L 25 AS 99/24

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 179 AS 7807/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 99/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Die Rechtsstellung des Familienangehörigen ist eine akzessorisches; der Bestand seines Freizügigkeitsrechts ist abhängig vom Bestand des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers und dem Fortbestehen der familiären Bindung.
  2. Sofern der Unionsbürger durch dauerhaften Wegzug in sein Heimatland sein Freizügigkeitsrecht aufgibt, kann er dem im Mitgliedstaat verbliebenen Unionsbürger kein Aufenthaltsrecht mehr vermitteln.
  3. Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG hat keinen eigenständigen Anwendungsbereich, was erklärt, warum der Gesetzgeber auf dessen Umsetzung in nationales Recht verzichtet hat.

 

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für den gesamten Rechtsstreit nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Streitig sind Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Monate Juni und Juli 2020.

 

Die 1998 geborene Klägerin zu 1. und ihre Kinder, die 2016 geborene Klägerin zu 2. und der 2019 geborene Kläger zu 3., lebten zusammen mit dem damaligen Ehemann der Klägerin zu 1., Herrn  N (N), in einer Bedarfsgemeinschaft. Alle vorgenannten Personen sind rumänische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1. hält sich frühestens seit August 2015 in Deutschland auf. Die Klägerin zu 1. war bis zum streitigen Zeitraum nie berufstätig in Deutschland gewesen, die Kläger zu 2. und 3. haben im streitigen Zeitraum nicht die Schule besucht.

 

N war abhängig beschäftigt vom 22. Mai bis zum 31. August 2017 als Bauhelfer sowie vom 1. Februar bis zum 30. November 2018 als Reinigungskraft. Nach Lage der Akten liegt eine Bescheinigung der zuständigen Agentur für Arbeit über die unfreiwillige Arbeitslosigkeit des N vor. N war ausweislich einer erweiterten Meldebescheinigung des Bezirksamtes N  seit dem 30. Mai 2013 durchgehend in B gemeldet.

 

Die Kläger bewohnten eine Wohnung zu einer Warmmiete von 895,- Euro monatlich. Einkommen bestand nur in Form von Kindergeld in Gesamthöhe von 408,- Euro.

 

Mit Bescheid vom 28. Mai 2019 in der Gestalt diverser Änderungsbescheide bewilligte der Beklagte den Klägern und N Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum von Juni 2019 bis Mai 2020. Am 23. März 2020 zog N aus dem gemeinsamen Haushalt aus und zurück nach Rumänien. Anschließend beantragte die Klägerin zu 1. in Rumänien die Scheidung. Am 12. Februar 2021 ist die Ehe der Klägerin zu 1. und N in Rumänien durch Vereinbarung der Eheleute vor einem öffentlichen Notar geschieden worden. Nach Aufhebungsbescheid bewilligte der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 26. April 2021 Leistungen für April und Mai 2020.

 

Den Antrag der Kläger auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab Juni 2020 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 27. Juli 2020 ab, weil sich die Klägerin zu 1. allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalte. Bei der Klägerin zu 1. wurde am 26. August 2020 die Schwangerschaft in der 16. Schwangerschaftswoche bei einem berechneten Entbindungstermin am 12. Februar 2021 festgestellt. Nachdem die Klägerin zu 1. bereits zum 3. August 2020 eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen hatte, bewilligte der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 6. Oktober 2020 Leistungen nach dem SGB II ab dem 1. August 2020 vorläufig. Im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger durch Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 2020 zurück. Im streitigen Zeitraum habe sich die Klägerin zu 1. nur zum Zweck der Arbeitsuche aufgehalten. Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht über N komme nach dessen Auszug nicht in Betracht.

 

Hiergegen haben die Kläger am 4. November 2020 Klage erhoben. Sie haben vorgetragen, auch nach dem Wegzug des N hätten sie über diesen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Dies folge aus Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG (RL 2004/38/EG).

 

Durch Urteil vom 20. Dezember 2023 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Oktober 2020 verurteilt, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. Juni bis zum 31. Juli 2020 zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Kläger hätten unstreitig und unzweifelhaft bis zum Wegzug des N ein materielles Aufenthaltsrecht als Familienangehörige eines wegen Arbeitnehmereigenschaft materiell aufenthaltsberechtigten EU-Bürgers gehabt. Das Aufenthaltsrecht des N habe sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsrechts/EU (FreizügG/EU) bzw. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und dementsprechend fingierter Arbeitnehmereigenschaft ergeben. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht der Kläger habe sich aus § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ergeben. Nach dem Wegzug des N lasse sich ein anderes Aufenthaltsrecht der Kläger als eines zur Arbeitsuche zwar weder aus dem FreizügG/EU noch aus dem sonstigen bundesdeutschen Migrationsrecht herleiten. Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG sehe aber für Unionsbürger in Fällen wie dem vorliegenden eine Aufrechterhaltung des abgeleiteten Aufenthaltsrecht unabhängig von der Dauer des Zusammenlebens vor. Die RL 2004/38/EG sei mangels Umsetzung in das nationale Recht unmittelbar anzuwenden.

 

Gegen das ihm am 17. Januar 2024 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 2. Februar 2024 Berufung eingelegt. Er meint, die Kläger hätten ein Aufenthaltsrecht nur zur Arbeitsuche. Dabei könne offenbleiben, ob Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG überhaupt anwendbar sei. Denn N habe bereits zum Zeitpunkt seines Wegzuges nach Rumänien kein materielles Daueraufenthaltsrecht als Arbeitnehmer gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bzw. § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gehabt. Für einen zeitlich unbefristeten Erhalt des Arbeitnehmerstatus sei eine Beschäftigung von genau einem Jahr oder mehr Voraussetzung. Hierbei könnten sich Zeiten mehrerer Beschäftigungen auch aneinanderreihen. Der Zeitraum von zwölf Monaten beginne bei Wechsel der Tätigkeiten nicht neu, sofern die Unterbrechung zwischen der alten und neuen Beschäftigung nur von kurzer Dauer sei. Die Unterbrechung sei in der Regel kurz, wenn sie im Verhältnis zur Dauer der Beschäftigung nicht mehr als 5 % betrage. Bei längerer Dauer sei im jeweiligen Einzelfall zu prüfen ob die Unterbrechung unschädlich sei. Eine Beschäftigung von genau einem Jahr oder mehr habe N nicht ausgeübt. Seine Beschäftigungen hätten jeweils für sich genommen weniger als ein Jahr gedauert. Die beiden Beschäftigungen könnten auch nicht aneinandergereiht werden. Denn der Zeitraum der Unterbrechung zwischen der ersten und der zweiten Beschäftigung betrage fünf Monate und sei daher nicht nur von kurzer Dauer. Somit habe N nach dem Ende der letzten Beschäftigung am 30. November 2018 lediglich über einen fortwirkenden Arbeitnehmerstatus für sechs Monate bis zum 30. Mai 2019 verfügt. N habe auch über kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU verfügt, obwohl er seit dem 30. Mai 2013 durchgehend in B gemeldet gewesen sei. Denn er habe nur in den vorgenannten Zeiträumen eine Beschäftigung in Deutschland ausgeübt.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Kläger beantragen,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie meinen, dass die Beschäftigungen des N zusammengezählt werden könnten, N so ein materielles Daueraufenthaltsrecht als Arbeitnehmer gehabt habe, so dass die Kläger ein über N abgeleitetes Aufenthaltsrecht hätten.

 

Mit Beschluss vom 1. Juli 2024 hat der Senat den Sozialhilfeträger beigeladen. Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, weist aber auf § 3 Abs. 4 FreizügG/EU hin, wonach auch nach Scheidung ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige bestehen bleibe.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die die Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.

 

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist unzutreffend. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 27. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Oktober 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten. Ihnen stehen für den Zeitraum vom 1. Juni bis 31. Juli 2020 keine Leistungen nach dem SGB II zu.

 

Die Kläger erfüllen zwar ohne weiteres die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II – die Kläger zu 2. und 3. sind nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerin zu 1. ist aber gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Danach sind von Leistungen ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Die Klägerin zu 1. ist Ausländerin. Sie hat sich im streitigen Zeitraum auch nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufgehalten. Die Kläger zu 2. und 3. sind als Familienangehörige der Klägerin zu 1. ebenfalls von Leistungen ausgeschlossen.

 

Die Klägerin zu 1. verfügte im streitigen Zeitraum zunächst über kein Daueraufenthaltsrecht nach § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II, weil auch ausgehend vom frühesten Aufenthaltsbeginn in Deutschland im August 2015 im streitigen Zeitraum noch keine fünf Jahre verstrichen waren. § 3 Abs. 4 FreizügG/EU in der hier noch anwendbaren bis 23. November 2020 geltenden Fassung (aF) ist hier nicht einschlägig. Denn danach behalten die Kinder eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers und der Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich ausübt, auch nach dem Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, von dem sie ihr Aufenthaltsrecht ableiten, bis zum Abschluss einer Ausbildung ihr Aufenthaltsrecht, wenn sich die Kinder im Bundesgebiet aufhalten und eine Ausbildungseinrichtung besuchen. Die im streitigen Zeitraum schon aufgrund ihres Alters nicht schulpflichtigen Kläger zu 2. und 3. haben keine Ausbildungseinrichtung besucht. Auch der von dem Beigeladenen erwähnte § 3 Abs. 5 FreizügG/EU aF, der die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsrecht für den Fall der Scheidung regelt, ist hier bereits nicht einschlägig, weil er nur für Ehegatten gilt, die nicht Unionsbürger sind. Ungeachtet dessen wäre die Einleitung eines gerichtlichen Scheidungsverfahrens vor der Ausreise des Unionsbürgers Voraussetzung, damit sich der drittstaatsangehörige Ehegatte auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht berufen kann (NK-AuslR/Oberhäuser FreizügG/EU § 3 Rn. 38). Hier ist das Scheidungsverfahren aber erst nach dem Wegzug des N nach Rumänien eingeleitet worden. Die Auffassung, das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers nach Scheidung folge unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 RL 2004/38/EG (NK-AuslR/Oberhäuser FreizügG/EU § 3 Rn. 36), hilft hier nicht, weil die Ehe weit nach dem hier streitigen Zeitraum geschieden worden ist.

 

Die Klägerin zu 1. hatte schließlich auch kein über N abgeleitetes Aufenthaltsrecht, nachdem dieser am 23. März 2020 aus dem gemeinsamen Haushalt ausgezogen ist und Deutschland verlassen hat. Denn § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Die Rechtsstellung des Familienangehörigen ist eine akzessorisches; der Bestand seines Freizügigkeitsrechts ist abhängig vom Bestand des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers und dem Fortbestehen der familiären Bindung (so richtig BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 3 Rn. 5; Bergmann/Dienelt/Dienelt FreizügG/EU § 3 Rn. 16).  Der Begriff „begleiten oder nachziehen“ impliziert eine im Sinne des Ehe- und Familienschutzes schutzwürdige tatsächliche Beziehung (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22/14NVwZ-RR 2015, 910, 913, Rn. 23). Selbst wenn man annimmt, auch der getrennt lebende Ehegatte, der die Scheidung beabsichtige, verfüge bis zur Scheidung über ein Aufenthaltsrecht, wäre mindestens Voraussetzung hierfür, dass beide in demselben Mitgliedstaat bleiben, in dem der Ehegatte, der Unionsbürger ist, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht (vgl. BeckOK MigR/Gerstner-Heck FreizügG/EU § 3 Rn. 7; Hailbronner, Ausländerrecht, § 3 FreizügG/EU Rn. 19: „gleichzeitiger Aufenthalt der Eheleute im Aufnahmemitgliedstaat“). Sofern der Unionsbürger durch dauerhaften Wegzug in sein Heimatland sein Freizügigkeitsrecht aufgibt (vgl. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 3 FreizügG/EU, Nr. 3.1.0), kann er dem im Mitgliedstaat verbliebenen Unionsbürger kein Aufenthaltsrecht mehr vermitteln. Mit dem Wegzug von N nach Rumänien fehlt es hier am Bestand des Freizügigkeitsrechts des N und am Fortbestehen der familiären Bindung, so dass vorliegend im streitigen Zeitraum die Voraussetzungen für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1. nicht mehr vorlagen.

 

Nichts anderes ergibt sich aus Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Die Ansicht, diese Regelung sei unmittelbar anwendbar, weil sie nicht in deutsches Recht umgesetzt worden ist (dafür BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 3 Rn. 20a; NK-AuslR/Oberhäuser FreizügG/EU § 3 Rn. 31), beruht auf einer fehlerhaften Lesart der Vorschrift. Art. 12 RL 2004/38/EG regelt Tatbestände über die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers. Umgesetzt hat der deutsche Gesetzgeber die Regelung in Art. 12 Abs. 3 RL 2004/38/EG, die sich in dem bereits erörterten und hier nicht einschlägigen § 3 Abs. 4 FreizügG/EU (aF, selbe Regelung jetzt in Abs. 3) wiederfindet. Art. 12 Abs. 2 RL 2004/38/EG – umgesetzt in § 3 Abs. 3 FreizügG/EU (aF, selbe Regelung jetzt in Abs. 2) - ist nicht einschlägig, weil er den hier nicht vorliegenden Fall des Todes des Unionsbürgers regelt und zudem nur für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, gilt. Außerdem setzt die Regelung nach Art. 12 Abs. 2 Unterabsatz (UA) 2 RL 2004/38/EG voraus, dass die Familienangehörigen Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Alle diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

 

Aus Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG können die Kläger keine weitergehenden Rechte ableiten. Denn diese Vorschrift hat keinen eigenständigen Anwendungsbereich, was erklärt, warum der Gesetzgeber auf dessen Umsetzung in nationales Recht verzichtet hat (so Hailbronner, Ausländerrecht, § 3 FreizügG/EU Rn. 28; auch Groß, ZAR 2006, 61, 64). Die Rechtsfolge des Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG ergibt sich bereits aus § 2 FreizügG/EU.

 

Gemäß Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG berührt unbeschadet von UA 2 der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. UA 2 regelt, dass bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a), b), c) oder d) erfüllen müssen. Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG regelt nun Folgendes:

 

Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

 

a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

 

b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

 

c)

— bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

 

— über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

 

d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

 

Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG besagt also, was die Regelung in UA 2 verdeutlicht, nichts weiter, als dass Unionsbürger, die bislang über ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht verfügten, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben können, was aber voraussetzt, dass sie die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllen. Die Klägerin zu 1. erfüllte aber zum einen die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 a) bis c) RL 2004/38/EG ersichtlich nicht. Sie war im streitigen Zeitraum nicht Arbeitnehmerin oder Selbständige und verfügte auch nicht über ausreichende Existenzmittel. Sie hatte aber auch – wie bereits erörtert - kein über N abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 d) RL 2004/38/EG, weil N im März 2020 aus Deutschland nach Rumänien verzogen war. Gegen die hier vertretene Auslegung des Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG spricht nicht, dass dessen UA 2 auch auf Art. 7 Abs. 1 d) RL 2004/38/EG verweist. Denn dies besagt nur, dass ein von mehreren Unionsbürgern abgeleitetes Aufenthaltsrecht insoweit bestehen bleibt, als ein Unionsbürger, der ein Aufenthaltsrecht vermittelt, verbleibt. Wäre beispielsweise die Klägerin zu 1. im streitigen Zeitraum Arbeitnehmerin gewesen, hätte sie ein Aufenthaltsrecht an die Kläger zu 2. und 3. vermittelt. Ist aber der einzige das Aufenthaltsrecht vermittelnde Unionsbürger dauerhaft aus dem Mitgliedstaat verzogen, in dem er sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat, ist kein Raum für ein akzessorisches Aufenthaltsrecht der im Mitgliedstaat verbliebenen Unionsbürger. Ein solches vermittelt auch nicht Art. 12 Abs. 1 RL 2004/38/EG, weil er im Wesentlichen nur klarstellt, dass die im Mitgliedstaat verbliebenen Unionsbürger ein eigenständiges Aufenthaltsrecht begründen können. Somit verbleibt für die Klägerin zu 1. allenfalls ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU, das aber vorliegend zum Ausschluss des Anspruchs auf SGB II-Leistungen führt.

 

Somit kommt es nicht darauf an, dass N bis zu seinem Wegzug nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt war, weil sein Arbeitnehmerstatus ihm nach mehr als einjähriger Beschäftigung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU erhalten geblieben ist (und so auch die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 3 c) RL 2004/38/EG vorlagen). Insoweit ist es, ohne dass es hier darauf ankommt, schon richtig, dass die Beschäftigungen des N nach Maßgabe der Äußerungen des Senats in seinem Urteil vom 17. Dezember 2019 (L 25 AS 1831/18 – juris, Rn. 32) zusammenzurechnen wären, weil N in einem Zeitraum von etwas mehr als 18 Monaten mehr als 13 Monate gearbeitet hat, so dass im vorliegenden Fall keine Rede davon sein kann, N habe die Tätigkeitsdauer von mehr als einem Jahr „eher zufällig“ erreicht.

 

Darauf, dass N – wenn nicht nach § 4a FreizügG/EU, so doch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II - ein Daueraufenthaltsrecht nach fünf Jahren gewöhnlichem Aufenthalt erworben haben dürfte, kommt es nicht an, weil nach seinem Wegzug nach Rumänien die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU nicht mehr vorlagen. Dass § 3 Abs. 1 FreizügG/EU nicht auf § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU und damit nicht auf das – allerdings nach § 4a FreizügG/EU erworbene - Daueraufenthaltsrecht verweist (vgl. zum Problem NK-AuslR/Oberhäuser FreizügG/EU § 3 Rn. 14), ist also unmaßgeblich.

 

Der Leistungsausschluss der Kläger ist grundrechts- und europarechtskonform (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 29. März 2022 - B 4 AS 2/21 R – juris; vgl. auch Schlette in: Hauck/Noftz SGB XII, 4. Ergänzungslieferung 2024, § 23 SGB XII Rn. 91).

 

Auch ein Anspruch gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger besteht hier nicht. Denn die Klägerin zu 1., die – wie im SGB II – auch nach § 23 Abs. 3 Satz 7, 8 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) kein Daueraufenthaltsrecht nach fünf Jahren gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland erworben hat, war nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII auch von Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen. Die Möglichkeit, dass der Sozialhilfeträger im Wege einer Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigen (Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens <EFA>) leistungspflichtig ist (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2022 - B 4 AS 2/21 R – juris), besteht hier nicht, weil Rumänien kein EFA-Staat ist. Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 5 SGB XII kommen nicht in Betracht, weil diese längstens für einen Monat erbracht werden, die Kläger aber nach Verlust ihres Leistungsanspruchs schon für die Monate April und Mai 2020 zu Unrecht Leistungen nach dem SGB II bezogen haben. Bei den Klägern liegen auch die Voraussetzungen der Härtefallklausel des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht vor. Denkbar wäre ein Härtefall vorliegend allenfalls unter dem Blickwinkel der Schwangerschaft der Klägerin zu 1. (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. September 2019 - L 31 AS 1627/19 B ER, L 31 AS 1628/19 B ER PKH – juris). Da diese erst am 26. August 2020 bei einem errechneten Entbindungstermin am 12. Februar 2021 festgestellt wurde, kann der Senat eine besondere Härte für die streitigen Monate Juni und Juli 2020 aber nicht erkennen. Die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise (vgl. BeckOGK/Treichel SGB XII § 23 Rn. 88) liegt auch insoweit nicht vor, als die Kläger zu 2. und 3. nicht schulpflichtig waren und daher auch nicht die Wiederholung einer Klassenstufe zu besorgen war (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017 - L 15 SO 104/17 B ER – juris).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

Rechtskraft
Aus
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