L 8 BA 43/24 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Betriebsprüfungen
Abteilung
8
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 72 BA 106/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 BA 43/24 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

 

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 23.02.2024 wird zurückgewiesen.

 

Der Antragsteller trägt 78% und die Antragsgegnerin 22% der Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.

 

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 137.681,25 Euro festgesetzt.

 

 

 

Gründe

 

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Dortmund vom 23.02.2024 ist nach Erlass des Änderungsbescheides vom 15.08.2024 unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17.07.2023 im noch streitgegenständlichen Umfang zu Recht abgelehnt.

 

Gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese auf Antrag ganz oder teilweise anordnen. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine – wie hier erfolgte – Entscheidung über Beitragspflichten und die Anforderung von Beiträgen sowie der darauf entfallenden Nebenkosten haben gem. § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung.

 

Die Entscheidung, ob eine aufschiebende Wirkung ausnahmsweise gem. § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Suspensivinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsakts andererseits (st. Rspr., vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 15.05.2023 – L 8 BA 32/23 B ER – juris Rn. 3 m.w.N.). Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 S. 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (hierzu unter 1.) oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (hierzu unter 2.).

 

1. Da § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG das Vollzugsrisiko bei Beitragsbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Suspensivinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlich erscheinen lassen. Hierfür reicht es nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Maßgebend ist vielmehr, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 15.05.2023 – L 8 BA 32/23 B ER – juris Rn. 4 m.w.N.).

 

Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der Widerspruchs nicht anzuordnen, da dessen Erfolg nicht wahrscheinlich ist. Es spricht nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung derzeit nicht mehr dafür als dagegen, dass sich der von der Antragsgegnerin erlassene Bescheid vom 17.07.2023 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 15.08.2024, mit dem sie vom Antragsteller für die Zeit vom 01.03.2018 bis 31.12.2020 Sozialversicherungsbeiträge einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von (noch) insgesamt 429.438,53 Euro nachfordert, als rechtswidrig erweisen wird.

 

Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung des SG Bezug, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt (§ 142 Abs. 2 S. 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

 

Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers rechtfertigt keine andere Beurteilung.

 

a. Soweit er vorträgt, dass das SG den Beschluss des erkennenden Senats vom 06.04.2022 – L 8 BA 166/20 B ER zur Grundlage seiner ablehnenden Entscheidung gemacht habe, obwohl der dortige Sachverhalt mit dem hiesigen nicht identisch sei, verkennt er den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung. Das SG hat den genannten Beschluss vom 06.04.2022 allein (und im Übrigen zutreffend) dafür zitiert, dass die Aussetzung des steuerrechtlichen Haftungsbescheides durch das Finanzamt für den sozialgerichtlichen Eilbeschluss keine Relevanz entfaltet.

 

b. Entgegen der (wiederholend vorgetragenen) Auffassung des Antragstellers ist die von der Antragsgegnerin vorgenommene Schätzung der Beitragsnachforderung auch nicht „aus Rechtsgründen“ bzw. unter „Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht und dem BGH aufgestellten Grundsätzen“ unzulässig. Nach dem derzeitigen Aktenstand liegen die Voraussetzungen für eine Schätzung vielmehr vor.

 

Gem. § 28f Abs. 2 S. 3 SGB IV hat der prüfende Träger der Rentenversicherung die Höhe der Arbeitsentgelte zu schätzen, soweit er sie nicht oder nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermitteln kann.

 

Die Annahme der Antragsgegnerin, die Ermittlung tatsächlich gezahlter Arbeitsentgelte sei nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand möglich, ist nicht zu beanstanden. Dies gilt sowohl für die im Änderungsbescheid vom 15.08.2024 getroffenen personenbezogenen Feststellungen (hierzu unter aa.) als auch für den (übrigen) Summenschätzbescheid (hierzu unter bb.).

 

aa. Die Antragsgegnerin war befugt (und verpflichtet), den Bescheid vom 17.07.2023 durch personenbezogene Nachberechnungen zu ändern, soweit möglich. Die (Neu-)Feststellungen im Bescheid vom 15.08.2024, der gem. § 86 SGG Gegenstand des (Vor-)Verfahrens geworden ist, haben die vorige Festsetzung nicht (unzulässig, vgl. hierzu z.B. Berchtold, SGG, 6. Aufl., § 77 Rn. 8) verbösert, sondern im Gegenteil zugunsten des Antragstellers zu einer Reduzierung der streitigen Nachforderung geführt. Entsprechend war auch ein Widerruf des ursprünglichen Verwaltungsaktes gemäß § 28f Abs. 2 S. 5 SGB IV i.V.m. § 47 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht erforderlich, zumal die Voraussetzungen dieser Norm nicht erfüllt sind, da es weiterhin an Nachweisen zur (tatsächlichen) Höhe des Arbeitsentgelts fehlt.

 

Unterlagen, aus denen eine personenbezogene Zuordnung der Arbeitsentgelte über die im Änderungsbescheid vom 15.08.2024 berücksichtigten Feststellungen noch genauer zuverlässig rekonstruiert werden könnte, sind weder aufgefunden noch vom Antragsteller vorgelegt worden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine personenbezogene Zuordnung dieser Entgelte mit Wahrscheinlichkeit noch gelingen wird. Der Antragsteller, der zwar (zu seinen Gunsten) eine fehlende Befragung der bekannten Mitarbeiter durch die Antragsgegnerin gerügt hat, ist offenbar nicht gewillt, (selbst) an einer entsprechenden Aufklärung des Sachverhalts (zugunsten seiner Arbeitnehmer) mitzuwirken. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die namentlich bekannten Beschäftigten über die zwischenzeitlich von der Antragsgegnerin nachgeholten Befragungen noch ergänzende, zuverlässige Angaben zu den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bzw. gezahlten Entgelten machen werden, erscheinen im Hinblick auf den aktenkundigen Sachstand unwahrscheinlich. Hierzu ist vom Antragsteller nach Erlass des Änderungsbescheides auch nichts vorgetragen worden.

 

bb. Aus welchen Gründen der Antragsteller meint, die von der Antragsgegnerin vorgenommene Schätzung sei nach den vom Bundesgerichtshof (BGH) aufgestellten Grundsätzen unzulässig, ist nicht verständlich. Vielmehr hat sich die erfolgte Summenschätzung gerade an den obergerichtlich entwickelten Richtlinien, denen auch der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung folgt, orientiert.

 

Eine Berechnung der Nachforderung anhand der „tatsächlich gezahlten Nettolöhne“, wie dies der Antragsteller fordert, ist im Hinblick auf dessen evident fehlerhafte Aufzeichnungen nicht möglich. Allein die eklatante Abweichung seiner digitalen Stundenerfassung von den handschriftlichen Stundenzetteln sowie den Angaben der vom Hauptzollamt (HZA) vernommenen Arbeitnehmer verbietet es, erstere der Beitragsfestsetzung zugrunde zu legen. Dies gilt erst recht unter Berücksichtigung der vom geschäftsführenden Vater des Antragstellers anlässlich der Durchsuchung durch das HZA eingeräumten „willkürlichen Lohnabrechnungen“. Der Vortrag im Beschwerdeverfahren, diesen Aussagen würde „ausdrücklich widersprochen“ bleibt mangels Konkretisierung ohne Relevanz. Die (allein) behaupteten sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten sieht der Senat im Hinblick auf die aktenkundigen Umstände als Schutzvortrag an. Im Übrigen fehlt es hierzu auch an einer – im Eilverfahren gem. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung – ZPO – erforderlichen Glaubhaftmachung.

 

Liegen (wie hier) keine hinreichend verlässlichen Anknüpfungstatsachen für die nähere Bestimmung der Bemessungsgrundlagen vor, so kann – wie dies ausdrücklich auch der BGH entschieden hat – eine an Wahrscheinlichkeitskriterien ausgerichtete Schätzung erfolgen (vgl. BGH Beschl. v. 10.11.2009 – 1 StR 283/09 – juris Rn. 19 m.w.N.). Keinen grundsätzlichen Bedenken begegnet dabei der Ansatz der Antragsgegnerin, im Bereich des lohnintensiven Baugewerbes bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen in Form der Schwarzarbeit grundsätzlich zwei Drittel des Nettoumsatzes als Nettolohnsumme zu veranschlagen (vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 15.01.2024 – L 8 BA 114/22 B ER; Beschl. v. 13.07.2022 – L 8 BA 49/21 B ER – juris Rn. 24 m.w.N.; Beschl. v. 06.04.2022 – L 8 BA 166/20 B ER – juris Rn. 4; BGH Beschl. v. 10.11.2009 – 1 StR 283/09 – juris Rn. 21 ff. m.w.N.). Dass eine entsprechende Vorgehensweise den Antragsteller in nicht angemessener Weise belasten könnte, ist bei summarischer Prüfung nicht ersichtlich.

 

cc. Aus welcher Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Antragsteller eine ihm günstige Entscheidung ableiten will, ist weder konkret vorgetragen noch sonst ersichtlich.

 

c. Soweit er mit seiner Beschwerdebegründung vom 17.04.2024 ergänzend auf eine Verfügung der Staatsanwaltschaft L. zum Aktenzeichen ….. vom 00.00.0000 verwiesen hat, nach der die strafgerichtliche Hauptverhandlung bis zur Vorlage eines von der Antragsgegnerin angekündigten angepassten Prüfbescheides ausgesetzt werden solle, verkennt der Antragsteller, dass bei der statusrechtlichen Beurteilung keinerlei Bindung an andere Behörden besteht. Der Sonderrechtsbereich sozialversicherungsrechtlicher Abwägungsentscheidungen erfordert eigenständige Würdigungen; eine uneingeschränkte Parallelität zu anderen (Teil-)Bereichen der Gesamtrechtsordnung liegt insofern von vornherein nicht vor (vgl. BSG Urt. v. 11.11.2015 – B 12 KR 13/14 R – juris Rn. 24 m.w.N.; Senatsurt. v. 14.06.2023 – L 8 BA 208/18 – juris Rn. 74; Beschl. v. 23.11.2022 – L 8 BA 105/22 B ER – juris Rn. 7; Beschl. v. 06.04.2022 – L 8 BA 166/20 B ER – juris Rn. 7; Urt. v. 26.01.2022 – L 8 BA 98/20 – juris Rn. 71) Im Übrigen hat sich die Verfügung der Staatsanwaltschaft mit Erlass des Änderungsbescheides vom 15.08.2024 auch bereits inhaltlich erledigt.

 

2. Das Vorliegen einer unbilligen Härte hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und trägt dem Erlass des Änderungsbescheides Rechnung.

 

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 4, 52 GKG und berücksichtigt, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, die Beitragsangelegenheiten betreffen, regelmäßig nur ein Viertel des Wertes der Hauptsache einschließlich etwaiger Säumniszuschläge als Streitwert anzusetzen ist (st. Rspr. des Senats, z.B. Beschl. v. 15.05.2023 – L 8 BA 32/23 B ER – juris Rn. 23 m.w.N.).

 

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
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