Bei dem Neurostimulations-Ganzkörperanzug (Exopulse Suit / Mollii Suit) handelt es sich um ein Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung und nicht um ein Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich.
Gericht: |
Sozialgericht Heilbronn |
Datum: 20.03.2024 |
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Aktenzeichen:
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Entscheidungsart:
Urteil |
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Normenkette: §§ 27, 33, 135, 2 Abs 1a SGB 5 |
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Titelzeile: |
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Krankenversicherung – Versorgung mit einem Neurostimulations-Ganzkörperanzug (Exopulse Suit / Mollii Suit) zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung – neue Behandlungsmethode
Leitsatz: |
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Bei dem Neurostimulations-Ganzkörperanzug (Exopulse Suit / Mollii Suit) handelt es sich um ein Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung und nicht um ein Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich.
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Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme der Kosten für einen Neurostimulations-Ganzkörperanzug (Mollii Suit) durch die Beklagte streitig.
Der am geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Beim Kläger wurde erstmals im Jahr 2015 eine Multiple Sklerose mit primär-chronischem Verlauf (G 35.2) diagnostiziert. Er ist in seiner Gehfähigkeit erheblich eingeschränkt und auf Gehhilfen bzw. den Rollstuhl angewiesen. Darüber hinaus besteht eine Beeinträchtigung der Feinmotorik im Bereich der rechten Hand. Die bisherige Behandlung erfolgte medikamentös sowie mittels Physiotherapie.
Beim Kläger wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), B (Begleitung) und RF festgestellt. Der Kläger erhält Leistungen nach dem Pflegegrad 2.
Unter Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Verordnung sowie eines Kostenvoranschlages beantragte der Kläger im September 2022 bei der Beklagten die Gewährung eines elektrischen Neurostimulations-Ganzkörperanzuges (Exopulse Suit / Mollii Suit). Der Anzug diene der Aktivierung der geschwächten Muskulatur mit erheblicher Steigerung der alltagsrelevanten Tätigkeiten.
Mit Bescheid vom 12.09.2022 teilte die Beklagte mit, sie könne sich an den Kosten für den Mollii Suit nicht beteiligen, da es sich um eine neue Methode handele, die bisher vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) noch nicht bewertet worden sei.
Zur Begründung des hiergegen erhobenen Widerspruchs hat der Kläger mitgeteilt, er habe im August 2022 bei der , den Mollii Suit eine Stunde lang getestet. Die Wirkung sei für ihn, der durch seine Erkrankung mit mittlerweile erheblichen Einschränkungen zu leben habe, phänomenal. Nach der Testanwendung habe er folgende Auswirkungen beobachten können:
- Er habe schneller / leichter aus einem Stuhl aufstehen können,
- Reduzierung der benötigten Zeit für eine kurze Gehstrecke um fast 50%,
- Deutlich erhöhte Ausdauer beim Gehen mit Stock (längere Wegstrecke bis zur Erschöpfung möglich),
- Gleichgewichtssinn erheblich erhöht – er habe sich beim Stehen und Gehen nicht mehr festhalten müssen,
- Er habe eine für ihn höhere Kontrolle bei der Benutzung seines rechten Armes / der rechten Hand gehabt (bessere Koordination der Bewegung),
- Er habe subjektiv flüssiger, schneller und leserlicher schreiben können,
- Er habe in der Nacht nach der Anwendung besser und erholsamer schlafen und sich im Bett leichter bewegen / umlegen können,
- Er habe erheblich weniger Schmerzen gehabt (normalerweise habe er starke Kopfschmerzen und Verspannungen im Nacken- / Schulterbereich, die teilweise ohne die Einnahme von starken Schmerzmitteln nicht erträglich seien).
Der Widerspruch blieb ohne Erfolg und wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2022 zurückgewiesen. Bei der beantragten Behandlung mit einem Mollii Suit handele es sich um eine unkonventionelle Methode, für die der G-BA noch keine positive Empfehlung ausgesprochen habe. Ferner handele es sich bei dem vorliegenden Krankheitsbild um keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung gemäß § 2 Abs.1a SGB V.
Hiergegen hat der Kläger am 15.11.2022 Klage zum Sozialgericht Heilbronn erhoben. Diese hat er damit begründet, das begehrte Hilfsmittel stelle keine Behandlung der MS dar. Das Immunsystem werde dadurch nicht beeinflusst. Es solle die Behinderung ausgleichen und die Folgen der Krankheit bessern. Durch das Anlegen von elektrischer Spannung und kleinen Strömen durch die anliegenden Elektroden erfolge die Stimulation von Muskeln und Muskelgruppen und die Verbesserung der Ansteuerung durch das Nervensystem. Diese Art der Behandlung werde bereits seit vielen Jahren in der Behandlung zum Beispiel von Muskelverletzungen erfolgreich in der Physiotherapie verwendet. Bei einer Fußheberschwäche komme es z.B. zur Erhaltung der Gehfähigkeit zum Einsatz elektrischer Orthesen. Das Hilfsmittel sei im Einzelfall des Klägers „erforderlich“ im Sinne des § 33 SGB V.
Der Kläger beantragt:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12.09.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.10.2022 verurteilt, die Kosten für einen Mollii Suit nach den gesetzlichen Bestimmungen zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch schriftliche Vernehmung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht eine Auskunft bei eingeholt.
Am 17.10.2023 wurde mit den Beteiligten ein Termin zur Erörterung des Sachverhalts durchgeführt. In diesem Rahmen hat das Gericht die Mitarbeiterin des Sanitätshauses, das mit dem Kläger die Testung des Mollii Suit durchgeführt hat, als Zeugin gehört. Hierbei wurde auch Einsicht genommen in die bei der Testung angefertigte Videodokumentation.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Niederschrift des am 17.10.2023 durchgeführten Termins zur Erörterung des Sachverhalts, die Gerichts- sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Da das Einverständnis der Beteiligten vorlag, konnte das Gericht gemäß § 124 Abs.2 SGG den Rechtstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die beim sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Heilbronn form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 12.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.10.2022 ist nicht rechtswidrig, der Kläger hierdurch nicht in seinen Rechten verletzt.
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Übernahme der Kosten für einen Mollii Suit.
Anspruchsgrundlage für die vorliegend geltend gemachte Versorgung des Klägers mit dem Mollii Suit sind die Regelungen des § 27 Abs.1, Satz 1 und Satz 2 Nr.3 sowie des § 33 Abs.1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs.1 Satz 1 SGB V). Die Krankenbehandlung umfasst gemäß Satz 2 Nr. 3 insbesondere die Versorgung mit Hilfsmitteln. Nach § 33 Abs.1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs.4 ausgeschlossen sind.
Der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Kläger hat aufgrund der bei ihm diagnostizierten Erkrankung an einer Multiplen Sklerose mit primär-chronischem Verlauf (G 35.2) gegen die Beklagte einen Anspruch auf Krankenbehandlung sowie auf die Versorgung mit den erforderlichen Hilfsmitteln. Bei dem vorliegend streitgegenständlichen Mollii Suit handelt es sich zudem um ein Hilfsmittel im Sinne von § 33 SGB V. Es besteht kein Ausschluss als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs.4 SGB V. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Entgegen der Ansicht der Klägerseite dient das begehrte Hilfsmittel jedoch nicht dem Behinderungsausgleich (§ 33 Abs.1 Satz 1, 3.Alt. SGB V), sondern der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (§ 33 Abs.1 Satz 1, 1.Alt. SGB V).
Ein Hilfsmittel dient der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung im Sinne dieser Vorschrift, wenn es der Bekämpfung der Krankheit dient und spezifisch im Rahmen der Krankenbehandlung eingesetzt wird. Hierbei muss es nicht um die Sicherung eines schon eingetretenen Heilerfolgs gehen. Vielmehr genügt es, wenn der therapeutische Erfolg erst angestrebt wird (Lungstras in Becker/Kingreen, SGB V, 8.A., § 33 Rz. 15 m.w.N.). Auch Hilfsmittel zur Ermöglichung oder Förderung der körperlichen Mobilisation können der Krankenbehandlung dienen. Hiervon ist bei Hilfsmitteln auszugehen, die in engem Zusammenhang mit einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden, Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen. Steht der Einsatz des Hilfsmittels in einem untrennbaren Zusammenhang mit einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode, gilt zudem die Sperrwirkung des § 135 SGB V (Lungstras a.a.O.).
Das vorliegend streitgegenständliche Hilfsmittel steht in einem solchen untrennbaren Zusammenhang mit einer ärztlichen Behandlung. Dies ergibt sich insbesondere aus den Angaben der als sachverständige Zeugen gehörten behandelnden Ärzte des Klägers. Diesen lässt sich entnehmen, dass der Einsatz des Mollii Suit ergänzend zu weiteren Behandlungsmethoden (Krankengymnastik, stationäre neurologische Rehabilitationsbehandlungen) erfolgt, um die Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Die im Rahmen des am 17.10.2023 mit den Beteiligten durchgeführten Termins zur Erörterung des Sachverhalts als Zeugin vernommene Mitarbeiterin von hat ausgeführt, der Mollii Suit werde eine Stunde lang getragen. Danach halte die Wirkung bis zu 24 Stunden an, in einzelnen Fällen auch bis zu 72 Stunden.
Der vorliegend begehrte Neurostimulations-Ganzkörperanzug wird somit in regelmäßigen Abständen (täglich oder 2-, 3-tägig) eingesetzt, um durch dessen Wirkung eine Verbesserung im Bereich der Motorik zu erzielen. Der Anzug wird nicht zur Ausübung einer gezielten Bewegung getragen (wie etwa eine Orthese), sondern immer wieder, um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Der Anzug ersetzt somit nicht ausgefallene Körperfunktionen in konkreten Alltagssituationen, sondern wirkt über eine sukzessive Besserung der Muskulatur (vgl. SG Köln, GB vom 20.01.2022, Az. S 31 KR 1648/21).
Damit steht zur Überzeugung des Gerichts beim Einsatz des Mollii Suit der therapeutische Nutzen im Vordergrund, so dass es sich um ein Hilfsmittel handelt, das im Rahmen einer neuen Behandlungsmethode eingesetzt werden soll (vgl. SG Augsburg, Urteil vom 18.09.2023, Az. S 10 KR 160/23). Als solches unterliegt das Hilfsmittel den Einschränkungen des § 135 SGB V.
Voraussetzung für einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf die Versorgung mit diesem Hilfsmittel ist danach eine Anerkennung dieser neuen Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Eine solche liegt bislang jedoch nicht vor.
Ein Ausnahmefall, in dem eine neue Behandlungsmethode ohne positive Empfehlung des G-BA zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) erbracht werden kann, liegt ebenfalls nicht vor.
So kann bei einem sog. Systemversagen eine Leistungspflicht der gKV bestehen, wenn die fehlende Anerkennung durch den G-BA darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem G-BA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde. Hierfür sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich.
Auch für das Vorliegen eines Seltenheitsfalles, in dem eine Prüfung im Rahmen wissenschaftlicher Studien aufgrund der geringen Fallzahlen nicht möglich wäre, fehlen, bezogen auf die beim Kläger diagnostizierte Erkrankung, Anhaltspunkte.
Ergänzend ist zudem darauf hinzuweisen, dass der vorliegend geltend gemachte Anspruch auch nicht auf § 2 Abs.1a SGB V gestützt werden kann. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs.1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Nach den konkreten Umständen des Falles muss bereits drohen, dass sich ein voraussichtlich tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb eines überschaubaren Zeitraums mit Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (SG Köln a.a.O).
Grundsätzlich wird in der Rechtsprechung die Erkrankung an Multipler Sklerose nicht als unmittelbar lebensbedrohlich oder wertungsmäßig vergleichbar eingeschätzt. Ob ggf. etwas Anderes gelten muss, wenn der Verlust einer wesentlichen Körperfunktion, wie beispielsweise der Gehfähigkeit, unmittelbar droht, kann hier dahinstehen. Denn entscheidend für die Anwendung des § 2 Abs.1a SGB V ist eine notstandsähnliche Situation in dem Sinne, dass sofortiger Handlungsbedarf besteht, um eine ansonsten zu erwartende, nicht wiedergutzumachende Verschlechterung zu verhindern. Dies gilt aber nicht, wenn, wie hier, der Verlust der Gehfähigkeit bereits eingetreten ist und durch die streitgegenständliche Behandlung wieder verbessert werden soll (vgl. SG Augsburg a.a.O, / LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 10.08.2021, Az. L 11 KR 4247/19).
Nach alledem erweist sich die vorliegend angefochtene Ablehnungsentscheidung der Beklagten als rechtmäßig.
Die Klage war damit abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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