L 2 SO 2065/19 WA

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 2414/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 2065/19 WA
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Das Urteil des Senats vom 22. Februar 2017 (L 2 SO 2414/16) und der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 12. Mai 2016 (S 9 SO 2065/15) sowie der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 werden aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten für das Klage- und Berufungsverfahren sowie die Wiederaufnahmeklage zu erstatten.



Tatbestand

I.

Der Kläger wendet sich mit der Wiederaufnahmeklage gegen das Urteil des erkennenden Senates vom 22. Februar 2017 (L 2 SO 2414/16).

Im hier zu Grunde liegenden Ausgangsverfahren stand die Aufhebung und geltend gemachte Erstattung von im Rahmen der Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung von der Beklagten gewährten Leistungen der Kosten der Unterkunft, ausgezahlte Grundmiete für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 in Höhe von 847,62 € bzw. für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 31. Dezember 2011 in Höhe von 11.019,06 € im Streit.

Der 1955 geborene Kläger bezog bei der Beklagten bereits seit Januar 2003 Leistungen zur Grundsicherung, da er nach den Feststellungen des Rentenversicherungsträgers - ohne die beitragsrechtlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Rentenanspruch zu erfüllen, - auf Dauer erwerbsunfähig bzw. voll erwerbsgemindert ist.

Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 22. Februar 1996 war dem Kläger von seiner Schwester (E1) an der von ihm bereits seit 1993 bewohnten Wohnung am O1-Platz in H1 ein Nießbrauch eingeräumt worden, der am 8. August 1996 in das Grundbuch eingetragen worden ist.

Der Beklagten waren die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Kläger hinsichtlich eines Leistungsbetruges im Zusammenhang mit Einnahmen aus Tätigkeiten als Umzugshelfer sowie wegen Steuerhinterziehung (spätestens) seit Ende April 2009 bekannt. Im November 2011 erhielt die Beklagte erstmals über das Hauptzollamt aufgrund entsprechender Ermittlungen und Durchsuchungen auch Kenntnis von dem Nießbrauch des Klägers an der von ihm bewohnten Wohnung seiner Schwester.

Die Beklagte hatte dem Kläger zuletzt mit Bescheiden vom 10. Februar 2011 bzw. vom 8. April 2011 für das Kalenderjahr 2011 Leistungen der Grundsicherung in Höhe von monatlich 582,38 € bewilligt. Hierbei hatte die Beklagte den Bedarf des Klägers wie folgt zuletzt im Bescheid vom 8. April 2011 berechnet:


Regelbedarf                                                   364,00 €
abzüglich Stromanteil (aus KdU)                  -28,29 €
Kranken- und Pflegeversicherung                143,51 €
Grundmiete                                                    147,27 €
anerkannte Nebenkosten                              30,00 €
Heizkosten                                                     33,25 €
Gesamtbedarf                                               683,74 €

Einkommensermittlung
nichtselbstständige Arbeit (Umzugshelfer)   150,00 €
abzüglich Freibetrag Erwerbseinkommen    - 43,44 €
abzüglich Arbeitsmitteln                                -  5,20 €
anrechenbares Gesamteinkommen             101,36 €

Grundsicherungsanspruch                            582,38 €.


Hierbei wurden - wie schon über die Jahre zuvor hinweg und oben bereits dargestellt - auch Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (KdU) berücksichtigt (monatliche Grundmiete 141,27 €, monatliche Heizkosten 33,25 € sowie monatliche Betriebskosten 30,00 €). Der monatliche Gesamtbetrag für die KdU von 204,52 € wurde von der Beklagten unmittelbar an die Schwester des Klägers ausbezahlt (Bl. 339 bzw. 351 Verwaltungsakte - VA -). Der Kläger hatte nämlich durchweg gegenüber der Beklagten angegeben, er bewohne die genannte Wohnung im Rahmen eines Mietverhältnisses und schulde seiner Schwester daher monatlich die oben genannten Beträge.
Mit Bescheid vom 20. Januar 2012 hat die Beklagte die Gewährung von Leistungen aufgrund des Weiterbewilligungsantrages vom 3. Januar 2012 für die Zeit ab 1. Januar 2012 unter Hinweis auf das Strafverfahren (hinsichtlich möglicherweise deutlich höherer Einnahmen aus der Tätigkeit als Umzugshelfer) und den im Raum stehenden Nießbrauch des Klägers an der von ihm bewohnten Wohnung abgelehnt, da aufgrund dieser Umstände ein erheblicher Zweifel an der Hilfebedürftigkeit des Klägers bestehe. Das Strafverfahren sei noch abzuwarten. Wenn das Ergebnis vorliege, werde über die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen entschieden und der Kläger hierzu angehört.

Mit Schreiben vom 10. Januar 2014 forderte die Beklagte den Kläger auf, über den Stand des Strafverfahrens zu berichten bzw. die entsprechenden Urteile vorzulegen. Dem kam der Kläger im Februar 2014 nach.

Mit Berufungsurteil vom 14. Oktober 2013 war der Kläger im Rahmen eines Strafverfahrens vom Landgericht H1 in Abänderung des Urteils des Amtsgerichts H1 vom 14. Mai 2013  wegen der in betrügerischer Absicht erschlichenen Übernahme der oben genannten Aufwendungen durch das Sozialamt der Beklagten zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu jeweils 10,00 € verurteilt worden. Zur Begründung hatte das Landgericht zusammengefasst ausgeführt, der entsprechende Mietvertrag vom 11. November 2000 - möglicherweise unter dem maßgeblichen Einfluss der Schwester - sei nur zum Schein abgeschlossen worden. Die mehrfache Vorlage dieses Mietvertrages auf dem Sozialamt (der Beklagten) und die Behauptung, für die Nutzung der Wohnung die genannten Beträge zu schulden, verwirkliche nach Auffassung des Landgerichts sowohl den objektiven wie auch den subjektiven Tatbestandes des Betruges, da das Sozialamt daraufhin irrtümlich über Jahre hinweg monatlich zu Unrecht 204,52 € auf ein Bankkonto der Schwester des Klägers überwiesen habe. Nach den ausdrücklichen Feststellungen des Landgerichts hat der Kläger für dieses Konto eine Kontovollmacht besessen, eingehende Gelder abgehoben und für sich verbraucht sowie die für die Wohnung aufzubringenden Nebenkosten per Dauerauftrag beglichen. In seinen Urteilsgründen hatte das Landgericht weiter ausgeführt, der Verdacht, der Kläger habe aus seiner Tätigkeit bei verschiedenen Umzugsfirmen weitere, gegenüber dem Sozialamt nicht angegebene Zahlungen in beträchtlicher Höhe erhalten und zudem entgegen seinen Angaben in einer Bedarfsgemeinschaft mit R1 gelebt, was ebenfalls zur Schmälerung seiner Sozialhilfeansprüche geführt hätte, habe sich nicht beweisen lassen.

Mit Schreiben vom 8. Mai 2014 hörte die Beklagte sodann den Kläger dazu an, dass beabsichtigt sei, die zu Unrecht gezahlten Kosten der Unterkunft und Heizung (monatlich 204,52 €) seit Hilfebeginn aufzuheben und zurückzufordern.

Mit Rückforderungsbescheid vom 20. Januar 2015 hob die Beklagte sodann die Bescheide vom 22. Juli 2005, 24. August 2005, 15. Dezember 2005, 16. Januar 2006, 12. Juli 2006, 7. Februar 2007, 21. Juni 2007, 27. August 2007, 24. Oktober 2007, 8. Januar 2008, 24. Juni 2008, 3. November 2008, 18. Dezember 2008, 29. Juli 2009, 10. Dezember 2009, 25. März 2010 und 8. April 2011 teilweise auf und bezifferte die zu erstattenden Leistungen für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis zum 31. Dezember 2011 auf 11.019,06 €. Zur Begründung führte die Beklagte aus, nach § 45 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) dürfe ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, soweit dieser auf Angaben beruhe, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe oder wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des betreffenden Verwaltungsaktes erkannt bzw. aus grober Fahrlässigkeit nicht erkannt habe. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt, denn der Kläger habe zumindest grob fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich, verschwiegen, dass er infolge des Nießbrauchs berechtigt gewesen sei, die von ihm bewohnte Wohnung kostenfrei zu nutzen. Aufgrund der Vorlage des Mietvertrages vom 14. November 2000 habe die Beklagte somit die monatliche Grundmiete von 141,27 € zu Unrecht als sozialhilferechtlichen Bedarf akzeptiert. Der Kläger habe damit insgesamt 11.019,06 € (78 Monate x 141,27 €) zuviel erhalten. Von einer Aufhebung bzw. Erstattung der Verbrauchskosten (für 78 Monate insgesamt 4.933,50 €) werde abgesehen. Die Grundmiete habe der Kläger jedoch zu erstatten, denn er habe im Rahmen der Gerichtsverhandlung vor dem Amtsgericht H1 eingeräumt, dass der Mietvertrag mit seiner Schwester nur zum Schein abgeschlossen und tatsächlich zu keinem Zeitpunkt Miete gezahlt worden sei.
Zusammenfassend habe der Kläger somit hinsichtlich der Grundmiete die rechtswidrige Sozialhilfegewährung durch die Beklagte vorsätzlich, wenigstens aber grob fahrlässig herbeigeführt und somit Leistungen, die ihm nicht zugestanden hätten, erhalten. Das öffentliche Interesse an der Rückforderung überwiege gegenüber dem Privatinteresse des Klägers, die betreffenden Gelder behalten zu dürfen. Es könne der Allgemeinheit nicht zugemutet werden, öffentliche Fürsorgemittel in einer Höhe aufzuwenden, auf die kein Anspruch bestehe. Somit bewege sich diese Entscheidung im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung. Die Beklagte wies im Weiteren noch darauf hin, dass der Kläger bereits zum Zeitpunkt der Leistungseinstellung (20. Januar 2012) sowie mit einem weiteren Schreiben vom 8. Mai 2014 darüber informiert worden sei, dass nach Abschluss der Ermittlungen bzw. der Gerichtsverhandlung geprüft werden sollte, ab welchem Zeitpunkt und in welcher Höhe Leistungen zurückgefordert werden sollten. Das Strafurteil des Amtsgerichts sowie das zitierte Berufungsurteil des Landgerichts seien auf dem Sozialamt jedoch erst am 6. Februar 2014 eingegangen, sodass die eingehende Prüfung bzw. Feststellung der Rückforderung erst ab diesem Zeitpunkt möglich gewesen sei.

Mit einem weiteren Rückforderungsbescheid vom 30. Januar 2015 hob die Beklagte auch den Bewilligungsbescheid vom 21. Dezember 2004 bezüglich der ersten Jahreshälfte 2005 (1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005) auf und machte die Erstattung von 847,62 € geltend (sechs Monate mit jeweils 141,27 €). Hier führte die Beklagte noch aus, vorliegend seien die Voraussetzungen aus § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X erfüllt, wonach eine zeitlich unbefristete Rückforderung möglich sei. Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 Nr. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) würden nicht vorliegen. Die Gewährung der Grundmiete im Rahmen der Grundsicherung beruhe auf dem Scheinmietvertrag vom 14. November 2000. Darüber hinaus müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger bösgläubig gehandelt habe.

Gegen den Rückforderungsbescheid vom 20. Januar 2015 hat der Kläger am 28. Januar 2015 und gegen den weiteren Bescheid vom 30. Januar 2015 am 4. Februar 2015 jeweils Widerspruch erhoben und zur Begründung geltend gemacht, selbst wenn das Vorbringen der Beklagten als richtig unterstellt werde, könnten die angefochtenen Bescheide nicht auf § 45 SGB X, sondern nur auf § 48 SGB X beruhen. Wenig nachvollziehbar seien auch die Ausführungen zum angeblichen Zeitpunkt, zu dem die Prüfung bzw. die Feststellung der Rückforderung möglich gewesen sei. Hiermit versuche die Beklagte allem Anschein nach, die maßgeblichen Rücknahme- bzw. Aufhebungsfristen zu umgehen (§ 45 Abs. 4 SGB X bzw. § 48 Abs. 4 SGB X). Selbst wenn man davon ausgehe, dass die Jahresfrist frühestens mit der Anhörung in Lauf gesetzt werde, sei hier aufgrund des derart langen Zeitraums zwischen der Kenntnis des Sozialamts und der Rückforderung offensichtlich Verwirkung eingetreten. Jedenfalls erhebe er für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis 31. Dezember 2011 die Einrede der Verjährung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 2015 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 20. Januar 2015 zurück und wies ergänzend noch darauf hin, dass eine Verwirkung der geltend gemachten Rückforderung nicht eingetreten sein könnte, da erst nach Vorlage der Strafurteile eine Gesamtbeurteilung und nochmalige Überprüfung der Angelegenheit möglich gewesen sei. Im Übrigen seien die entsprechenden Bescheide von Anfang an rechtswidrig gewesen, sodass § 45 SGB X, nicht aber § 48 SGB X angewendet werden müsse.
Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 2015 wies die Beklagte aus den gleichen Gründen auch den Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. Januar 2015 zurück.


II.

Sowohl gegen den Bescheid vom 20. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 (Aktenzeichen S 9 SO 2065/15) als auch gegen den Bescheid vom 30. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2015 (S 9 SO 2066/15) hat der Kläger jeweils durch seinen damaligen Bevollmächtigten Klage vor dem Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Eine weitere Klagebegründung erfolgte nicht.

Die Beklagte war dem entgegengetreten und hat auf ihre bisherigen Ausführungen verwiesen. Ergänzend hatte sie noch im Hinblick auf einen gerichtlichen Hinweis, dass die Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 21. Dezember 2004 nach Ablauf der maßgeblichen Zehnjahresfrist ausgeschlossen sein dürfte, darauf verwiesen, dass die Zehnjahresfrist bei Restitutionsgründen nicht zur Anwendung komme.

Mit Beschluss vom 31. Juli 2015 hat das SG die beiden Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Am 8. Dezember 2015 hat vor dem SG ein Erörterungstermin stattgefunden, an dem auch der Kläger in Begleitung seines Bevollmächtigten teilgenommen und sich auch zur Sache geäußert hatte.

Mit Gerichtsbescheid vom 12. Mai 2016 hat das SG den Bescheid vom 30. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2015 (betreffend die Rücknahme des Bescheides vom 21. Dezember 2004 mit einem Erstattungsbetrag in Höhe von 847,62 €) aufgehoben und im Übrigen die Klage abgewiesen.
Das SG hat hierbei die Auffassung vertreten, dass die Klage gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 30. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2015 (Rückforderungsbetrag 847,62 €) begründet, im Übrigen jedoch die Klage gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 20. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 unbegründet sei.
Aufgrund der Feststellungen, die im Strafverfahren getroffen worden seien, stehe für das SG fest, dass die Leistungsbewilligungen nach dem SGB XII im Hinblick auf die Berücksichtigung der Grundmiete (§§ 42 Nr. 4, 5 und 35 SGB XII) den Kläger in rechtswidriger Weise begünstigt hätten, denn eine rechtsverbindliche Verpflichtung des Klägers zur Mietzahlung habe nicht bestanden.
Damit beruhten die angefochtenen Bescheide in formeller Hinsicht zutreffend auf § 45 Abs.1 SGB X. Insoweit irre der Kläger, wenn er auf § 48 SGB X verweise, da diese Vorschrift nur Fälle betreffe, in denen eine Leistungsbewilligung ursprünglich rechtmäßig gewesen und erst später (durch eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse) rechtswidrig geworden sei. In Fällen wie hier, bei anfänglicher Rechtswidrigkeit, komme jedoch § 45 SGB X zur Anwendung. Die gebotene Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X sei auch vor Erteilung der angefochtenen Bescheide ordnungsgemäß mit Anhörungsschreiben vom 8. Mai 2014 durchgeführt worden.
Des Weiteren genüge auch die Begründung der angefochtenen Bescheide bzw. Widerspruchsbescheide den gesetzlichen Anforderungen nach § 35 Abs. 1 SGB X. Die Ausführungen zum Rücknahmeermessen würden zwar etwas allgemein und formelhaft erscheinen, seien aber nach Auffassung des SG (noch) ausreichend. Im Übrigen wäre ein etwaiger Begründungsmangel insoweit nach § 42 Satz 1 SGB X ohnehin nicht geeignet, den Anfechtungsklagen zum Erfolg zu verhelfen, denn es sei offensichtlich, dass ein solcher Begründungsmangel die angefochtenen Entscheidungen in der Sache nicht beeinflusst haben könne.
Nach Auffassung des SG habe die Beklagte des Weiteren auch die für die Rücknahme der jeweiligen Leistungsbewilligungen maßgebliche Entscheidungsfrist eingehalten. In diesem Zusammenhang sei auf § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu verweisen. Danach müsse die Behörde die Rücknahme der entsprechenden Bewilligungsbescheide innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen verfügen, welche die Rücknahme rechtfertigten. Die einjährige Rücknahmefrist beginne wegen der bei § 45 Abs. 1 SGB X grundsätzlich gebotenen Ermessensbetätigung jedoch erst mit der Anhörung des Begünstigten. Erst dann könne die Verwaltungsbehörde dessen Belange bei ihrer Entscheidung berücksichtigen. So liege es hier, denn die Rücknahme der entsprechenden Leistungsbewilligungen unterliege, wie im Weiteren noch dargestellt werde, dem Ermessen der Beklagten. Vor diesem Hintergrund habe die einjährige Rücknahmefrist erst mit der Anhörung des Klägers (8. Mai 2014) begonnen und nach Ablauf eines Jahres am 8. Mai 2015 geendet. Die Rücknahmebescheide vom 20. Januar 2015 und 30. Januar 2015 würden daher die einjährige Rücknahmefrist wahren.
Entgegen der Auffassung des Klägers könne vorliegend auch nicht von einer Verwirkung des Rücknahmerechts ausgegangen werden. Es sei nicht ersichtlich, dass die Beklagte die Anhörung des Klägers in der Absicht verzögert hätte, den Lauf der einjährigen Rücknahmefrist in treuwidriger Weise hinauszuschieben. Hierbei sei besonders zu berücksichtigen, dass das Berufungsurteil im Strafverfahren erst im Oktober 2013 ergangen sei und der Kläger diese Entscheidung der Beklagten erst im Februar 2014 übersandt habe. Vor diesem Hintergrund begründe der Umstand, dass die Anhörung zur Rücknahme der rechtswidrigen Leistungsbewilligungen erst im Monat Mai 2014 erfolgt sei, kein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers, dass er die in betrügerischer Weise erschlichenen Leistungen endgültig behalten könnte.
In tatsächlicher bzw. materieller Hinsicht folge aus den Feststellungen, die das Landgericht H1 in seinem Strafurteil vom 14. Oktober 2013 getroffen habe, dass die monatliche Berücksichtigung der Miete (141,27 €) bei der Sozialhilfe des Klägers in der Zeit von Januar 2005 bis einschließlich Dezember 2011 zu Unrecht erfolgt sei. Eine vertragliche Verpflichtung des Klägers, diese Miete zu zahlen, habe nämlich nicht bestanden. Zudem habe der Kläger anlässlich der Erörterung des Sachverhalts am 8. Dezember 2015 beim SG ausdrücklich zugestanden, dass er über das Konto, auf das die Miete vom Sozialamt überwiesen worden sei, habe verfügen können und auch tatsächlich verfügt habe. Auf den entsprechenden Vorhalt des Vorsitzenden der Kammer des SG habe der Kläger ausdrücklich erklärt: Dies ist richtig! Vor diesem Hintergrund stehe fest, dass die angebliche Miete letztlich nicht dazu verwendet worden sei, die Unterkunft des Klägers zu finanzieren, sondern dass dieser Betrag über einen Umweg „in die Tasche des Klägers“ geflossen sei.
Wegen des betrügerischen Verhaltens des Klägers sei im Hinblick auf das aus § 45 Abs. 1 SGB X abgeleitete Rücknahmeermessen von einem intendierten Ermessen auszugehen. Dies bedeute, dass ein schutzwürdiges Vertrauen, dass einer Rücknahme der Leistungsbewilligungen entgegenstehen könnte (siehe § 45 Abs. 2 SGB X), schlechterdings nicht denkbar sei. Somit sei die Beklagte zwingend gehalten gewesen, die entsprechenden Leistungsbewilligungen ohne weitere Ermessenserwägungen zurückzunehmen. Etwas anderes ergäbe sich nur dann, wenn eine atypische Sachverhaltskonstellation gegeben wäre, die einzelfallbezogene Ermessenserwägungen erfordert hätte. Ein atypischer Fall, der es zugunsten des Klägers im Ermessenswege hätte gebieten können, von einer Rücknahme der Leistungsbewilligungen abzusehen, werde vorliegend nicht dadurch begründet, dass die Miete nicht unmittelbar an ihn selbst, sondern auf ein Bankkonto seiner Schwester ausgezahlt worden sei. Denn der Kläger habe - wie er vor Gericht ausdrücklich bestätigt habe - über das entsprechende Bankkonto seiner Schwester verfügen können und die entsprechenden Beträge letztlich für sich selbst verwendet. Damit beinhalte das Tun des Klägers schlussendlich nicht einen Fremd-, sondern einen eigennützigen Betrug, sodass die Beklagte letztlich gehalten gewesen sei, die Leistungsbewilligungen gegenüber dem Kläger ohne besonderes Ermessen zurückzunehmen.
Entgegen der Auffassung des Klägers sei die Rückforderung der entsprechenden Beträge auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung ausgeschlossen. Solche, die Verwirkung auslösenden besonderen Umstände lägen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf habe vertrauen dürfen, dieser werde das Recht nicht mehr geltend machen, wenn der Verpflichtete dann auch tatsächlich darauf vertraut habe, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werden würde und wenn er sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Diese Voraussetzungen seien hier durch den dargestellten Zeitablauf (landgerichtliches Strafurteil im Oktober 2013, Vorlage desselben auf dem Sozialamt der Beklagten im Februar 2014, Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme der Leistungsbewilligungen im Monat Mai 2014) nicht ersichtlich.
Allerdings sei die Anfechtungsklage bezogen auf den Bescheid vom 30. Januar 2005 im Hinblick auf die Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 21. Dezember 2004 betreffend die erste Jahreshälfte 2005 mit einem Erstattungsbetrag in Höhe von 847,62 € begründet. Denn § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X lasse die Rücknahme eines in betrügerischer Weise erlangten Bewilligungsbescheides nur innerhalb einer Frist von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zu. Hierbei unterstelle das SG mangels anderweitiger Anhaltspunkte, dass der Bewilligungsbescheid vom 21. Dezember 2004 noch im Kalenderjahr 2004 zugegangen sei, sodass die entsprechende zehnjährige Rücknahmefrist am 31. Dezember 2014 abgelaufen sei. Der zugehörige Rücknahmebescheid datiere jedoch erst auf den 30. Januar 2015.
In diesem Zusammenhang treffe es zwar grundsätzlich zu, dass eine zeitlich unbefristete Rücknahme (auch nach Ablauf der Zehnjahresfrist) nach § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X grundsätzlich möglich sei, wenn Restitutionsgründe nach § 580 ZPO vorliegen würden. Solche seien vorliegend jedoch nicht gegeben.

III.

Der Kläger hat gegen den seinem damaligen Bevollmächtigten mit Empfangsbekenntnis am 25. Mai 2016 zugestellten Gerichtsbescheid am 24. Juni 2016 beim SG Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt (L 2 SO 2414/16). Eine weitere schriftliche Begründung erfolgte nicht.

Die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2017 war dem Kläger laut Postzustellungsurkunde (PZU) am 22. Dezember 2016 in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten eingelegt worden. Der Kläger war nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen.

Mit Urteil vom 22. Februar 2017 hatte der erkennende Senat die Berufung zurückgewiesen und hierbei auf das SG-Urteil Bezug genommen sowie ausdrücklich klargestellt, dass die Erstattungsansprüche der Beklagten nicht verjährt seien.

Das Urteil vom 22. Februar 2017 war dem Kläger laut PZU am 3. März 2017 in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten eingelegt worden.

IV.

Erstmals mit Schreiben vom 18. Mai 2017 (Eingang bei Gericht am 23. Mai 2017) hatte der Kläger die „wieder Einsetzung in den alten Stand“ beantragt. Er hatte geltend gemacht, die Ladung nicht erhalten zu haben. Ferner hatte er ausgeführt, im Urteil stehe so viel, was „einfach so“ behauptet werde, wozu er aber nie habe antworten können.
Insbesondere seien seine Krankenkassenrückstände (um die es gehe) mittlerweile so hoch, dass er diese in diesem Leben nicht mehr zahlen könne. Lediglich seinem Sohn und seiner Familie habe er zu verdanken, dass er noch „lebe“.
Der Kläger hatte im Weiteren Ausführungen im Zusammenhang mit seiner Nebentätigkeit als Umzugshelfer und im Hinblick darauf gemacht, dass ihn sein damaliger Partner gegenüber den Finanzbehörden bzw. der Beklagten denunziert habe.

Trotz entsprechender Hinweise durch den Vorsitzenden, dass der Kläger nach den vorliegenden Unterlagen die Ladung erhalten habe, das Verfahren hier rechtskräftig abgeschlossen und für eine Wiedereinsetzung in die versäumte mündliche Verhandlung kein Raum sei (Schreiben vom 29. Mai 2017 und 26. Juni 2017), hatte der Kläger mit Schreiben vom 9. Juni 2017 und 5. Juli 2017 an der von ihm beantragten „Einsetzung in den alten Stand“ festgehalten.

In der mündlichen Verhandlung am 13. September 2017 hatte der Kläger seine Wiederaufnahmeklage (L 2 SO 2648/17 WA) zurückgenommen. Der Kläger hatte in dem Zusammenhang auf Vorschlag des Senates noch die sofortige Gewährung von Leistungen der Grundsicherung gegenüber der Beklagten zu Protokoll beantragt.

V.

Mit Schreiben vom 17. Juni 2019 hat der Kläger die „Wiedereinsetzung in den alten Stand“ beantragt und unter anderem geltend gemacht, er habe die Klage im Termin am 13. September 2017 zurückgenommen, weil ihm von Seiten des Senates erklärt worden sei, sein Anwalt habe seinerzeit das falsche weiterverfolgt und hier käme nichts Anderes für ihn heraus. Die Beklagte habe das allerdings so ausgelegt, als handele es sich um ein Schuldeingeständnis und so werde ihm widerrechtlich seine Krankenkasse verweigert.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat darauf verwiesen, dass der Kläger in der Folgezeit trotz entsprechender Aufforderung nicht die nötigen Antragsunterlagen bzw. entsprechend angeforderte Unterlagen vorgelegt hatte, weshalb die Anträge (vom 13. September 2017, 27. März 2018 und 2. Juli 2019) jeweils abgelehnt worden seien.

Mit Schreiben vom 17. September 2019 hat sich der Bevollmächtigte des Klägers legitimiert und zunächst zur Frage der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide vorgetragen.

Erstmals im Erörterungstermin vom 27. November 2019 führt der Klägerbevollmächtigte unter Vorlage entsprechender Atteste aus, der Kläger sei seinerzeit 2016 nicht in der Lage gewesen, entsprechende Prozesserklärungen abzugeben, weshalb die Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim beantragt werde.
Schriftsätzlich macht der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 19. Dezember 2019 noch geltend, der Kläger sei in diesem Verfahren nicht prozessfähig und auch nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen, so dass der Wiederaufnahmegrund nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO gegeben sei. Mit fachärztlichen Attest von B1 aus H1 vom 23. Juli 1998 sei festgestellt worden, dass beim Kläger eine chronische psychische Erkrankung bestehe, welche seine Leistungsfähigkeit schon seit langem ganz erheblich reduziere. In einem weiteren Schreiben an die ärztliche Dienststelle des Stadt-/Landkreises vom 1. April 2003 habe B1 ausgeführt, dass es sich beim Kläger um „ein sehr komplexes psychiatrisches Krankheitsbild“ handele, welches geprägt war/sei im Sinne einer Psychose (inzwischen abgeklungen), im Sinne einer depressiven Störung (rezidivierend) und im Sinne einer Persönlichkeitsstörung. In somatischer Hinsicht stünden beim Kläger seit sehr langer Zeit heftige und therapieresistente Kopfschmerzen im Vordergrund. Auch dort führe B1 aus, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers massiv eingeschränkt sei. Diese beiden Schreiben seien dem Bevollmächtigten kurz vor dem Termin zur Verhandlung am 27. November 2019 gezeigt worden. Eine entsprechende Antragstellung sei noch in diesem Termin vom Bevollmächtigten erfolgt, so dass die Notfrist des § 586 Abs. 1 ZPO gewahrt sei.
Nach Mitteilung des Klägers habe sich an seinen Gesundheitszustand seit den Feststellungen durch B1 nichts Signifikantes verändert. Ein gesetzlicher Vertreter sei dem Kläger nicht bestellt worden. Daher sei davon auszugehen, dass der Kläger, welcher im Berufungsverfahren nicht vertreten gewesen sei, in den Jahren 2016/2017 prozessunfähig gewesen sei. Es sei ein entsprechendes Sachverständigengutachten diesbezüglich einzuholen.
Richtig sei, dass er den Kläger in einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht H1 verteidigt habe. Eine Begutachtung des Klägers im Hinblick auf seine Prozessfähigkeit habe jedoch auch in diesem Verfahren nicht stattgefunden. Auf dieses Verfahren komme es vorliegend jedoch nicht an, da die Frage der verminderten Schuldfähigkeit oder einer Schuldunfähigkeit nicht mit der Frage einer Prozessunfähigkeit gleichzusetzen sei. Im Übrigen sei es auch nicht Aufgabe eines mit der Strafverteidigung beauftragten Rechtsanwalts ohne nähere Anhaltspunkte - die ärztliche Diagnose des B1 vom 1. April 2003 sei dem Klägerbevollmächtigten seinerzeit nicht bekannt gewesen - das Vorliegen der Voraussetzungen einer rechtlichen Betreuung zu prüfen.

Die Beklagte tritt dem entgegen und macht geltend, sofern der Klägerbevollmächtigte anführe, am Gesundheitszustand des Klägers habe sich in den letzten Jahren nichts geändert, stelle sich für die Beklagte die Frage, ob und gegebenenfalls welche Schritte vor diesem Hintergrund beispielsweise im Hinblick auf eine Betreuung unternommen worden seien. Der jetzige Bevollmächtigte kenne den Kläger schon seit Frühjahr 2013, als er ihn in einem Strafverfahren verteidigt hatte (gemeinsam mit dem Bevollmächtigten aus der ersten Instanz des vorliegenden Verfahrens, M1).
Im dortigen Verfahren sei das Amtsgericht H1 aufgrund der gesundheitlichen Situation des Klägers von einer verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 Strafgesetzbuch (StGB) ausgegangen; eine Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB habe das Gericht ausgeschlossen, da der Kläger „medikamentös eingestellt“ gewesen sei. Ob und inwieweit dem Gericht weitere Unterlagen vorgelegen hätten, sei hier nicht bekannt.
Die Einrichtung einer Betreuung (oder die Prüfung, ob eine solche angezeigt sei) hätte aus Sicht der Beklagten vor diesem Hintergrund zumindest nahegelegen und würde dokumentieren, dass sich die gesundheitliche Situation des Klägers – wie vom Bevollmächtigten vorgetragen – im Lauf der Jahre nicht wesentlich verändert habe.

In der mündlichen Verhandlung am 2. Dezember 2020 wurde der Kläger angehört, in der Folge die Verhandlung vertagt und bei S1, W1, das fachpsychiatrische Gutachten vom 7. März 2022 eingeholt.
Auf der Grundlage der vorhandenen medizinischen Unterlagen, der Angaben des Klägers zur Anamnese wie auch des erhobenen psychischen Befundes gelangte S1 zum Ergebnis, dass sich hier insgesamt ein vergleichsweise blandes psychotisches Bild zeige, dessen Details sich erst bei einer subtilen Exploration fassen ließen. Insgesamt gelangt er vor dem Hintergrund der – etwas spärlichen – aktenkundigen Vorbefunde bei typischer Psychopathologie unter Verwendung des Klassifikationssystem ICD-10 zur Diagnose einer paranoiden Schizophrenie mit stabilem Residuum (ICD-10: F20.02).
Zum Verlauf ergab sich für S1 das typische Bild einer Erstmanifestation in der ersten Hälfte der dritten Lebensdekade, dem typischen Erstmanifestationsalter von an Schizophrenie erkrankten Männern. Im Langzeitverlauf komme es typischerweise auch ohne psychiatrische Interventionen zu einer Abschwächung der Symptomatik.
Zur Frage der hier streitigen Prozessfähigkeit weist S1 darauf hin, dass die Urteilsfähigkeit, Willensbestimmung und einsichtsgeleitete Handlungsfähigkeit des Klägers durch die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen von Wahrnehmung, selbst erleben, formalem Denken und kognitiven Funktionen wirksam beeinträchtigt sei. Die Fehlwahrnehmungen (hier der zön ästhetische Schmerz <abnorme oder bizarre Körperempfindung in der Schizophrenie> im „linken Gehirn“) binden die Aufmerksamkeit so stark, dass bei hoher Ausprägung eine reguläre Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung substantiell erschwert werde. Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch S1 seien die Urteilsfähigkeit, die Willensbildung und die Handlungsfähigkeit durch die genannten psychopathologischen Krankheitsfolgen klar beeinträchtigt gewesen. Entsprechendes gelte umso mehr für das Jahr 2016, wo die aktuell feststellbaren Symptomenbildungen - nach plausiblen Darstellungen des Klägers selbst - substantiell stärker ausgeprägt gewesen seien. Retrospektiv sei nach Überzeugung vom S1 davon auszugehen, dass insbesondere in subjektiv als besonders stressreich erlebten Kontexten - etwa bei der Vorbereitung oder bei der Realisierung eines Gerichtstermins - die mentalen Voraussetzungen für eine freie und von der vorliegenden psychotischen Erkrankung und beeinflussten Urteilsfähigkeit, Willensbestimmung und einsichtsgeleiteten Handlungsfähigkeit nicht gegeben gewesen seien.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz von 22. März 2022 im Hinblick auf das Gutachten von S1 ausgeführt, aufgrund des Ergebnisses des Gutachtens stehe für sie fest, dass der Kläger weder im Zeitpunkt der Einlegung der Berufung am 24 Juni 2016 (L 2 SO 2414/16), noch im Zeitpunkt seiner (ersten) Wiederaufnahmeklage am 6. Juli 2017 (L 2 SO 2648/17 WA), noch im Zeitpunkt der Rücknahme seiner Wiederaufnahmeklage am 13. September 2017, noch im Zeitpunkt seiner erneuten und nun streitgegenständlichen Wiederaufnahmeklage am 17. Juni 2019 prozessfähig gewesen sei.
Da aber auch für die Wiederaufnahmeklage gemäß § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. § 585 ZPO die allgemeinen Verfahrensgrundsätze einzuhalten seien, wozu auch die Prozessfähigkeit gehöre, sei mithin die Wiederaufnahmeklage als unzulässig zu verwerfen.
Im Übrigen stelle sich aber auch für den Fall, dass das Gericht zum anderen Ergebnis gelangen sollte – oder für den Kläger ein Betreuer bestellt werde – perspektivisch die Frage, wie mit der durch den (prozessunfähigen) Kläger eingelegten Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG umzugehen sei. Dieser Gerichtsbescheid müsste zu Unrecht ergangen sein. Dafür müsste der Kläger im Zeitpunkt seiner Klageerhebung am 10. Juli 2015 prozessfähig gewesen sein. Das nun vorgelegte Gutachten beschäftige sich lediglich mit der Zeit ab dem Jahr 2016. Durch die Ausführungen des Gutachters scheine es aber naheliegend, auch für den früheren Zeitpunkt im Jahr 2015 bereits eine Prozessunfähigkeit anzunehmen. Folglich hätte der Kläger bereits keine wirksame Klage erhoben.
Daran anschließend stelle sich für die Beklagte vor diesem Hintergrund die Frage, ob bei Zustellung der streitgegenständlichen Bescheide die Fähigkeit zur Vornahme von Verfahrenshandlungen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB X gegeben gewesen seien. Diese Frage kläre das Gutachten nicht, festgestellt werde lediglich, „dass insbesondere in subjektiv als besonders stressreich erlebten Kontexten- etwa bei der Vorbereitung und bei Realisierung eines Gerichtstermins - die mentalen Voraussetzungen für eine freie und von der vorliegenden psychotischen Erkrankung und beeinflussten Urteilsfähigkeit, Willensbestimmung und einsichtsgeleiteten Handlungsfähigkeit nicht gegeben gewesen sind.“ Ob bereits die Zustellung eines Bescheides ausreicht, die Handlungsfähigkeit des Klägers im Sinne der Feststellungen aus dem Gutachten zu beeinträchtigen, bleibe ungeklärt.

Der Vorsitzende hat mit Schreiben vom 7. September 2022 vor dem Hintergrund, dass letztlich nach den Feststellungen von S1 wohl davon ausgegangen werden müsste - wovon wohl auch die Beklagte letztlich im Schriftsatz vom 22. März 2022 ausgehe - noch darauf hingewiesen, dass beim Kläger im Hinblick auf die schon seit den 1980ziger Jahren bestehenden Einschränkungen (Erstmanifestation der paranoiden Schizophrenie) bezüglich des hier im Ausgangsverfahren streitigen Zeitraumes (1. Juli 2005 bis 31. Dezember 2011) zumindest erhebliche Zweifel bestehen dürften, ob er zum Zeitpunkt der (erstmaligen) Antragstellung einschließlich der Geltendmachung für Kosten der Unterkunft für die hier streitige Wohnung wie auch bei den Weiterbewilligungsanträgen nicht prozessunfähig bzw. geschäftsunfähig gewesen sein dürfte und folglich auch nicht zumindest grob fahrlässig gehandelt haben könnte.
Da im Verfahren hier maßgebliche gesetzliche Regelung § 45 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 2 und 3 SGB X ist und die Beklagte die objektive Beweislast für die die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen rechtfertigenden Voraussetzungen, einschließlich eines zumindest grob fahrlässigen Verhaltens (§ 45 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 SGB X) trage, dürften der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 20.Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 wohl keinen Bestand behalten.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat daran festgehalten, dass ihrer Überzeugung nach der Kläger auch bestätigt durch die Strafgerichte unrichtige bzw. unvollständige Angaben vorsätzlich oder jedenfalls grob fahrlässig gemacht habe. Nach Auffassung der Beklagten könne vorliegend nicht auf der Basis des nun vorgelegten (und mit den im Schreiben vom 22. März 2022 angesprochenen Schwächen behafteten) Sachverständigengutachten der Rückschluss gezogen werden, der Kläger habe nicht grob fahrlässig im Sinne von §§ 40 SGB X gehandelt. Vielmehr dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger eben wegen den der Frage des Vertrauensschutzes zugrundeliegenden Handlungen strafrechtlich verurteilt worden sei. Damals sei er von drei Rechtsanwälten vertreten gewesen und als schuldfähig, nämlich vermindert schuldfähig, eingestuft worden. Der Einschätzung des Senates zur womöglich fehlenden Realisierbarkeit der von der Beklagten angestrengten Rückforderung werde beigepflichtet. Für die Beklagte ändere diese Tatsache an der Rechtmäßigkeit des vorliegenden streitgegenständlichen Bescheides allerdings nichts.

Mit Beschluss vom 24. Oktober 2022 wurde der Bevollmächtigte des Klägers als besonderer Vertreter des Klägers gemäß § 72 SGG bestellt.

Der Klägerbevollmächtigte hat im Hinblick auf die Ausführungen des Beklagten noch darauf verwiesen, dass sofern ein Urteil ergangen sei, ohne dass die Prozessunfähigkeit einer Partei bemerkt worden sei, nach herrschender Meinung die Rücknahme eines Rechtsmittels durch die prozessunfähige Partei gleichwohl die Rechtskraft des Urteiles bewirken könne (mit Hinweis auf BGH NJW 20 14,937 Rn. 13, 25). Ebenfalls solle die Zustellung an den unerkannt Prozessunfähigen die Rechtsmittelfrist in Lauf setzen (mit Hinweis auf BGH NJW 2008, 2125). Wenn also auch aktive Prozesshandlungen einer unerkannt prozessunfähigen Partei eine prozessuale Rechtswirkung entfalten könnten, so könne bei der Erhebung einer Wiederaufnahmeklage nichts anderes gelten. Anderenfalls liefe der in § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO vorgesehene Wiederaufnahmegrund ins Leere, da es dann jeder prozessunfähigen Partei verwehrt wäre, aufgrund ihrer Prozessunfähigkeit die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des erkennenden Senates vom 22. Februar 2017 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 12. Mai 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

I.


Die Klage auf Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens ist zulässig und auch begründet.

1.
Die Wiederaufnahmeklage ist zulässig.

Gemäß § 578 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) kann die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahrens durch Nichtigkeitsklage und durch Restitutionsklage erfolgen.

Gemäß § 579 Abs. 1 ZPO findet die Nichtigkeitsklage statt:
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
wenn ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs oder eines Rechtsmittels ohne Erfolg geltend gemacht ist;
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat.

Gemäß § 580 ZPO findet die Restitutionsklage statt:
wenn der Gegner durch Beeidigung einer Aussage, auf die das Urteil gegründet ist, sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat;
wenn eine Urkunde, auf die das Urteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht war;
wenn bei einem Zeugnis Gutachten, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge oder Sachverständige sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat;
wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist;
wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat;
wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist;
wenn die Partei
ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil oder
eine andere Urkunde auf findet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde.

Die Klagen sind gemäß § 586 Abs. 1 ZPO vor Ablauf der Notfrist eines Monats zu erheben.
Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem die Partei von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hat, jedoch nicht vor eingetretener Rechtskraft des Urteils (§ 586 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tag der Rechtskraft des Urteils angerechnet, sind die Klagen unstatthaft (§ 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
Die Vorschriften des vorstehenden Absatzes sind auf die Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung nicht anzuwenden; die Frist für die Erhebung der Klage läuft von dem Tag, an dem der Partei und bei mangelnder Prozessfähigkeit ihrem gesetzlichen Vertreter das Urteil zugestellt ist (§ 586 Abs. 3 ZPO).

Mit Urteil vom 5. Januar 2014 (VIII ZR 100/13 in NJW 2014, 937, in juris Rn. 12 mit Hinweis auf BGH Urteil vom 5. Mai 1982 – IVb ZR 707/80BGHZ 84, 24; juris Rn.14) hat der BGH auch darauf hingewiesen, dass in den Fällen, in denen ein Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO (nicht vorschriftsgemäß vertretene prozessunfähige Partei) geltend gemacht wird, die Subsidiaritätsregel in § 579 Abs. 2 ZPO, wonach in den Fällen der Nrn. 1 und 3 die Nichtigkeitsklage nicht stattfindet, wenn die Nichtigkeit mittels eines Rechtsmittels hätte geltend gemacht werden können, nicht gilt. In diesen Fällen kann nämlich die betroffene Partei vielmehr auch auf das (ordentliche) Rechtsmittel verzichten bzw. dieses zurücknehmen und stattdessen (nach Rechtskraft der Ausgangsentscheidung) den außerordentlichen Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage in Anspruch nehmen.

Der Kläger macht konkret eine Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO geltend, da er während des Berufungsverfahrens L 2 SO 2414/16 aufgrund von Prozessunfähigkeit nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen sei.
Obwohl das Urteils des Senates im ursprünglichen Berufungsverfahren aufgrund mündlicher Verhandlung vom 22. Februar 2017 - mit PZU dem (damals noch unerkannt) prozessunfähigen Kläger am 3. März 2017 zugestellt - ist dies dennoch in Rechtskraft erwachsen. Zwar ist gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 ZPO das Urteil bei prozessunfähigen Personen wie dem Kläger an den gesetzlichen Vertreter zuzustellen. Folglich war die Zustellung an den (damals allerdings unerkannt) prozess- bzw. geschäftsunfähigen Kläger gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO grundsätzlich unwirksam. Dies führt allerdings nicht dazu, dass das Senatsurteil vom 22. Februar 2017 bis heute nicht rechtskräftig und damit die Nichtigkeitsklage im Hinblick auf die fehlende Zulässigkeits-(Prozess- )Voraussetzung eines rechtskräftigen Endurteils unzulässig wäre.
Denn nach Urteilen des BGH (Urteil vom 19. März 2008 – VIII ZR 68/07 – juris Rn. 11 ff. und Urteil vom 15. Januar 2014 – VIII ZR 100/13 – juris Rn. 21 ff.) soll nach der Konzeption und Funktion der Nichtigkeitsklage der Lauf der Einspruchs- und Rechtsmittelfrist auch durch eine nach § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO unwirksame Zustellung an die prozessunfähige Partei in Gang gesetzt werden. Anders als bei der ordnungsgemäß vertretenen Partei, der in einem solchen Fall bei einer unwirksamen Zustellung die einzig ihr zur Verfügung stehende Möglichkeit eines Rechtsmittels oder eines Einspruchs vorschnell abgeschnitten würde, weshalb in diesem Fall eine unwirksame Zustellung keinen Fristenlauf auslöse, würden dagegen bei einer prozessunfähigen Partei, die Adressat einer unwirksamen Zustellung sei, andere Schutzmechanismen eingreifen. Hier eröffnet das Gesetz der prozessunfähigen Partei die Wahl, gegen die Ausgangsentscheidung entweder mittels eines Rechtsmittels oder eines Rechtsbehelfs vorzugehen oder aber die Entscheidung in Rechtskraft erwachsen zu lassen und anschließend – unter den Erleichterungen des § 586 Abs. 3 ZPO – eine auf § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO gestützte Nichtigkeitsklage zu erheben (vergleiche § 579 Abs. 2 ZPO; BGH Urteil vom 15. Januar 2014 aaO Rn. 22). Um der prozessunfähigen Partei diese Wahlmöglichkeit zu erhalten müsse der Lauf der Einspruchs- und Rechtsmittelfrist auch bei einer nach § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO unwirksamen Zustellung an die Partei in Gang gesetzt werden (BGH aaO Rn. 22). Andernfalls würden z.B. Urteile oder Beschlüsse, die nicht verkündet würden, überhaupt nicht in Rechtskraft erwachsen (siehe § 339 Abs. 1, 700 Abs. 1, 310 Abs. 3 ZPO oder auch § 153 Abs. 4 SGG, Urteile ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG) bzw. erst mit erheblicher Verzögerung.
Darüber hinaus trägt der Lauf von Rechtsmittel- und Einspruchsfristen bei einer gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO unwirksamen Zustellung dem Bedürfnis Rechnung, im Interesse von Rechtsfrieden und Rechtssicherheitsprozesse möglichst bald durch den Eintritt der formellen Rechtskraft der ergangenen Entscheidung zu beenden. Damit wäre es nach Auffassung des BGH nicht zu vereinbaren, wenn der formelle Akt der Zustellung in seiner Wirkung, die Rechtsbehelfsfrist in Lauf zu setzen, durch Mängel, die bei der Zustellung nicht erkennbar sind und erst in einem längeren Verfahren geprüft werden müssten, infrage gestellt würde (BGH aaO Rn. 23 mit Hinweis auf BGH Urteil vom 19. März 2008 – VIII ZR 68/07 – juris Rn. 12). Die Belange eines Zustellungsempfängers, dessen Geschäftsunfähigkeit trotz § 56 Abs. 1 ZPO (bzw. § 71 SGG) unerkannt geblieben ist, werden durch die Ausgestaltung der Regelungen zur Nichtigkeitsklage (§ 579 Abs. 1 Nr. 4, § 584 Abs. 2, § 586 Abs. 3 ZPO) ausreichend geschützt (BGH aaO Rn. 23 mit Hinweis auf BGH Urteil vom 19. März 2008 aaO Rn. 13).

Die vom Klägerbevollmächtigten am 22. November 2019 im Erörterungstermin ausdrücklich erhobene Wiederaufnahmeklage unter Berufung auf § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ist auf jeden Fall innerhalb der Frist nach Kenntniserlangung von den Umständen, die die geltend gemachte Prozessunfähigkeit und damit den Wiederaufnahmegrund (entsprechende ärztliche Atteste) begründen, erfolgt.
Der Kläger ist ausweislich des Gutachtens von S1 schon seit langem prozessunfähig. Ob der Kläger im Hinblick darauf seinen Bevollmächtigten nicht wirksam mit seiner Vertretung hatte beauftragen und hierzu bevollmächtigten können, kann letztlich offenbleiben.
Nachdem der Klägerbevollmächtigte zwischenzeitlich aufgrund des Beschlusses des Vorsitzenden vom 24. Oktober 2022 zum besonderen Vertreter des Klägers bestellt worden ist und die Wiederaufnahmeklage fortführt, hat er damit diese (fristgerecht und unter Beachtung der maßgeblichen Formvorschriften im §§ 587, 588 ZPO erhobene) Klage genehmigt.

Der prozessunfähige Kläger ist auch durch den besonderen Vertreter im Verfahren hier nunmehr wirksam vertreten. Der Kläger hat auch unter Zugrundelegung der medizinischen Unterlagen den Wiederaufnahmegrund letztlich schlüssig dargelegt.

2.
Die Wiederaufnahmeklage ist auch begründet.

Auf der Grundlage des schlüssigen und überzeugenden Gutachtens von S1 ist festzustellen, dass der Kläger aufgrund der bei ihm bestehenden Erkrankung, nämlich einer paranoiden Schizophrenie, zur Überzeugung des Senates jedenfalls zum Zeitpunkt der Erhebung der Berufung am 24. Juni 2016 und in der Folge während des gesamten damaligen Berufungsverfahrens prozessunfähig und damit nicht wirksam vertreten war im Sinne von § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO.

II.

Damit ist nunmehr durch den Senat in der Sache nochmals über die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 12. Mai 2016 zu entscheiden.

Gegenstand des Verfahrens ist nur noch der Bescheid vom 20. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 betreffend den Zeitraum 1. Juli 2005 bis 30. Dezember 2011. Hinsichtlich des Bescheides vom 30. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2015 (betreffend den Zeitraum 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 wurde der Klage stattgegeben und die Bescheide durch das SG aufgehoben. Nachdem die Beklagte hiergegen nicht in Berufung gegangen ist, ist der Gerichtsbescheid des SG insoweit rechtskräftig.

Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme der ursprünglichen Bewilligung der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII kommt hier allein § 45 SGB X in Betracht. Denn die ursprünglichen Bewilligungsbescheide für den streitgegenständlichen Zeitraum waren von Anfang an (teilweise) rechtswidrig und es ist daher keine Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen eingetreten. Der Kläger hat nämlich ab Leistungsbeginn auch Leistungen für Kosten der Unterkunft erhalten, obwohl im Hinblick auf dem ihm eingeräumten Nießbrauch an der von ihm bewohnten und im Eigentum seiner Schwester stehenden Wohnung ihm keine Kosten der Unterkunft (zumindest in Höhe der Grundmiete mit 141,27 €) entstanden. Insoweit hat die Beklagte auch zutreffend in dem hier streitigen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ihre Entscheidung auf § 45 SGB X gestützt.

Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Satz 2).
Der Begünstigte kann sich gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht auf Vertrauen berufen, soweit
(1.) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
(2.) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat,
(3.) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Die Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis zum 31. Dezember 2011 (Bescheide vom 22. Juli 2005, 24. August 2005, 15. Dezember 2005, 16. Januar 2006, 12. Juli 2006, 7. Februar 2007, 21. Juni 2007, 27. August 2007, 24. Oktober 2007, 8. Januar 2008, 24. Juni 2008, 3. November 2008, 18. Dezember 2008, 29. Juli 2009, 10. Dezember 2009, 25. März 2010 und 8. April 2011) waren rechtswidrig.

Denn dem Kläger waren jedenfalls in Höhe der bei der Bedarfsberechnung berücksichtigten Grundmiete mit 147,27 € tatsächlich keine Kosten der Unterkunft entstanden. Er war daher nicht in der von der Beklagten angenommenen Höhe hilfebedürftig.

Grundsicherungsleistungen sind gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 41 SGB XII auf Antrag Personen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland zu leisten, die das 65. Lebensjahr bzw. die angehobene Altersgrenze oder das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert i.S. von § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können. Diese Anspruchsvoraussetzungen lagen beim Kläger im streitigen Zeitraum grundsätzlich vor, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist.

Die Beklagte hat ferner die Bedarfe des Klägers gemäß §§ 42 ff. SGB XII im Übrigen rechtmäßig festgestellt. Zu Unrecht war allerdings (jedenfalls) als Kosten der Unterkunft eine Grundmiete i.H.v. 147,27 € ebenfalls berücksichtigt worden.

Die Leistungsbewilligung konnte allerdings für die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 31. Dezember 2011 nicht zurückgenommen werden. Der Kläger als Begünstigter i.S.d. § 45 SGB X konnte sich auf Vertrauensschutz berufen. Denn hier ist festzustellen, der Kläger hat die ihm erbrachten Leistungen tatsächlich verbraucht, ist auch nicht mehr in der Lage, dies rückgängig zu machen (siehe § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X) und darüber hinaus liegt auch kein den Vertrauensschutz ausschließender Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X für eine rückwirkende Aufhebung vor.

Eine Aufhebung nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X scheidet aus, da der Kläger den Bescheid nicht durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat.

Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor. Der Kläger hatte zwar dem Beklagten gegenüber im Rahmen der Kosten der Unterkunft unter anderem eine Grundmiete für die von ihm bewohnte Wohnung geltend gemacht und in dem Zusammenhang auch einen Mietvertrag vorgelegt, hat damit aber nicht zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständige Angaben gemacht.

Auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, wonach kein Vertrauensschutz besteht, wenn der Leistungsempfänger die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, liegen nicht vor.

Der Senat kann sich nämlich auf der Grundlage des hier eingeholten nervenärztlichen Gutachtens von S1 zur Prozessfähigkeit bzw. Geschäftsfähigkeit des Klägers nicht davon überzeugen, dass der Kläger gar (1.) durch arglistige Täuschung die insoweit rechtswidrige Bewilligung herbeigeführt hat oder zumindest (2.) aufgrund grober Fahrlässigkeit in wesentlicher Beziehung unrichtige Angaben gemacht hat oder jedenfalls (3.) die Rechtswidrigkeit der Bewilligung im Hinblick auf die Gewährung der Grundmiete bei gehöriger Sorgfalt ohne weiteres hätte erkennen können.

Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der gesetzlichen Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in ganz besonders schweren Maße verletzt hat. Dies verlangt, dass schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und daher nicht beachtet wird, was ggf. jedem einleuchten muss. Entscheidend ist das individuelle Vermögen, die Fehlerhaftigkeit der gemachten Angaben erkennen zu können. Maßgeblich ist daher, ob der Kläger bei einer Parallelwertung in der Lage gewesen war, zu erkennen, dass kein Anspruch auf die gegenüber der Beklagten geltend gemachte Grundmiete im Rahmen der Kosten der Unterkunft bestand (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 76/08 R, juris Rn. 20).
Dies kann hier nicht zur Überzeugung des Senates festgestellt werden. Denn aufgrund des schlüssigen, nachvollziehbaren und überzeugenden nervenärztlichen Gutachtens von S1 ist vielmehr davon auszugehen, dass beim Kläger schon seit Mitte der 1980ziger Jahre eine paranoide Schizophrenie vorliegt. Die Urteilsfähigkeit, Willensbestimmung und einsichtsgeleitete Handlungsfähigkeit des Klägers wird durch die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen von Wahrnehmung, Selbsterleben, formalem Denken und kognitiven Funktionen wirksam beeinträchtigt. Die Fehlwahrnehmungen (hier der zönästhetische Schmerz im „linken Gehirn“) binden nach S1 die Aufmerksamkeit so stark, dass bei hoher Ausprägung eine reguläre Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung substantiell erschwert wird. Die von S1 im Rahmen der diagnostischen Beurteilung beschriebenen dargestellten formalen Denkstörungen mit assoziativer Lockerung, Inkohärenz, Gedankendrängen, Neologismen und Paralogik beeinträchtigen die Gedankenführung und die Artikulation von Gedankengängen. Die beim Kläger vorliegenden Ich-Störungen (Depersonalisation, Derealisation) sind nach S1 als schwere Verzerrungen der Realitätswahrnehmung anzusehen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung bei S1 im August 2021 und Januar 2022 waren zur Überzeugung des Gutachters die Urteilsfähigkeit, die Willensbildung und die Handlungsfähigkeit durch die genannten psychopathologischen Krankheitsfolgen klar beeinträchtigt. Nach S1 gilt entsprechendes umso mehr für das Jahr 2016, wo die aktuell feststellbaren Symptombildungen – nach plausiblen Darstellungen des Klägers selbst – substantiell stärker ausgeprägt waren. Insgesamt ist mit S1 retrospektiv davon auszugehen, dass insbesondere in subjektiv als besonders stressreich erlebten Kontexten – etwa bei der Vorbereitung oder bei der Realisierung eines Gerichtstermins – die mentalen Voraussetzungen für eine freie und von der vorliegenden psychotischen Erkrankung und beeinflussten Urteilsfähigkeit, Willensbestimmung und einsichtsgeleiteten Handlungsfähigkeit nicht gegeben waren.

Damit aber bestehen für den Senat im Hinblick darauf, dass diese Erkrankung schon seit Mitte der 1980ziger Jahre besteht und nach den insoweit auch sowohl für S1 im Rahmen der Anamnese als auch für das Gericht im Hinblick auf die Einlassungen des Klägers schon im gesamten Gerichtsverfahren glaubhaften Angaben seit dieser Zeit von der Ausprägung weitgehend unverändert war (wofür auch die – soweit vorhanden – medizinischen Unterlagen sprechen) ganz erhebliche Zweifel dahingehend, ob der Kläger bei der (Erst-)Antragstellung 2005 und den Weiterbewilligungsanträgen in den Folgejahren überhaupt in der Lage war, sein Handeln wirklich verantwortlich zu überblicken.
Diese Zweifel können auch nicht dadurch ausgeräumt werden, dass sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht H1 im Strafverfahren 2013/2014 beim Kläger lediglich von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen waren. Hier ist zu berücksichtigen, dass weder dem Amtsgericht noch dem Landgericht ein nervenärztliches Gutachten zur Frage der Prozessfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit vorlag, diese vielmehr ihre Einschätzung zur Schuldfähigkeit allein auf den persönlichen Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung und darauf, dass der Kläger „medikamentös eingestellt“ sei, gestützt haben. Den beigezogenen Strafakten waren jedoch keinerlei medizinische Unterlagen zu entnehmen, die dies in irgendeiner Form hätten bestätigen können.
In dem Zusammenhang ist auch der Beklagten durchaus insoweit Recht zu geben, als auch dem Senat in den beiden Wiederaufnahmeverfahren im Rahmen der jeweiligen mündlichen Verhandlungen bzw. im Erörterungstermin nicht ohne weiteres die Prozessunfähigkeit des Klägers aufgedrängt hätte.
Mit dem nunmehr hier vorliegenden nervenärztlichen Gutachten von S1 ist jedoch die Bewertung hinsichtlich der Frage der Prozess- bzw. Geschäftsfähigkeit des Klägers und damit die Frage, ob ihm zumindest der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit hinsichtlich fehlerhafter Angaben bzw. der Unkenntnis über die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide gemacht werden kann, – wie oben ausgeführt – neu zu bewerten.

Da hier die Beklagte die (teilweise) Aufhebung der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen und die Rückforderung überzahlter Leistungen nach § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 SGB X geltend macht, trägt sie auch die objektive Beweislast für die dafür notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen. Da jedoch für den Senat – im Gegensatz zur Beklagten – erhebliche Zweifel bestehen, ob einer der in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Tatbestände, die den grundsätzlich gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X bestehenden Vertrauensschutz ausschließen, erfüllt sind, gehen diese Zweifel zulasten der Beklagten. Damit kann der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2015 mit teilweiser Aufhebung der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum 1. Juli 2005 bis 31. Dezember 2011 und Rückforderung überzahlter Leistungen keinen Bestand behalten.

Im Ergebnis sind daher das ursprüngliche Urteil des Senates in diesem Berufungsverfahren vom 22. Februar 2017, der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 12. Mai 2016 sowie der hier streitige Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2015 aufzuheben.

III

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 163 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.  

 

Rechtskraft
Aus
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