L 13 R 449/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 1377/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 449/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17. Januar 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der im Jahr 1965 geborene Kläger war zuletzt bis 2015 bei einem Getränkegroßhändler versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Oktober 2015 ist der Kläger durchgängig arbeitsunfähig. Nach Ende des Arbeitsverhältnisses bezog er zunächst von der Bundesagentur für Arbeit Arbeitslosengeld und seit Oktober 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Ab dem 1. Oktober 2018 war er auf geringfügiger Basis als Küchenhelfer tätig.

Auf einen Antrag auf die Gewährung von medizinischen Rehabilitationsleistungen veranlasste die Beklagte eine Begutachtung des Klägers bei ihrer ärztlichen Untersuchungsstelle. K1, diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 25. März 2019 beim Kläger eine rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig in mittelgradiger Episode), eine Panikstörung, eine anhaltende Schmerzstörung und einen Schmerzmittel- sowie einen Nikotinabusus. Da der Kläger viele Jahre nicht mehr gearbeitet habe, sei die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet. Für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe, so K1, ein positives Leistungsbild für sechs Stunden täglich und mehr.

Vom 22. Mai – 19. Juni 2019 durchlief der Kläger eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik am Z1, W1. Aus dieser ist der Kläger unter den Diagnosen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig mittelgradig), dem schädlichen Gebrauch nicht abhängigskeitserzeugender Substanzen (Analgetika), einer Nikotinabhängigkeit, Rückenschmerzen und einer gemischten Hyperlipidämie als fähig entlassen worden, eine körperlich leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden täglich und mehr verrichten zu können (Entlassungsbericht vom 27. Juni 2019).

Am 20. November 2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Er gab hierzu u.a. an, an Depressionen, Angst, Schlafstörungen, Schmerzproblemen, Konzentrationsbeschwerden, Bandscheibenbeschwerden und einer Stauballergie zu leiden. Er sei nur noch in der Lage, zwei Stunden täglich zu arbeiten.

Nach sozialmedizinischer Überprüfung lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 ab. Die Einschränkungen, die sich aus den beim Kläger vorliegenden Erkrankungen ergäben, führten, so die Beklagte begründend, nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne.

Hiergegen erhob der Kläger am 15 Januar 2020 Widerspruch, zu dessen Begründung er einen Arztbrief der L1 vom 7. Januar 2020 vorlegte und den die Beklagte nach einer erneuten sozialmedizinischen Überprüfung mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2020 zurückwies. Unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in zeitlicher Hinsicht einschränkten. Dem Kläger sei die Ausübung einer leichten Tätigkeit ohne erhöhte Stressbelastung, ohne Zeitdruck, ohne Nachtschicht und ohne erhöhte Anforderungen an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sechs Stunden täglich und mehr zumutbar.

Hiergegen hat der Kläger am 27. Mai 2020 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er vorgebracht, er leide an Depressionen und sei deswegen erwerbsgemindert. Die Befundlage zeige eine erhebliche Chronifizierung der gesundheitlichen Leiden. Es sei zudem zu berücksichtigen, dass er alle Behandlungsmaßnahmen seiner Ärzte befolgt habe. Eine psychotherapeutische Behandlung habe der Kläger bisher allerdings nicht durchgeführt, da im Großraum S1 kaum Psychotherapeuten mit Kassenzulassung tätig seien und es zudem schwer sei, einen türkischsprachigen Psychotherapeuten zu finden. Die beiden stationären Behandlungen hätten keine Besserung der funktionalen Beeinträchtigungen erbracht. Gleiches gelte für die medikamentöse Therapie. Auch die ihn behandelnden Ärzte gingen von einem aufgehobenen Leistungsvermögen aus. Es bestünde zudem eine länger andauernde Arbeitsunfähigkeit. Es sei zumindest von einer teilweisen Erwerbsminderung auszugehen, welche aufgrund der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes als Vollrente zu gewähren sei.

Die Beklagte ist der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid vom 27. April 2020 entgegengetreten.

Das SG hat die den Kläger behandelnden L1 schriftlich als sachverständige Zeugin einvernommen. Diese hat unter dem 11. Dezember 2020 mitgeteilt, den Kläger in einem sechswöchentlichen Rhythmus zu behandeln. Seit Dezember 2015 bestünden eine depressive Verstimmung, Ängste, sowie eine Antriebs- und Schlafstörung. Die Konzentrationsstörungen seien als schwerwiegend einzustufen. Sie gehe von einem aufgehobenen Leistungsvermögen aus, da der Kläger arbeitsunfähig sei.


Das SG hat sodann E1 zur gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit des Klägers beauftragt. In ihrem nervenärztlichen Gutachten vom 18. August 2021 hat E1 beim Kläger eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Angst und Depression gemischt diagnostiziert und Probleme in Verbindung mit der Berufstätigkeit, der Arbeitslosigkeit und seinen ökonomischen Verhältnissen festgestellt. Die diagnostischen Kriterien für eine generalisierende Angststörung seien hingegen nicht erfüllt; typische Panikattacken seien nicht hinreichend glaubhaft. E1 hat eine leichte Antriebsreduzierung, eine allenfalls leichtgradig zum negativen Pol hin verschobene Stimmung, eine zum negativen Pol hin eingeengte affektive Schwingungsfähigkeit beschrieben und ausgeführt, dass Anhalte für mnestische oder kognitive Defizite nicht vorgelegen hätten. Die durchgeführte laborchemische Untersuchung habe für alle vom Kläger angegeben Medikamente Werte jeweils knapp oberhalb der Nachweisgrenze gezeigt. Anhaltspunkte für eine Simulation bzw. Aggravation hätten sich z.B. beim An- und Entkleiden und in unbeobachteten Momenten gezeigt. Trotz der berichteten enormen Schmerzhaftigkeit habe der Kläger während der gesamten Begutachtung keinen schmerzgeplagten Eindruck gemacht. E1 hat die Einschätzung vertreten, der Kläger könne einer leichten Tätigkeit wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich nachgehen.

Der Kläger ist der gutachterlichen Einschätzung von E1 entgegengetreten. Diese habe insb. den Schmerzmittelabusus, der bei ihm vorliege, unbeachtet gelassen. Auch sei nicht nachvollziehbar, dass die Gutachterin bei ihm nicht vom Vorliegen einer relevanten Angststörung ausgehe.

Unter dem 23. November 2021 hat E1 dahingehend ergänzend Stellung genommen, als sie mitgeteilt hat, dass sich seitens des Klägers während der Anamneseerhebung als auch bei der körperlich sowie nicht sprachgebundenen testpsychologischen Untersuchung eine mangelnde Anstrengungsbereitschaft gezeigt habe. Ein Schmerzmittelmissbrauch habe sich in der aktuellen Blutuntersuchung nicht belegen lassen, was gegen eine Analgetikaabhängigkeit spreche. Ein Schmerzmittelabusus habe zudem keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Aus gutachterlicher Sicht sei die Diagnose einer Panikstörung nicht zu stellen, Schweißausbrüche und Schwindel seien nicht die einzigen symptomatischen Merkmale. Eine solche Diagnose sei auch nicht seitens der behandelnden Psychiaterin gestellt worden. Eine Änderung ihrer Leistungseinschätzung sehe sie durch das klägerische Vorbringen nicht bedingt.


Mit Gerichtsbescheid vom 17. Januar 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, der Bescheid vom 8. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2020 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrte Rente wegen Erwerbsminderung; er sei, wie aus dem nachvollziehbaren Gutachten der E1 folge, trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Der psychische Befund des Klägers sei bei der Untersuchung durch die Gutachterin nicht erheblich beeinträchtigt gewesen. Der Kläger habe vielmehr während des gesamten mehrstündigen Gesprächs meist konzentriert gewirkt. Auch der Antrieb sei aktuell als nur leicht reduziert beschrieben worden; die Stimmung sei als allenfalls leichtgradig depressiv, die affektive Schwingungsfähigkeit als erhalten und lediglich zum negativen Pol hin verschoben befundet worden. Die neurologischen Untersuchungen der Gutachterin hätten keine maßgeblichen Einschränkungen gezeigt. Die Gutachterin habe überdies Zeichen einer Aggravation beschrieben. So sei das Gangbild verlangsamt und schleppend demonstriert mit vornübergebeugtem Oberkörpern, den der Kläger auch nach Aufforderung nicht habe aufrichteten können, was diesem hingegen in unbeobachteten Momenten unproblematisch möglich gewesen sei. Insg. habe der Kläger in der klinischen Untersuchung erhebliche demonstrative Tendenzen, die sich in der festgestellten Auffälligkeit nicht einer zerebralen Schädigung oder den peripheren Nerven zuordnen ließen, gezeigt. Auffällig sei nach den Beschreibungen der Gutachterin auch gewesen, dass der Kläger in der gutachterlichen Untersuchung erhebliche Schmerzen angegeben habe, indes in der mehrstündigen Begutachtung nach den Bekundungen der Gutachterin zu keinem Zeitpunkt einen schmerzgeplagten Eindruck gemacht habe. Der Spiegel der vom Kläger angegeben Einnahme der Medikamente Ibuprofen und Tramadol habe in der durchgeführten Blutuntersuchung jeweils nur unterhalb der Nachweisgrenze und weit entfernt von der Wirkstoffgrenze gelegen; von einem Schmerzmittelabusus sei daher nicht auszugehen. Bezüglich des angegebenen lumbalen Bandscheibenvorfall habe sich bei der Untersuchung durch E1 kein Hinweis auf eine akute oder chronische radikuläre Schädigung gezeigt. E1 habe überdies auch von einer mangelnden Anstrengungsbereitschaft beim Kläger berichtet. Eine Panikstörung sei beim Kläger, so das SG, nach den Ausführungen der Gutachterin nicht nachzuweisen, die diagnostischen Kriterien seien nicht erfüllt. Die durch die bestehenden Gesundheitsstörungen bedingten Einschränkungen führten, so das SG, lediglich zu qualitativen Leistungseinschränkungen. Zu vermeiden seien Tätigkeiten in Zwangshaltungen insb. häufige Überkopfarbeiten, häufiges Bücken. Auch Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten könne der Kläger nicht ausüben. Arbeiten unter ungünstigen klimatischen Bedingungen, insb. unter Kälte und Nässe seien nicht leidensgerecht, ebenso wie Akkord-oder Nachtarbeit. Soweit die behandelnden L1 von einem aufgehobenen Leistungsvermögen ausgehe, überzeuge dies nicht, weil sich eine Begründung für die Annahme eines zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens der Aussagen der Ärztin nicht entnehmen lasse. Da auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder für eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung vorlägen, könne der Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht beanspruchen.

Gegen den ihm am 26. Januar 2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 18. Februar 2022 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden- Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung bringt er vor, das SG habe seine Entscheidung auf die gutachterliche Einschätzung der E1 gestützt, obschon das Gutachten nicht nachvollziehbar sei und ihm nicht gefolgt werden könne. So habe die Gutachterin eine unzureichende Behandlung thematisiert, obschon er, der Kläger, seit Jahren in Behandlung stehe. Auch sei eine muttersprachliche Therapie nicht möglich gewesen. Auch habe die Gutachterin bei ihm eine chronische Schmerzerkrankung festgestellt, jedoch diese bei der Leistungseinschätzung nicht eingeordnet. Sie habe offengelassen, ob beim Kläger ein Schmerzmittelabusus vorliege, obwohl dies erforderlich gewesen wäre, um der Leitungseinschätzung eine Nachvollziehbarkeit zu vermitteln. Eine rentenausschließende Leistungsfähigkeit bestehe daher allenfalls, wenn und sofern ihm eine ausreichende Therapie zur Verfügung gestellt werde, was jedoch nicht geschehen sei. Durch die Gewährung einer (zeitlich befristeten) Erwerbsminderungsrente würde ihm die Möglichkeit gegeben, die notwendigen Therapien zu absolvieren, um danach wieder gestärkt in das Arbeitsleben zurückzukehren.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17. Januar 2022 auszuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2020 zu verurteilen, ihm ab dem 1. November 2019 eine befristete Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages verweist die Beklagte auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und die aus ihrer Sicht zutreffenden Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides.

Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2024 hat die Beklagte, mit solchem vom 8. März 2024 der Kläger das Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insb. des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind, verwiesen.




Entscheidungsgründe

Die statthafte (vgl. § 143 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat nach dem erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), führt für diesen inhaltlich nicht zum Erfolg.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom
18. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2020, mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren, abgelehnt hat. Dieser Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; er hat keinen Anspruch auf die begehrte Erwerbsminderungsrente.

Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeinen Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - unabhängig von der Arbeitsmarktlage - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Hieraus folgt, dass grundsätzlich allein eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher (quantitativer) Hinsicht eine Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen vermag, hingegen der Umstand, dass bestimmte inhaltliche Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht mehr verrichtet werden können, einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung grundsätzlich nicht zu begründen vermag.

Bei dem tatbestandlichen Merkmal der Erwerbsminderung handelt es sich um ein positives, den Anspruch begründendes Element. Dies bedeutet, dass der Versicherte, vorliegend der Kläger, die Folgen zu tragen hat, wenn trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten eine rentenberechtigende Leistungsminderung nicht im Vollbeweis belegt ist. D.h. es muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass das Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist. Bloße Zweifel genügen nicht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2020 - L 5 R 3680/17 -, in juris, dort Rn. 30).

Vor diesem Hintergrund ist das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid zu der berufungsrechtlich nicht zu beanstandenden Einschätzung gelangt, dass beim Kläger keine rentenbegründende quantitative Leistungseinschränkung besteht. Auch der Senat ist nicht davon überzeugt, dass das Leistungsvermögen des Klägers in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist. Der Senat folgt der Beweiswürdigung des SG und weist die Berufung hiernach aus den zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid zurück. Der Senat sieht insofern nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Begründung seiner Entscheidung ab.

Im Hinblick auf das Vorbringen zur Begründung der Berufung ist lediglich ergänzend auszuführen, dass vorliegend offengelassen werden kann, ob bei dem Kläger, wie von ihm geltend gemacht, ein Schmerzmittelabusus vorliegt. Im Kontext der Frage des Vorliegens einer Erwerbsminderung ist nicht maßgebend, ob und welche Gesundheitsstörung in welcher Graduierung vorliegt, entscheidend ist vielmehr einzig, ob Leistungseinschränkungen bestehen, die der Ausübung einer Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich entgegenstehen. I.d.S. kommt es (bei Rentenbegutachtungen) weniger auf die Diagnosestellung, als auf bestehende Leistungseinschränkungen an (vgl. Thüringer LSG, Urteil vom 30. Juni 2015 - L 6 R 166/08 ZVW -, in juris), ob diese gesichert bestehen und ggf. überwunden werden können.

Zu betonen ist überdies, dass maßgebend für die Annahme einer rentenrechtlich relevanten Leistungseinschränkung ist, ob das in Ansehung der funktionellen Auswirkungen der psychischen Erkrankung verbleibende Fähigkeitsprofil des Versicherten, insb. im Hinblick auf Struktur, Teilhabe und Aktivität, eine Teilnahme am Erwerbsleben zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erlaubt. Grundlage dieses Abgleichs bildet der psychische Befund und die individuelle Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten (Bewusstsein, Orientierung, Auffassung/Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen, Gedächtnis, formales und inhaltliches Denken, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Affektivität, Antrieb, Flexibilität und subjektives Krankheitsverständnis und Krankheitserleben). Funktionsbeeinträchtigungen, in gegebenem Kontext insb. die geistig-psychische Belastbarkeit, sind im Recht der Erwerbsminderungsrenten nur dann relevant, wenn sie sich auf die Fähigkeit zur Teilhabe unter besonderer Berücksichtigung des Erwerbslebens quantitativ (im Gegensatz zur bloß qualitativen Einschränkungen) auswirken. Das verbleibende qualitative Leistungsvermögen (positiv wie negativ) hat i.d.R. keine prägende Bedeutung für die rentenrechtlich erforderliche Reduzierung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht. Erst wenn die Beeinträchtigungen durch die psychische Störung so gravierend sind, dass die Lebensführung durch sie geprägt wird, ist von einem quantitativ geminderten Leistungsvermögen auszugehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Regel nicht nur in der Teilhabe am Erwerbsleben manifestieren, sondern in allen Lebensbereichen mehr oder weniger starke Auswirkungen zeitigen. Hieraus folgt, dass von einer Minderung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben auszugehen ist, wenn die psychische Störung die gesamte Lebensführung übernommen hat.

Bezugspunkt der für die Rentengewährung erforderlichen (quantitativen) Leistungsreduzierung ist hierbei der „allgemeine Arbeitsmarkt“. Der Arbeitsmarktbegriff des § 43 SGB VI erfasst alle denkbaren Tätigkeiten, für die es faktisch ein „Angebot“ und eine „Nachfrage“ gibt. „Allgemein“ grenzt hierbei den ersten Arbeitsmarkt von dem zweiten - öffentlich geförderten – Arbeitsmarkt sowie von Sonderbereichen, wie bspw. Werkstätten für behinderte Menschen und anderen geschützten Einrichtungen ab. Übliche Bedingungen umschreibt die Faktoren, die wesentliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses sind. Neben den gesetzlichen Regelungen (bspw. zur Dauer und Verteilung der Arbeitszeit) rechnen auch individuelle Umstände wie kognitive Grundfähigkeiten, die krankheitsbedingt herabgesetzt sein können, hierzu. Mithin ist für die Annahme einer quantitativen Leistungseinschränkung erforderlich, dass die für die Ausübung einer Tätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz nicht (mehr) vorliegen (vgl. Freudenberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl. [Stand 1. April 2021], § 43 SGB VI, Rn. 164 ff.).

Dass diese Fähigkeiten beim Kläger nicht mehr vorhanden sind, ist für den Senat nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belegt. Bereits die von E1 erhobenen psychopathologischen Befunde zeigen keine maßgebliche Einschränkung einer psychischen Dimension. So hat E1 lediglich eine
leichte Antriebsreduzierung, eine allenfalls leichtgradig zum negativen Pol hin verschobene Stimmung, eine zum negativen Pol hin eingeengte affektive Schwingungsfähigkeit beschrieben und ausgeführt, dass Anhalte für mnestische oder kognitive Defizite nicht vorgelegen hätten. Darüber hinaus hat sie ausgeführt, Anhaltspunkte für eine Simulation bzw. Aggravation gesehen zu haben, als der Kläger trotz der berichteten enormen Schmerzhaftigkeit während der gesamten Begutachtung keinen schmerzgeplagten Eindruck gemacht habe. Befunde, die die Annahme einer quantitativen Leistungseinschränkung begründen könnten, hat sie hingegen nicht mitgeteilt. Da solche auch nicht von der behandelnden Ärztin angeführt sind, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers aufgrund der vorliegenden Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet rentenbegründend herabgesetzt ist. Auch soweit der Kläger an Gesundheitsstörungen auf anderen Fachgebieten leidet, begründen auch diese zur Überzeugung des Senats keine quantitative Leistungsreduzierung. Auch diesbezüglich sind keine derart schweren Befunde aktenkundig, die eine solche Annahme tragen könnten

Mithin ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers durch die bestehenden Gesundheitsstörungen in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist.
Der Kläger ist daher weder teilweise, noch voll erwerbsgemindert.

Anhaltspunkte für das Vorliegend einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer spezifischen Leistungsbehinderung oder für eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes liegen nicht vor, weswegen dem Kläger auch keine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen ist.

Der Kläger hat mithin keinen Anspruch auf die Gewährung einer vollen oder einer teilweisen Rente wegen Erwerbsminderung.

Ein Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit scheidet bereits deswegen aus, weil der Kläger nicht vor dem 2. Januar 1961 geboren ist (vgl. § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI).

Der Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2020 erweist sich daher als rechtmäßig, weswegen die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 17. Januar 2022 zurückzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt im Rahmen der anzustellenden gerichtlichen Ermessensentscheidung (vgl. BSG, Beschluss vom 25. Mai 1957 - 6 RKa 16/54 -, in juris, dort Rn. 8), dass der Kläger mit seinem Begehren nicht durchgedrungen ist und die Beklagte keine Veranlassung für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens gegeben hat.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht


 

Rechtskraft
Aus
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