gegenüber dem Interesse der Beteiligten an einer möglicherweise geringfügig schnelleren Sachentscheidung eingeräumt hat. Insoweit war das objektive Interesse der Klägerin an dem Erhalt beider Tatsacheninstanzen zur Prüfung ihres Begehrens in der Sache und die recht kurze Zeit der Anhängigkeit der Sache bei dem Senat wie auch insgesamt bei der Sozialgerichtsbarkeit zu berücksichtigen. Der Sachverhalt ist auch nicht derart klar, dass der Senat ohne weitere Sachverhaltsmittlungen „durchentscheiden“ könnte, weil sich in Bezug auf den GdB Fragen etwa hinsichtlich der Bewertung des Blepharospasmus stellen und auch das sich aus der Aktenlage ergebende Gangbild der Klägerin keinen eindeutigen Schluss hinsichtlich des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ zulässt. Schließlich haben die Beteiligten auf das gerichtliche Schreiben vom 12. Dezember 2023, in dem auf die Möglichkeit einer Zurückverweisung hingewiesen wurde, keine generellen Einwände gegen die erwogene Verfahrensweise geäußert.

 

Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Sie ist der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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