L 18 R 270/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KN 291/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 18 R 270/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 29.01.2019 geändert und die Klage abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Streitig ist die Fortsetzung eines Klageverfahrens wegen Anfechtung eines erstinstanzlich geschlossenen Vergleichs wegen arglistiger Täuschung und die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

 

Der am 00.00.0000 geborene Kläger hat keine Berufsausbildung absolviert. Er war bis zum Jahr 2000 versicherungspflichtig als Rangierer, Weichenschmierer und zuletzt als Waschraumwärter in den H. beschäftigt. Anschließend war er arbeitslos. Er bezog zuletzt durchgehend Leistungen nach dem SGB II. Daneben arbeitete er ca. neun Stunden wöchentlich als Taxifahrer. Seit dem 01.09.2019 bezieht einer Altersrente für langjährig Versicherte.

 

Am 15.11.2011 stellte der Kläger einen Antrag auf eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Dazu legte er einen Bericht des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie J. vor, der als Befunde „Bewusstsein klar: ja, Orientierung: ja, depressive Stimmung: ja, Somatisierung: ja, Angst: ja, Interessenverlust: ja, Denkstörung: ja, Wahrnehmungsstörung: nein, Kontaktstörung: nein, Tinnitus: ja, Halluzinationen: nein, Suizidgedanken: nein“ angab. Als Diagnosen stellte er eine reaktive Depression (F 32.9 G) und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2 G). Er verordnete Citalopram 40 mg und Mirtazapin 45 mg. Darüber hinaus legte der Kläger eine Verordnung für eine Krankenhausbehandlung von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie G. vom 09.11.2011 vor. Dort wird als Diagnose: „gesichert rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F 33.2 G)“ genannt.

 

Auf Anforderung der Beklagten legte J. unter dem 28.11.2011 einen Befundbericht vor, in dem er angab, der Kläger sei insgesamt dreimal, nämlich am 28.08.2004, 29.04.2011 und 13.10.2011 wegen rezidivierender depressiver Störungen, schwere Episode und Anpassungsstörungen in seiner Behandlung gewesen. Der Kläger nehme seit sechs Monaten Citalopram 40 mg und Mirtazapin 45 mg. Der Facharzt für Urologie S. berichtete unter dem 30.11.2011 von einer Prostata-Hyperplasie nach erfolgter Prostataoperation im Juni 2006 mit Restharnmengen zwischen 64 und 93 ml. G. legte seine Karteikarte (Behandlungsdokumentation) vor. Darin sind Patientenkontakte vom 21.03.2011, 28.03.2011, 25.05.2011, 15.06.2011, 11.08.2011, 05.10.2011, 09.11.2011, 12.12.2011 und 16.12.2011 verzeichnet.

 

Am 29.12.2011 wurde der Kläger vom Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten zunächst internistisch untersucht. Im Gutachten vom 18.01.2012 kam I. zu dem Schluss, dass eine psychiatrische Zusatzbegutachtung bei dem Kläger erforderlich ist.

 

Diese erfolgte am 08.02.2012 durch W. vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten in B.. Unter dem 10.02.2012 stellte sie heraus, dass klinisch keine manifeste Antriebsminderung feststellbar sei, der formale Gedankengang sei geordnet, wenn auch eingeengt auf die problematische soziale Situation. Die subjektiv beklagten kognitiven Defizite ließen sich während der Untersuchungssituation nicht verifizieren. Es bestehe kein Anhalt für inhaltliche Denkstörungen im Sinne von Wahn- oder Zwangsgedanken, keine psychotischen Erlebens- oder Wahrnehmungsstörungen. Als Diagnose auf psychiatrischem Fachgebiet stellte sie eine Dysthymia fest. Eine schwere depressive Episode habe sich in der Untersuchung in keiner Weise feststellen lassen. Ihre Einschätzung stimme auch mit der Selbsteinschätzung des Klägers überein, der angegeben habe, einer leidensgerechten Tätigkeit nachgehen zu wollen, sofern er denn eine solche bekomme und die Bezahlung angemessen sei. Im Oktober 2011 habe der Kläger noch eine Reise in die Türkei wahrgenommen. Eine solche Anstrengung und der damit verbundene Antrieb widersprächen sicherlich dem Vorliegen einer schweren depressiven Episode zum damaligen Zeitpunkt. Die aus der Diagnose resultierenden Einschränkungen seien nicht so gravierend, dass dadurch eine Leistungsunfähigkeit oder fehlende Eingliederungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt resultieren würde. Dementsprechend fiel unter dem 21.02.2012 die abschließende Leistungsbeurteilung durch I. aus, der auch auf internistischem Gebiet keinen Anlass für eine quantitative Leistungseinschränkung sah.

 

Mit Bescheid vom 01.03.2012 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung mit Blick auf die medizinischen Voraussetzungen ab. Der Kläger sei noch in der Lage, sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein.

 

Den dagegen am 09.03.2012 eingelegten Widerspruch, der nicht begründet wurde, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.10.2012 zurück.

 

Am 05.11.2012 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) L. erhoben. Dazu hat er eine ärztliche Bescheinigung des Psychiaters G. vom 03.12.2012 vorgelegt. Danach leide der Kläger unter einer schweren depressiven Episode und generalisierten Angststörung. Er sei auf Dauer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter drei Stunden in der Lage einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es bestehe ein dauernd aufgehobenes Leistungsvermögen.

 

Das SG hat Befundberichte eingeholt. Der behandelnde Augenarzt hat angegeben, dass auf seinem Fachgebiet keine Einschränkungen des Leistungsvermögens bestünden. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt F. hat im Januar 2013 mitgeteilt, er halte den Kläger bei Vorliegen einer Hochton-Innenohrschwerhörigkeit für in der Lage vollschichtig zu arbeiten. J. hat am 21.01.2013 mitgeteilt, dass der Kläger bei ihm lediglich dreimal, nämlich am 24.08.2004, am 29.04.2011 und am 13.10.2011 in Behandlung gewesen sei. Daher könne er einen sinnvollen Befundbericht nicht erstellen. Auch die Hausärztin des Klägers T. hat den Kläger laut ihrem Befundbericht für in der Lage gehalten, leichte Tätigkeiten vollschichtig auszuführen. Das gleiche hat der behandelnde Urologe S. in seinem Befundbericht vom 04.03.2013 mitgeteilt. G. hat den bei ihm angeforderten Befundbericht nicht übersandt. Das SG hat sodann einerseits die Erstellung eines fachinternistischen bzw. arbeits- und sozialmedizinischen Gutachtens (Z. vom 13.09.2013), andererseits eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens (N. vom 07.10.2013) in Auftrag gegeben. Beide Sachverständige haben den Kläger für vollschichtig leistungsfähig gehalten. N. hat ausgeführt, angesichts der von ihm festgestellten widersprüchlichen Angaben des Klägers bezüglich dessen bisherigen Behandlungsverlaufs und fehlender medikamentöser Umstellung zwischenzeitlich bleibe die Frage, ob zwischen den Jahren 2004 und 2011 eine nervenfachärztliche Behandlung stattgefunden habe, bzw. die Medikamente regelmäßig eingenommen worden seien und inwiefern sich das Krankheitsbild bei Absetzen der Medikation verbessere oder verschlechtere, offen. Diagnostisch sei von Kopfschmerzen vom Spannungstyp, Dysthymia und Depressivität bei fehlenden klinischen Kriterien auszugehen. Sodann hat das SG weitere Ermittlungen von Amts wegen durchgeführt und ein Gutachten der Ärztin für Psychiatrie P. vom 26.06.2014 eingeholt. Die Sachverständige hat für ihr Fachgebiet eine anhaltende Depression, gegenwärtig schwergradiger Ausprägung (ICD 10 F 32.9, F 32.2) sowie eine generalisierte Angststörung (ICD 10 F 41.1) diagnostiziert. Die ängstlich-depressive Symptomatik weise eine Chronifizierungstendenz auf, die aktuell vorliegende schwergradige depressive Symptomatik sei als Verschlimmerung im Vergleich zum Zeitpunkt der Begutachtung durch N. einzustufen. Der Kläger könne nicht mehr vollschichtig tätig sein, sein Leistungsvermögen sei mit mindestens drei Stunden, aber weniger als sechs Stunden täglich einzustufen. Seit wann genau die ausgeführte Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe, sei bei stetiger Chronifizierungstendenz nicht genau zu beurteilen. Sie bestätige zudem damit die von dem behandelnden Psychiater G. gestellte Diagnose der Angststörung. Neben den diffusen Ängsten seien aktuell vor allem Ängste vor malignen Erkrankungen und Ängste vor dem Tod festzustellen. In Übereinstimmung mit der Einschätzung des behandelnden Psychiaters G. gehe auch sie von einer schwergradigen Depression und einer Angststörung aus und stelle ein reduziertes, nicht aber ein erloschenes Leistungsvermögen fest.

 

Mit Datum vom 27.11.2014 hat die Beklagte mitgeteilt, nach dem Gutachten von P. müsse davon ausgegangen werden, dass die seitens der Sachverständigen beschriebene Verschlechterung des Gesundheitszustandes erst zum Zeitpunkt der Begutachtung am 05.06.2014 angenommen werden könne, ausgehend von diesem Datum bestehe die beschriebene Erwerbsminderung aber noch nicht länger als sechs Kalendermonate. Ein Zustand von kürzerer Dauer begründe keine Erwerbsminderung im Sinne von § 43 SGB VI. Zudem stimme der beratende Arzt der Beklagten der Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht zu.

 

Die Streitsache ist sodann in der mündlichen Verhandlung am 22.12.2014 erörtert und erledigt worden. Im Protokoll heißt es:

 

„Der Vorsitzende weist darauf hin, dass nach dem überzeugenden Gutachten von Frau P. hier von einer Verschlechterung des Leistungszustandes seit der Begutachtung durch N. auszugehen ist. Da die Sachverständige keinen genauen Zeitpunkt benennen kann, erscheint es sachgerecht, hier einen Leistungsfall im Februar 2014 anzunehmen. Die Sachverständige geht davon aus, dass eine Besserung grundsätzlich möglich ist und empfiehlt eine Nachbegutachtung in zwei Jahren, dies berücksichtigend ist es sachgerecht, die Rente bis zum 30.06.2016 zu befristen.

 

Daraufhin schließen die Beteiligen zur vollständigen Erledigung des Rechtsstreits auf Vorschlag des Gerichts folgenden Vergleich:

 

1.         Ab 01.02.2014 wird vorübergehende volle Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI angenommen; dementsprechend werden Leistungen auf Zeit bis zum 30.06.2016 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen und gegebenenfalls unter Anwendung der Regelungen über das Zusammentreffen von Renten und Einkommen zuerkannt.

2.         Die Beteiligten beantragen eine Kostenentscheidung des Gerichts.

3.         Damit ist der vorliegende Rechtsstreit vollständig erledigt.“

 

Mit Schreiben vom 26.06.2015 hat die Beklagte die Anfechtung des Vergleichs vom 22.12.2014 erklärt und beantragt, das Verfahren fortzusetzen. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft D. (Az.: …..) sei der Beklagten bekannt geworden, dass u.a. gegen den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie G. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges gemäß § 263 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, Abs. 5, § 25 Abs. 2 StGB und anderer Straftaten eingeleitet worden sei. Es bestehe der Verdacht, dass sich der Beschuldigte G. zusammen mit drei ebenfalls beschuldigten Vermittlern spätestens Anfang 2010 dazu entschlossen habe, fortan gemeinsam Betrugstaten zum Nachteil der Deutschen Rentenversicherung (und gegenüber den zuvor beteiligten Krankenversicherungen) zu begehen, indem sie über das Vorliegen einer ernsthaften psychischen Erkrankung (Depression) bei den von den „Vermittlern“ angeworbenen und später von Herrn G. behandelten Antragstellern (Kunden) täuschten und später im Rahmen der Antragstellung auf Zahlung von Erwerbsminderungsrente wahrheitswidrig angaben, dass der Antragsteller aufgrund der Schwere der psychischen Erkrankung erwerbsgemindert und nicht mehr in der Lage sei, mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten. Die Vermittler hätten die Kunden dabei insbesondere über die typischen Symptome der psychischen Krankheit einer schweren depressiven Episode (Grübeln, gedrückte Stimmung, Antriebs- und Denkhemmung, Schlafstörungen, Angstgefühle, kein Selbstwertgefühl, soziale Zurückgezogenheit, Stimmen hören usw.) informiert und angewiesen, diese zu simulieren. Der Beschuldigte G. sei nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft verdächtig, die für die Krankenlegende benötigten, inhaltlich unrichtigen Gesundheitszeugnisse über den Gesundheitszustand der Kunden (Krankschreibungen, Befundberichte u.a.) ausgestellt zu haben, um in der Folgezeit einen Rentenantrag erfolgreich stellen sowie zuvor Krankengeld beziehen zu können. Diese ärztlichen Unterlagen seien dann von den Kunden bei der Beantragung von Rente wegen Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung verwendet bzw. hierauf Bezug genommen und die Versicherung hierdurch letztlich zur Bewilligung und Auszahlung der Erwerbsminderungsrente veranlasst worden. Es bestehe der Verdacht, dass sowohl G. als auch die Vermittler handelten, um sich hierdurch eine dauerhafte Einnahmequelle von nicht unerheblichem Umfang zu verschaffen. Aus ähnlich gelagerten Fällen wie dem vorliegenden lasse sich ein bestimmtes Vorgehen durch G. und die von ihm betreuten Antragsteller und Kläger erkennen. So stelle G. im Rahmen von Begutachtungen auffällig häufig eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Probanden fest, um etwaige Abweichungen von vorherigen Begutachtungen zu rechtfertigen. Soweit G. als behandelnder Arzt beteiligt sei, sei ebenfalls festzustellen, dass der Gesundheitszustand der Betroffenen sich im Laufe eines Klageverfahrens regelmäßig deutlich verschlechtere. Bereits bei Beginn der Behandlung würden relativ schwerwiegende Krankheitsbilder, wie beispielsweise das Vorliegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode, diagnostiziert. Mit Fortschreiten des Verwaltungs- und Klageverfahrens steigerten sich die angeblichen Beschwerden und es träten beispielweise psychotische Symptome (Stimmenhören, Geräuschehören) hinzu. Auffällig sei ebenfalls, dass in engem zeitlichen Zusammenhang mit einer Begutachtung des Versicherten durch G. eine Krankenhauseinweisung ausgestellt werde, die durch den Versicherten dann dem Gutachter vorgelegt werde, ohne sich jedoch im Anschluss zur Behandlung in eine Klinik zu begeben. Darüber hinaus glichen sich folgende Merkmale: In den Untersuchungssituationen seien die Versicherten mürrisch, teilnahmslos, aggressiv oder auf andere Weise verhaltensauffällig. Oft würden sie durch Verwandte oder Bekannte begleitet, die zusätzlich für fremdanamnestische Angaben sorgten. Ein im Besitz befindlicher PKW werde häufig nach Angabe nicht mehr selbst gesteuert. Die Behandlung bei G. beginne zeitlich im Zusammenhang mit dem Rentenantrag und erfolge in zeitlich niedriger Frequenz (laufend nur etwa einmal im Quartal). Schon nach kurzer - ggf. einmaliger - Behandlung würden schwerste psychiatrische Diagnosen gestellt. Es würden Medikamente verordnet, die die Versicherten häufig nicht benennen könnten und deren Wirkstoffe in späteren Blutuntersuchungen nicht nachweisbar seien. Krankenhausbehandlungen würden verordnet aber nicht angetreten. Rehabilitationsmaßnahmen würden - oft mit Untermauerung durch eine ärztliche Bescheinigung - nicht angetreten. Die Beklagte sei überzeugt davon, dass der Kläger und G. in betrügerischer Absicht zusammengewirkt haben und die Begutachtungen im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens durch dieses betrügerische Zusammenwirken zum Nachteil der Beklagten beeinflusst wurden und nicht auf objektiver Grundlage erstellt werden konnten. Deutlich werde dieses insbesondere im Rahmen der Begutachtung durch Herrn N.. Auf Seite 6 seines Gutachtens gebe Herr N. an, dass der Kläger bei der Begutachtung eine Krankenhauseinweisung des behandelnden Nervenarztes G., ausgestellt am 31.07.2013, mit den Diagnosen „gesicherte generalisierte Angststörung, gesicherte rezidivierende depressive Störung, gegenwärtige schwere Episode mit psychotischen Symptomen“ vorgelegt habe. Darüber hinaus führe Herr N. ebenfalls auf Seite 6 seines Gutachtens aus, der Kläger habe spontan berichtet, dass er nachts nicht schlafen könne, Ängste habe, Angst habe, die Welt breche über ihm zusammen; er könne nicht alleine rausgehen und höre Stimmen. Herr N. setze sich mit diesem Befund kritisch auseinander und stelle auf Seite 22 seines Gutachtens fest, dass er davon ausgehe, dass G. die psychotischen Symptome „zur Erleichterung einer Krankenhausaufnahme“ erwähnt habe, weil in den bisherigen Befunden und Berichten und auch in der letzten Krankenhauseinweisung im Jahre 2011 diagnostisch von keinen psychotischen Symptomen ausgegangen worden sei. Auch im Übrigen setze sich Herr N. kritisch damit auseinander, dass ein schweres Krankheitsbild geschildert wurde, aber nur eine geringe Behandlungsfrequenz bestehe, bei unverändertem Befund keine medikamentöse Umstellung vorgenommen worden sei und trotz vorliegender Krankenhauseinweisungen eine solche Maßnahme nicht realisiert worden sei. Zusammenfassend sei Herr N. daher auch zu der Auffassung gelangt, dass der Kläger noch vollschichtig leistungsfähig sei. Im Rahmen des Klageverfahrens habe sich der Kläger nicht kritisch mit diesem Gutachten auseinandergesetzt, sondern unmittelbar einen Antrag nach § 109 SGG gestellt. Das Gericht habe gleichwohl von Amts wegen weitere Ermittlungen für notwendig gehalten. Die sodann bestellte Gutachterin, Frau P., lasse in ihrem Gutachten vom 26.06.2014 die kritische Auseinandersetzung mit den erkennbaren Widersprüchlichkeiten, wie sie Herr N. aufgezeigt hat, vermissen. Auf Seite 36 des Gutachtens werde deutlich, dass Frau P. sich der Auffassung des angeblich behandelnden Psychiaters, G., anschließe und von einer schwergradigen Depression und einer Angststörung ausgehe und ein reduziertes, nicht aber ein erloschenes Leistungsvermögen feststelle. Das Gutachten der Frau P. beruhe ersichtlich auf den durch G. mitgeteilten Diagnosen und dessen Einschätzung des Leistungsvermögens des Klägers. Trotz kritischer Auseinandersetzung mit diesem Gutachten durch den Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten habe das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung vom 22.12.2014 deutlich gemacht, dass es das Gutachten der Frau P. für überzeugend halte und von einer Verschlechterung des Leistungszustandes seit der Begutachtung durch Herrn N. ausgehe. Vor diesem Hintergrund sei der nunmehr angefochtene Vergleich geschlossen worden. Der Kläger habe die Beklagte durch sein Verhalten arglistig getäuscht, sodass die Beklagte den in der mündlichen Verhandlung vom 22.12.2014 geschlossenen Vergleich wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) anfechte. Hilfsweise werde die Anfechtung wegen Irrtums und aus sämtlichen übrigen in Betracht kommenden rechtlichen Gründen erklärt. Der Vergleich sei von der Beklagten noch nicht umgesetzt worden. Die Beklagte rege an, das Verfahren bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und eines sich daran ggf. anschließenden Hauptverfahrens ruhend zu stellen. Die Beklagte hat darüber hinaus aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft D. zum Az. ….. zitiert. Aus einer Telefonüberwachung ergebe sich, dass der Kläger am Vorabend der Begutachtung bei Frau P. mit einem der Vermittler telefoniert habe, weshalb die Beklagte erhebliche Bedenken gegen die Verwertbarkeit des Gutachtens habe:

 

„C. sagt, er ist schon einige Male bei der Frau (Gutachterin) gewesen, die kenne ihn, die habe ihm letztens gesagt, C. brauche nicht mehr dabei zu sein bei den Gutachten. C. sagt, solange B. nicht ins Krankenhaus oder zur Kur geht, gebe die Knappschaft keine Rente. B. soll die Ärztin grüßen und sagen, dass der B. sie grüße, dann verstehe sie das schon, auch wenn sie ihm dann nichts sage. E. arbeitet nämlich als Taxifahrer, das wisse aber keiner. E. soll das dort auch nicht erzählen...“

 

Die Ausübung einer Tätigkeit habe in aller Regel einen höheren Beweiswert als die davon abweichende medizinische Feststellung. In Kenntnis einer Arbeitsleistung wäre von Seiten der Beklagten über die volle Erwerbsminderung (hier: wegen eines verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes) kein Vergleich geschlossen worden.

 

Weiter ist die Beklagte der Auffassung, nach dem Urteil des LG D. vom 11.10.2017, mit dem der angeklagte Vermittler O. zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, wobei die Täuschungshandlungen des hiesigen Klägers dem Angeklagten „nach § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet“ worden seien, sei die arglistige Täuschung erwiesen.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

festzustellen, dass der Vergleich vom 22.12.2014 wirksam angefochten wurde, der Rechtsstreit nicht erledigt ist und im Weiteren die Klage vom 05.11.2012 abzuweisen ist.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

festzustellen, dass der Rechtsstreit auf Grundlage des Vergleichs vom 22.12.2014 beendet ist.

 

Er sei von P. intensiv begutachtet worden, deren Feststellungen beruhten auf eigenen Erkenntnissen und nicht etwa auf den Angaben des behandelnden Facharztes. Richtig sei, dass er bei Abschluss des Vergleiches angegeben habe, er habe keinerlei Tätigkeiten verrichtet. Die Bevollmächtigte habe die entsprechende Frage des Gerichts bzw. des Vertreters der Beklagten dahin verstanden, ob er mehr als nur Geringverdienertätigkeiten ausgeübt habe. Tatsächlich sei er für den U. aus L. auf Abruf tätig. Wenn der einen Taxifahrer benötige, so werde er  angerufen. Er verdiene monatlich zwischen 50 und knapp 200 €, das Jobcenter sei regelmäßig über Nebenverdienste informiert gewesen. Im Übrigen sei die Anklage vor dem Landgericht D. gegen ihn  eingestellt worden. Grundlage dieser Verfahrensbeendigung sei eine Aussage des Facharztes für Psychiatrie J. aus Krefeld gewesen, den er  bereits im Jahre 2004 wegen Depressionen aufgesucht habe. Dieser habe als Zeuge dem Gericht mitgeteilt, dass er bereits im Jahre 2004 bei  ihm eine schwere Depression festgestellt habe. Auf ausdrückliche Nachfrage des Landgerichts habe der Zeuge außerdem mitgeteilt, dass es sich keineswegs um eine depressive Episode gehandelt habe, sondern um eine verfestigte schwere Depression nach ICD 10 F 33.2.

 

Das SG hat nach Wiederaufnahme des Verfahrens Beweis erhoben durch Einholung einer Stellungnahme von Frau P.. Das SG hat zudem die Akten der Staatsanwaltschaft D. zum Ermittlungsverfahren …. beigezogen. Es hat weiter Beweis erhoben durch eine Anfrage beim U. bezüglich der Arbeitsleistung des Klägers. Nach dortiger Auskunft hat der Kläger in den Monaten April bis Juni 2015 monatlich 153,- Euro verdient.

 

Mit Urteil vom 11.10.2017 sind die Brüder M. vom Landgericht D. zu Freiheitsstrafen von drei Jahren bzw. drei Jahren und zwei Monaten verurteilt worden.

 

Das SG hat auf den Antrag des Klägers mit Urteil vom 29.01.2019 festgestellt, dass der Rechtsstreit auf Grundlage des Vergleichs vom 22.12.2014 beendet ist. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Kammer kein Täuschungsverhalten zu erkennen vermochte, schon gar keine Arglist.

 

Am 09.04.2019 hat die Beklagte gegen das ihr am 03.04.2019 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Dazu hat sie von der Zeugenvernehmung im Strafverfahren gegen G. berichtet. Im Rahmen der Hauptverhandlung seien C. (Uniklinik Y.) sowie Q. aus V. vernommen worden. C. sei zu dem Schluss gekommen, dass die zusammengetragenen Fakten durchaus den Schluss auf Scheinbehandlungen zuließen, dies jedoch in letzter Konsequenz nicht zu beweisen sei. Allerdings ließen sich die geschilderten Mängel in der Behandlung durch G. nahtlos in den Betrugsvorwurf einfügen und hierdurch auch erklären. Auch Q. habe erklärt, dass die Behandlung durch G. in den zu beurteilenden Fällen inkonsistent und nicht plausibel gewesen sei. Ähnliches habe auch der ärztliche Leiter der Fachklinik R. OH. ausgesagt. Nach dessen Aussage gingen die Auffälligkeiten soweit, dass G. eindeutig Manipulation vorgeworfen werden könne. Weiter zitiert die Beklagte umfangreich aus dem strafgerichtlichen Urteil gegen die Brüder M.. In Anbetracht der in diesem Verfahren getroffenen Aussagen sei die Angabe der Sachverständigen P., die von G. getroffenen Diagnosen hätten sie nicht beeinflusst, nicht haltbar.

 

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich  sinngemäß,

 

das angefochtenen Urteil abzuändern und festzustellen, dass der Vergleich vom 22.12.2014 wirksam angefochten wurde, der Rechtsstreit nicht erledigt ist und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Am 03.12.2019 hat der Senat einen Erörterungstermin durchgeführt und dabei den Kläger befragt. Sodann hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie RV. (Gutachten vom 05.07.2021). Wegen der weiteren Einzelheiten des Ergebnisses der Beweiserhebung wird auf die Sitzungsniederschrift und den Inhalt des Gutachtens verwiesen.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der vom Senat beigezogenen, das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger betreffenden Akten der Staatsanwaltschaft D. …., der Gegenstand der Beratung gewesen ist.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung ist auch begründet.

 

Das Sozialgericht hat zu Recht das Verfahren auf Antrag der Beklagten fortgeführt und darüber entschieden, ob die ursprüngliche Klage durch den Abschluss des Vergleichs beendet wurde. Erhebt ein Prozessbeteiligter Einwände gegen die Wirksamkeit eines Vergleichs, lebt die Rechtshängigkeit des Verfahrens rückwirkend wieder auf. Das Gericht, vor dem der Vergleich geschlossen worden ist, entscheidet dann entweder dahin, dass die Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich durch Endurteil festgestellt wird oder, wenn die Beendigung verneint wird - etwa weil der Vergleich zu Recht angefochten worden ist - in der Sache selbst (Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 28.11.2002 - B 7 AL 26/02 - juris Rdn. 20; Meyer-Ladewig/ Keller/ Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 101 Rdn. 17 ff).

 

Es hat jedoch zu Unrecht festgestellt, dass das Klageverfahren durch den Abschluss des Vergleichs vom 22.12.2014 beendet worden ist. Die Beklagte hat den Vergleich vom 22.12.2014 wirksam angefochten. Der Vergleich ist daher unwirksam und das Klageverfahren ist nicht beendet. Die zulässige Klage ist in der Sache unbegründet.

 

Der gerichtliche Vergleich nach § 101 Abs. 1 SGG hat eine rechtliche Doppelnatur. Er ist sowohl Prozesshandlung, deren Wirksamkeit sich nach den Grundsätzen des Prozessrechts bestimmt, als auch ein materiell-rechtlicher Vertrag, für den die Vorschriften der §§ 53, 54 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch und des BGB gelten (vgl. BSG Urteil vom 13.02.2014 - B 8 SO 15/12 R - Rdn. 10; Urteil vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr. 1, Rdn. 66). Seine Unwirksamkeit kann daher darauf beruhen, dass entweder der materiell-rechtliche Vertrag nichtig oder wirksam angefochten ist oder die zu seinem Abschluss notwendigen Prozesshandlungen nicht wirksam vorgenommen worden sind (BSG Urteil vom 17.05.1989 - 10 RKg 16/88 - SozR 1500 § 101 Nr. 8 S. 8).

 

Nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB kann derjenige eine Willenserklärung mit der Folge der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts (§ 142 Abs. 1 BGB) anfechten, der zu ihrer Abgabe durch arglistige Täuschung bestimmt worden ist. Täuschung ist die vorsätzliche Erregung, Bestärkung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums, sei es durch das Vorspiegeln falscher oder das Verschweigen wahrer Tatsachen, um den Willensentschluss des Getäuschten zu beeinflussen (Bundesgerichtshof (BGH) Urteil vom 22.02.2005 - X ZR 123/03 - juris Rdn. 11). Sie darf sich nicht auf lediglich subjektive Werturteile, sondern muss sich auf objektiv nachprüfbare Angaben beziehen (BGH Urteil vom 19.09.2006 - XI ZR 204/04 - BGHZ 169, 109, 115 = juris Rdn. 24). Die Täuschung ist arglistig, wenn der Täuschende weiß oder damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass er unredlich handelt, der Getäuschte dies nicht erkennt und ohne die Täuschung die Willenserklärung nicht oder nicht mit dem geäußerten Inhalt abgegeben hätte (BGH Urteil vom 03.03.1995 - V ZR 43/94 - juris Rdn. 16). Die Täuschung muss für die angefochtene Willenserklärung des Getäuschten ursächlich gewesen sein. Eine Willenserklärung kann nur dann angefochten werden, wenn der Anfechtende einem auf die Bestimmung des Willens gerichteten Verlangen nachgegeben und die Willenserklärung nicht aus eigener, selbständiger Überlegung abgegeben hat (Bundesarbeitsgericht (BAG) Urteil vom 12.5.2010 - 2 AZR 544/08 - juris Rdn. 41).

 

Der Senat ist ohne vernünftige Zweifel davon überzeugt, dass der Kläger eine Täuschungshandlung begangen hat. Er hat nämlich vorsätzlich bei der Gutachterin, beim Gericht und insbesondere bei der Beklagten einen Irrtum über das Vorliegen einer seine Erwerbsfähigkeit einschränkende Erkrankung erregt. Entgegen der vom Kläger aufgestellten Behauptungen, die er durch Vorlage falscher Gesundheitszeugnisse des Arztes G. untermauert hat, hat bei ihm eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung im Zeitpunkt des Vergleichsschlusses nicht vorgelegen. Dies geht für den Senat in überzeugender Weise aus dem Gutachten des zunächst vom Sozialgericht beauftragten Psychiaters N. hervor. Dieser ist in Übereinstimmung mit der im Verwaltungsverfahren beauftragten Ärztin des Sozialmedizinischen Dienstes zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger lediglich eine Dysthymie vorlag. Anhand der von N. erhobenen Befunde sind diese Diagnose und die daraus abgeleitete Leistungseinschätzung schlüssig und nachvollziehbar. N. hat die Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten in der Krankengeschichte des Klägers erkannt und benannt. Er hat darauf hingewiesen, dass sich der Kläger zwischen 2004 und 2011 nicht in psychiatrischer Behandlung befunden hat und dass trotz vom Arzt für notwendig erachteter Krankenhauseinweisung keinerlei Umstellung hinsichtlich der Medikamentation stattgefunden hat.

 

Die Feststellungen von P. führen nicht dazu, dass beim Senat mehr als unbeachtliche Restzweifel an der Leistungsfähigkeit des Klägers bestehen. Denn schon die von ihr erhobenen Befunde bieten keine Grundlage für die von ihr getroffenen Diagnosen. Die von der Sachverständigen - im Übrigen von dem als behandelnden Arzt angegebenen G. übernommene - benannte Diagnose „Anhaltende Depression, gegenwärtig schwergradige Ausprägung (ICD10 F32.9, F32.2)“ ist schon in sich nicht stimmig. Eine anhaltende depressive Verstimmung sieht der ICD 10 nur in Form der Dysthymia vor. Eine über einen langen Zeitraum anhaltende depressive Störung hätte mit einer F33-Ziffer (Rezidivierende depressive Störung) bezeichnet werden müssen, wobei diese von wiederholt auftretenden depressiven Episoden gekennzeichnet ist. Für das Vorliegen einer schweren Episode fehlten damals jegliche Anknüpfungspunkte. Jedenfalls ließen sich die dafür erforderlichen Anknüpfungstatsachen nicht ohne weiteres aus dem Vortrag des Klägers entnehmen. Selbst die Sachverständige hat den Antrieb des Klägers als ungestört bezeichnet und damit ein wesentliches Diagnosekriterium selbst ausgeschlossen. Nach den Leitlinien zur Diagnostik depressiver Störungen müssen alle drei Hauptsymptome der depressiven Störung vorliegen, um von einer schwergradigen Ausprägung ausgehen zu können. Dies sind 1. depressive, gedrückte Stimmung, 2. Interessenverlust und Freudlosigkeit und 3. Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Auch der Umstand, dass der Kläger durchgehend als Taxifahrer gearbeitet hat, spricht gegen das Vorliegen einer solch schwerwiegenden Diagnose. Hinzu kommt, dass sich die Sachverständige P. keinesfalls ausschließlich auf die anamnestischen Angaben des Probanden verlassen kann, sondern darüber hinaus eine Beschwerdevalidierung erfolgen muss. Diese lässt das Gutachten der Sachverständigen völlig vermissen. Die Annahme, dass die Sachverständige sich bei ihrer Diagnostik nicht auch auf die Vorbefunde von G. gestützt hat, lässt sich aus Sicht des Senats anhand der Befunderhebung nicht halten, zumal die Diagnosekriterien für die von ihr ebenfalls übernommene generalisierte Angststörung im Gutachten gar nicht zur Sprache kommen.

 

Die Überzeugung davon, dass im Zeitpunkt der Begutachtung keine schwere Depression vorgelegen hat, wird letztlich durch das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten der Sachverständigen RV. bestärkt. Zwar kann sie sich zum Vorliegen der in Rede stehenden Erkrankungen in einem mittlerweile sieben Jahre zurückliegenden Zeitraum nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit äußern. Der Umstand, dass die Sachverständige bei dem Kläger keinerlei Symptome einer depressiven Erkrankung hat feststellen können, spricht jedoch weiter dafür, dass die von N. abgegebene Einschätzung zutreffend war.

 

Anders als das Amtsgericht D. wohl angenommen hat, nähren auch die Bescheinigungen und Aussagen des J. keine Zweifel an der Täuschungshandlung des Klägers. Zwar ist davon auszugehen, dass sich der Kläger im Jahr 2004 wegen tatsächlicher Beschwerden bei J. in Behandlung begeben hat. Danach hat jedoch sieben Jahre lang keinerlei psychiatrische Behandlung mehr stattgefunden. Lediglich die Hausärztin beschrieb eine depressive Stimmungslage, wobei sie den Kläger auch unter Berücksichtigung dessen für in der Lage hielt, vollschichtig zu arbeiten. Die erste erneute Konsultation J.s fand am 29.04.2011 statt, etwa fünf Wochen nachdem der Kläger erstmals bei dem Psychiater G. gewesen sein soll. Dem SG gegenüber hat sich J. nicht zur Abgabe eines sinnvollen Befundberichts in der Lage gesehen. Die vom Kläger bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegte Bescheinigung des J. taucht im Laufe des Verfahrens mehrfach auf. Wie er zu der dort angegebenen Diagnose gekommen ist, ist nicht erkennbar. Die von ihm dort angegebene Therapie entspricht bemerkenswerterweise genau dem, was G. am 05.10.2011 verordnet hat. Weitere Atteste zugunsten des Klägers hat J. nicht ausgestellt. Das Protokoll der Zeugenaussage von J. vor dem Amtsgericht D. ist für die hier zu entscheidende Frage unergiebig. Es ist eine Aneinanderreihung von allgemeinen medizinischen Aussagen und Beschreibungen der Geschehnisse ohne jede Substanz. Es ist nicht einmal zu erkennen, ob er dem Kläger ein Antidepressivum verschrieben hat und ob er die Einnahme der von G. verordneten Medikamenten für erforderlich hielt. Auch die angebliche Aufforderung, er solle „zu seinem Arzt gehen“, er habe sehr viel zu tun, erweckt den Eindruck als ob er kein Interesse an der Behandlung des Klägers gehabt hätte, was ebenfalls nicht für das Vorliegen einer schweren psychiatrischen Erkrankung spricht.

 

Ohne vernünftige Zweifel geht der Senat auch davon aus, dass der Kläger diese Täuschungshandlung vorgenommen hat, um den Willensentschluss des Getäuschten zu beeinflussen. Das geht aus den eigenen Aussagen des Klägers hinsichtlich der Anbahnung des Geschäftsverhältnisses mit dem M. und aus den Aussagen des HC. bei dessen Beschuldigtenvernehmung hervor. Hieraus und aus der bei den Brüdern M. durchgeführten Telefonüberwachung ergibt sich, dass der Kläger den Vermittlern Geld gezahlt hat, um G. vorgestellt zu werden und von diesem Bescheinigungen ausgestellt zu bekommen sowie dass er von HC. anlässlich der Begutachtung durch P. instruiert worden ist, wie es sich dort zu verhalten habe. So solle er ungepflegt erscheinen, leise sprechen und nicht immer sofort antworten. Es solle angeben, dass er eine Krankhauseinweisung brauche und seine Ehe aufgrund seiner Erkrankung am Ende sei. Darüber hinaus hat HC. für den Kläger in Erfahrung gebracht, dass dieser keine Medikamente einnehmen müsse, da P. keinen Medikamentenspiegel abnehme.

 

Die Täuschung war auch arglistig. Denn der Kläger wusste, dass er unredlich handelte und die Beklagte dies nicht erkennen konnte. Jedenfalls daran, dass er einem Vermittler Geld dafür geben musste, dass er einem Arzt, der ihn gar nicht behandelt hat, vorgestellt wurde, musste er erkennen, dass eine unredliche Täuschung der Beklagten vorgesehen war.

 

Es bestehen auch keine vernünftigen Zweifel daran, dass die Täuschung für die abgegebene Willenserklärung ursächlich (wesentliche Bedingung) gewesen ist. Den Beteuerungen der Sachverständigen P., sie habe sich ihr Bild gänzlich unabhängig von etwaigen Vorbefunden gemacht, misst das Gericht keine erhebliche Bedeutung bei. Bereits die Qualitätsanforderungen an psychiatrische Sachverständigengutachten sprechen gegen eine solche Behauptung. So gehört die Berücksichtigung von fremden Berichten und Vordiagnosen selbstverständlich zu den Standardinformationsquellen für eine Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung (https://sozialrecht-bdp.de/wp-content/uploads/Beschwerdenvalidierung.pdf). Wie oben dargestellt ließ sich aus den von der Sachverständigen selbst erhobenen Befunden, den Angaben zum Tagesablauf, zu den Aktivitäten (Spaziergänge, treffen mit Nachbarn, Besuch der Moschee) - außerdem keine Psychotherapie, keine Erhebung des Medikamentenspiegels, keine psychosomatische Reha, keine Antriebsminderung, keine erheblichen Konzentrationsstörungen, keine Gedächtnisstörungen - eine solche Diagnose nicht treffen. Das Ergebnis der Hamilton Depression Scale (schwere Depression) wurde nicht kritisch diskutiert, obwohl es maßgeblich von der Mitarbeit des Probanden abhängt. In der Zusammenfassung geht die Sachverständige durchaus auf einige Aspekte ein, die die Plausibilität der Diagnosen in Zweifel ziehen (Personenbeförderungsschein, Taxifahrertätigkeit, die vom Kläger nicht erwähnt wird, niederfrequente Behandlung, nur drei Arztkontakte zwischen 2004 und 2011, keine stationären Behandlungen, keine Änderung der medikamentösen Behandlung), ohne dies weiter zu problematisieren. Lediglich die reduzierte Mimik und Gestik und die Angaben des Klägers zu Freudlosigkeit und Ängsten scheinen für das Vorliegen einer depressiven Erkrankung zu sprechen. Angesichts dieser Sachlage bleibt aus Sicht des Senats lediglich die Schlussfolgerung, dass die Sachverständige ihre Diagnose und daraus folgend ihre Leistungseinschätzung maßgeblich - wenn nicht ausschließlich - auf die Vorbefunde des G. gestützt hat. Dieses Gutachten und die Auffassung des ebenfalls getäuschten SG waren maßgeblich für die Abgabe der Willenserklärung der Beklagten. Sie stellte die wesentliche Bedingung für die Bereitschaft der Beklagten dar, den Vergleich abzuschließen. Andere Tatsachen, nämlich das Vorliegen anderer (tatsächlicher) Erkrankungen bei dem Kläger, kommen dagegen als nahezu gleichwertige Ursachen nicht in Betracht.

 

Die Jahresfrist ab Entdeckung der Täuschung (§ 124 BGB) hat die Beklagte mit der Erklärung vom 26.06.2015 eingehalten.

 

Die Beklagte hat ihre Anfechtungserklärung gemäß § 143 BGB gegenüber dem Anfechtungsgegner, also dem Kläger, abgegeben. Das Anfechtungsschreiben war zwar an das SG  gerichtet, nicht an den Kläger. Eine Übersendung der Erklärung gegenüber dem Gericht ist jedoch ausreichend (Müller in Roos/Warendorf/ Müller, SGG, § 101 Rdn. 34; noch weitergehend in dem Sinne, dass die Erklärung ausschließlich gegen über dem Gericht abgegeben werden könne: HessLSG SozVers 1980, 192 = BeckRS 2009, 64702 Rdn. 28 bei Beck-online), da allein das Gericht über die Nichtigkeit des Vergleichs aufgrund der Anfechtung zu entscheiden hat und dieses die Erklärung an den Anfechtungsgegner übermittelt. Der gegenteiligen Auffassung, dass die Erklärung sowohl dem Anfechtungsgegner gegenüber zu erklären als auch dem Gericht zur Kenntnis zu bringen ist (Roller in Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage 2021, § 101 Rdn. 19), ist demnach nicht zu folgen.

 

Aufgrund der Unwirksamkeit des Vergleichs hat der Senat über den Klageantrag des Klägers zu entscheiden.

 

Das Klagebegehren, das gerichtet ist auf die Aufhebung des seinen Rentenantrag ablehnenden Bescheides vom 01.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2012 und Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung hat der Kläger in zulässiger Weise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht.

 

Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid vom 01.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

 

Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie voll oder teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach § 43 Abs. 4 SGB VI verlängert sich der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung um die dort unter den Ziffern 1. bis 4. genannten Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.

 

Der Kläger war im relevanten Zeitraum zwischen Antragstellung im November 2011 und Eintritt in die Altersrente im September 2019 zu keinem Zeitpunkt voll oder teilweise erwerbsgemindert.

 

Voll erwerbsgemindert sind zunächst Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

 

Zur Überzeugung des Senats war der Kläger im oben genannten Zeitraum durchgehend in Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Davon ist der Senat unter Zugrundelegung der Sachverständigengutachten von N. und RV. überzeugt. Dem Gutachten von P. vermag der Senat insoweit nicht zu folgen. Zur näheren Begründung wird auf die obigen Ausführungen zur Täuschungshandlung und zum Irrtum verwiesen.

 

Ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Abs. 1 SGB VI kommt ebenfalls nicht in Betracht. Der Kläger kann auf den gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden. Er verfügt nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung und hat zuletzt versicherungspflichtig eine Tätigkeit für ungelernte Arbeiter (Waschraumwärter) ausgeübt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1, § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

 

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG.

Rechtskraft
Aus
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