L 2 SO 1332/24 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 11 SO 793/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 1332/24 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. April 2024 wird zurückgewiesen.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. April 2024 wird zurückgewiesen.

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.


Gründe


Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stuttgart vom 9. April 2024 hat keinen Erfolg. Mit diesem Beschluss hat das SG den Antrag des Antragstellers auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in gesetzlicher Höhe – einschließlich einer Anmeldung des Antragstellers bei der AOK B1 – für die Dauer von 12 Monaten abgelehnt. Es sei schon kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.


Die am 21. April 2024 beim SG eingegangene Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.


Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], 2. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2019 - 1 BvR 169/19 - juris Rn. 15; Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 6. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - <beide juris> jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt Kommentar zum SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 42).

Aus dem Gegenwartsbezug der einstweiligen Anordnung folgt zunächst, dass dieser vorläufige Rechtsbehelf für bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung zurückliegende Zeiträume nur ausnahmsweise in Betracht kommt; es muss durch die Nichtleistung in der Vergangenheit eine aktuell fortwirkende Notlage entstanden sein, die den Betroffenen in seiner menschenwürdigen Existenz bedroht (vgl. hierzu etwa Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG), Beschluss vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - juris). Im Übrigen besteht ein Anordnungsgrund, wenn der Betroffene bei Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache Gefahr laufen würde, seine Rechte nicht mehr realisieren zu können oder gegenwärtige schwere, unzumutbare, irreparable rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile erlitte. Die individuelle Interessenlage des Betroffenen, unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragsgegners, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter muss es unzumutbar erscheinen lassen, den Betroffenen zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Danach besteht ein Anordnungsgrund z.B. dann nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann (vgl. LSG, Beschluss vom 6. März 2017 - L 7 SO 420/17 ER-B - juris Rn. 8 m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 21. September 2016 - 1 BvR 1825/16 - juris Rn. 4) und sich den Ausführungen des Antragstellers keine gewichtigen Anhaltspunkte entnehmen lassen, dass die finanziellen Kapazitäten vollständig ausgeschöpft sind (BVerfG, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 BvR 1630/16 - juris Rn. 12). Bei der Frage des Anordnungsgrundes können auch Mittel Berücksichtigung finden, die bei der materiellen Frage der Hilfebedürftigkeit außen vor bleiben müssen, weil es sich um Schonvermögen (§ 90 Abs. 2 SGB XII) oder nicht zu berücksichtigendes Einkommen (§ 82 SGB XII) handelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 - 1 BvR 535/07 -; LSG, Beschluss vom 6. März 2017 - L 7 SO 420/17 ER-B - juris Rn. 9; Beschluss vom 14. März 2019 - L 7 AS 634/19 ER-B - juris Rn. 8). Wie bereits dargelegt, beurteilt sich in einem auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteten Verfahren das Vorliegen eines Anordnungsgrundes grundsätzlich nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Antrag entscheidet, im Beschwerdeverfahren mithin nach dem Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.

Das SG hat zutreffend gestützt auf das Urteil des BSG vom 29. März 2022 (- B 4 AS 2/21 R -, juris) bereits einen Anordnungsanspruch des Antragstellers auf die hier begehrten Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII verneint. Denn die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 SGB XII liegen vor. Der Antragsteller ist nicht erwerbstätig, hält sich unstreitig seit dem 18. November 2022 in S1 auf und ist nach eigenen Angaben zum Zwecke der Arbeitssuche eingereist. Ein anderweitiges Aufenthaltsrecht des Antragstellers ist nicht ersichtlich wird auch vom Antragsteller nicht vorgetragen.

Soweit der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdebegründung bemängelt, dass das SG in seinem Beschluss übersehen habe, dass eine Verlustfeststellung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht vorliege und damit eine Ausreisepflicht nicht bestehe, ist dem entgegenzuhalten, dass das Bundessozialgericht (BSG) - wie bereits vom SG zitiert - entschieden hat, dass die Auffassung, es müsse ein Leistungsanspruch bestehen, solange der Staat das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nicht festgestellt habe, nicht der gesetzlichen Konzeption entspreche (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2022 - B 4 AS 2/21 R - juris Rn. 41). Im Übrigen hat auch das BVerfG im Kontext des § 120 Abs. 5 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nicht beanstandet, wenn das Leistungsrecht dem Betroffenen faktisch engere Vorgaben macht als sie ihm ausländerrechtlich vorgegeben sind. Ähnlich wie eine unterbliebene Vermögensverwertung nicht zu einem Leistungsanspruch führt, sind Leistungen nicht allein deshalb zu gewähren, weil die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland unterbleibt (BSG aaO juris Rn. 41 mwN).

So darf der Gesetzgeber Unionsbürger auch regelmäßig darauf verweisen, die erforderlichen Existenzsicherungsleistungen durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat als Ausprägung der eigenverantwortlichen Selbsthilfe zu realisieren (BSG aaO juris Rn. 38 mwN). Auch das BVerfG hat bereits von einem Beschwerdeführer verlangt, sich mit der Möglichkeit einer Bedarfsdeckung im Ausland auseinanderzusetzen (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 4. Oktober 2016 -1 BvR 2778/13 - juris Rn. 8)

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem vom Bevollmächtigten des Antragstellers zitierten Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 (- 1 BvL 10/10 -, - 1 Bvl 2/11 -, juris) zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und insbesondere der dortigen Formulierung, dass Existenzminimum müsse in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Denn die dortigen Ausführungen betrafen zum einen nur die Frage der höhenmäßigen Bemessung des Bedarfs, nicht aber die davon zu trennende Frage der Zumutbarkeit anderer Bedarfsdeckung und Bedarfsvermeidung. Zum anderen betrafen sie nur den von § 1 Abs. 1 AsylbLG erfassten Personenkreis, bei dem der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass diesem eine Rückreise in das Heimatland gegenwärtig nicht möglich oder zumutbar ist. Dies ist bei Unionsbürgern grundsätzlich, vorbehaltlich individueller Umstände im Einzelfall, anders (siehe hierzu insgesamt mit weiteren Fundstellen BSG aaO juris Rn. 39).

Auch aus der Formulierung des BVerfG, die Menschenwürde dürfe nicht migrationspolitisch relativiert werden folgt nichts anderes (BSG aaO juris Rn. 40). Abgesehen davon, dass die - eine Abwägung schlechthin nicht zugängliche - Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz - GG -) nicht identisch ist mit dem auf Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angewiesenen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG), ist diese Formulierung in thematischen - auf den Anwendungsbereich des AsylbLG bezogenen - Kontext zu sehen. Sie bezog sich auf eine Absenkung des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum für einen Personenkreis, dem (wie ausgeführt) eine Rückkehr in das Herkunftsland prima facie nicht zumutbar ist und nicht auf den hier betroffenen Personenkreis der Unionsbürger (BSG aaO juris Rn. 40).

Auch die weitere vom Bevollmächtigten des Antragstellers zitierte Entscheidung des BVerfG vom 19. Oktober 2022 (1 BvL 3/21) passt nicht auf den hier vorliegenden Sachverhalt eines Unionsbürgers, denn auch diese Entscheidung betrifft die Höhe von Leistungen nach dem AsylbLG, sodass das oben Gesagte auch hier gilt.

Das ferner vom Bevollmächtigten zitierte Urteil des BVerfG vom 5. November 2019 betrifft ebenfalls einen anderen Personenkreis, nämlich die Leistungsempfänger nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Zusammenhang mit Sanktionen nach § 31a SGB II, also ebenfalls einen Personenkreis, der anders als der Antragsteller, über einen gesicherten Aufenthalt verfügt.
Das schließlich zitierte Urteil des BSG vom 3. Dezember 2015 (B 4 AS 44/15 R) ist noch zur alten Rechtslage (vor dem 29. Dezember 2016) ergangen und damit nicht zu der hier maßgeblichen neuen Regelung in § 23 SGB XII (in der Fassung vom 29. Dezember 2016), die das BSG in dem oben zitierten Urteil vom 29. März 2022 (B 4 AS 2/21 R) nicht beanstandet hat.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht hinsichtlich des vom Bevollmächtigten noch zitierten Beschlusses des hessischen LSG vom 31. Oktober 2022 (L 4 S O 133/22, juris) und der zitierten Kommentierung zu § 23 SGB XII (Siefert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII), denn der Senat teilt die dortigen Bedenken nicht und folgt vielmehr der Argumentation des BSG in seinem Urteil vom 29. März 2022 (B 4 AS 2/21 R). Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass für den Antragsteller bereits vom Antragsgegner eine Heimreise samt Begleitperson organisiert und finanziert worden war, dieser dann aber sich weigerte die Heimreise anzutreten, obwohl ihm dies zu diesem Zeitpunkt auch medizinisch zumutbar war. Inwieweit der Antragsteller unter diesen Umständen über mögliche Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII hinaus noch schutzbedürftig sein sollte, erschließt sich dem Senat nicht.

Ein Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII kommt damit nicht in Betracht.

Im Falle des Antragstellers kämen allenfalls Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in Betracht, solche sind jedoch hier im Eilverfahren ausdrücklich nicht beantragt worden.

Nichts anderes gilt auch unter Berücksichtigung des geltend gemachten aktuellen Gesundheitszustandes des Antragstellers (Insulinpflichtigkeit, tägliche Spritze), denn auch insoweit kämen nur Überbrückungsleistungen in Betracht, die aber nicht Gegenstand dieses Eilverfahrens sind.

Soweit darüber hinaus eine Anmeldung bei der AOK B1 begehrt wird hat, das SG zutreffend darauf verwiesen, dass im Rahmen von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 3 SGB XII auch die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln sowie sonstige zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen umfasst sind. Dieser Leistungsumfang ist vorläufig zweckmäßig und ausreichend, zudem ist ein weitergehender Krankenversicherungsschutz im Gesetz auch nicht vorgesehen.

Aus diesen Gründen ist die Beschwerde zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen ist auch die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem SG zurückzuweisen.

Schließlich ist auch der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren aus den genannten Gründen abzulehnen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).  


 

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