S 10 KR 2186/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Heilbronn (BWB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 KR 2186/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Versicherter, der an einer Bilateralen Zerebralparese leidet, kann für die Teilnahme am Schulunterricht die Versorgung mit einer Spracherkennungssoftware beanspruchen.

 

Gericht:

Sozialgericht Heilbronn

 

Datum:

14.05.2024

 

Aktenzeichen:

S 10 KR 2186/23

 

Entscheidungsart:

Urteil

 

 

 

 

 

 

Normenkette:

§ 33 Abs 1 Satz 1 SGB 5

 

Titelzeile:

Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - Anspruch auf Versorgung mit einer Spracherkennungssoftware zur Teilnahme am Schulunterricht

 

Leitsatz:

Ein Versicherter, der an einer Bilateralen Zerebralparese leidet, kann für die Teilnahme am Schulunterricht die Versorgung mit einer Spracherkennungssoftware beanspruchen.

 

 

 

 

 

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2023 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 28.09.2023 verurteilt, die Kosten für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual und ein Headset zu übernehmen.

 

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand:

 

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual nebst einem Headset.

 

Der 2008 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet seit Geburt an Bilateraler Zerebralparese (GMFCS IV). Er besucht die S.-Schule in N., ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.

 

Am 18.04.2023 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage des Angebots der Firma R. vom 21.03.2023 und des Kostenvoranschlags vom 18.04.2023 (2.365,72 Euro) sowie der Verordnung der Ärztin des Sozialpädiatrischen Zentrums M. B. vom 04.04.2023 (Diagnose: Bilaterale Zerebralparese, GMFCS IV) und einer Stellungnahme seiner Schule vom 22.03.2022 die Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual nebst einem Headset.

 

Daraufhin beauftrage die Beklagte den Medizinischen Dienst (MD) mit einer Begutachtung. Dr. B. führte in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 24.04.2023 aus, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung nicht erfüllt seien. Es sei nachvollziehbar, dass der Kläger (Diagnose: Spastische tetraplegische Zerebralparese) die Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware beantragt habe, um Texte einfacher und schneller schreiben zu können. Allerdings handle es sich bei der Spracherkennungssoftware nebst Zubehör um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 16.09.1999 (Az. B 3 KR 1/99 R, in juris) hierzu ausgeführt:

  • Was regelmäßig auch von Gesunden benutzt werde, falle auch bei hohen Kosten nicht in die Leistungspflicht der Krankenversicherung.
  • Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt sowie hergestellt worden seien und die ausschließlich oder ganz überwiegend auch von diesem Personenkreis benutzt würden, seien nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen.
  • Es handle sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, wenn er schon von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte gedacht sei.

Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens begründeten an sich keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

 

Gestützt auf das Ergebnis der Begutachtung lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 19.05.2023 ab. Die medizinischen Voraussetzungen für die Kostenübernahme seien nicht gegeben, da es sich bei der beantragten Spracherkennungssoftware nebst Headset um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handle.

 

Hiergegen erhob der Kläger am 12.06.2023 unter Vorlage einer Stellungnahme der Assistenzärztin des Kinderzentrums M. B. vom 24.05.2023 Widerspruch. Er leide seit Geburt unter Zerebralparese. Er sitze im Rollstuhl und sein ganzer Körper sei betroffen, die linke Seite stärker als die rechte. Im Alltag und in der Schule sei er eingeschränkt. Er sei körperlich nicht in der Lage über einen längeren Zeitraum zu schreiben. Die Spastik mache ihm hierbei Probleme. Deshalb müsse in der Schule nach einiger Zeit immer jemand seine Mitschriften übernehmen. Daheim fertigten diese seine Eltern an. Er besuche aktuell die 9. Klasse und werde nach der 10. Klasse die Realschule erfolgreich abschließen. Er wolle so selbstständig wie möglich für das Berufsleben und die weiterführende Schule sein. Durch die Spracherkennungssoftware werde er unabhängiger und selbstständiger. Ausweislich der Ausführungen seiner Ärztin sei die Spracherkennungssoftware auch medizinisch notwendig und somit kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.2023 als unbegründet zurück. Der MD käme bei seiner Begutachtung zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Spracherkennungssoftware nebst Headset um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handle, da sie nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte konzipiert seien und auch von Gesunden genutzt würden. Ein Gegenstand, mag er auch einem kranken bzw. behinderten Menschen in hohem Maße helfen, sei nicht als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen und zu finanzieren, wenn er bereits von seiner Konzeption her nicht vorwiegend für kranke, behinderte und/oder pflegebedürftige Menschen gedacht sei, so das BSG in seinem Urteil vom 06.08.1998 (Az. B 3 KR 14/97 R, in juris). Dies gelte selbst dann, wenn er im Einzelfall für einen Menschen mit Behinderung nützlicher sei als für einen gesunden Menschen (so das BSG in seinem Urteil vom 24.09.2002 – B 3 P15101 R –, juris) oder er millionenfach verbreitet ist (z. B. wie Hörgeräte; vgl. BSG, Urteil vom 16.9.1999 – B 3 KR 1/99 –, juris). Die Gebrauchsgegenstände seien grundsätzlich für jedermann zugänglich, d. h. im Handel käuflich zu erwerben. Dabei sei nicht entscheidend, wie hoch der Verkaufspreis oder der Anteil von Käufern dieser Artikel im Verhältnis zur Bevölkerung sei. Auch sei unbedeutend, wer der Hersteller sei oder in welchen Fachhandelsbereichen (z. B. Apotheken, Sanitätsgeschäften) Hilfsmittel angeboten würden (vgl. BSG, Urteil vom 10.10.2000 – B 3 KR 29/99 –, juris). Die angefochtene Entscheidung sei daher nicht zu beanstanden.

 

Dagegen hat der Kläger am 23.10.2023 Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn erhoben. Zu deren Begründung hat er unter Vorlage einer Stellungnahme der Physiotherapeutin für Neuropädiatrie V. vom 31.05.2023 vorgetragen, dass sich die Notwendigkeit der Versorgung mit der beantragten Spracherkennungssoftware nebst Headset bereits aus der Stellungnahme seiner Schule ergäbe. Ferner habe das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in seinem Urteil vom 01.04.2020 (Az. L 4 KR 187/18, in juris) ausgeführt, dass zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung auch die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit gehöre. Benötige ein Schüler aufgrund einer Behinderung ein Hilfsmittel, um am Unterricht teilnehmen zu können oder die Hausaufgaben erledigen zu können, habe die Krankenkasse dieses Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Bei Kindern sei ein großzügigerer Maßstab anzulegen, um deren weiterer Entwicklung Rechnung zu tragen, sodass die Software hier als Hilfsmittel für Behinderte bewertet werden könne, dass der Integration diene. Er nutze derzeit gefälligkeitshalber einen unentgeltlichen Probezugang für die Spracherkennungssoftware bis zur Beendigung des Klageverfahrens.

 

Der Kläger beantragt (Klagebegründung vom 22.11.2023),

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2023 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 28.09.2023 zu verurteilen, die Kosten für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual und ein Headset zu übernehmen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte trägt vor, dass die angefochtene Entscheidung rechtmäßig sei. Auch das angeführte Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen führe zu keinem anderen rechtlichen Ergebnis. Im hiesigen Fall gehe es nämlich nicht um das Herstellen und die Sicherung der Schulfähigkeit. Vielmehr stehe im Vordergrund, dass der Kläger die Möglichkeit erhalte, längere Texte im angemessenen Zeitraum und ohne große Anstrengung eigenständig zu erstellen, sowohl im schulischen Kontext als auch in Bezug auf die Teilhabe und Kommunikation im täglichen Leben. Die Schulfähigkeit sei bereits her- und sichergestellt. Hierauf habe die begehrte Spracherkennungssoftware keine Auswirkungen. Im Vordergrund stehe die Teilhabe am öffentlichen und privaten Leben.

Im Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen ginge es um die Herstellung der Schulfähigkeit an sich, weshalb der Sachverhalt nicht vergleichbar sei. So benötige die Klägerin dort die Software für das Erledigen der Hausaufgaben und Mitschreiben im Unterricht. Entscheidend sei daher die Frage, ob die Software für die Sicherung und Herstellung der Schulfähigkeit erforderlich sei. Dies sei nach dem bisherigen Vortrag zu verneinen, da die Schulfähigkeit auch ohne die Software bereits hergestellt sei.

 

Die Beteiligten haben gegenüber dem Gericht schriftsätzlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und zur Darstellung des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des SG und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Das Gericht kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten das hierzu erforderliche Einverständnis erteilt haben.

 

Die zulässige Klage ist begründet.

 

Der Bescheid der der Beklagten vom 19.05.2023 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 28.09.2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Kostenübernahme für die Spracherkennungssoftware Dragon Professional Individual und ein Headset.

 

Der Anspruch des Klägers richtet sich vorliegend nach den Regelungen der Hilfsmittelversorgung. Der Leistungsanspruch des Klägers folgt aus § 33 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V). Demnach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Für Hilfsmittel im Sinne des für die Krankenkassen gleichermaßen bedeutsamen Rechts der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen konkretisiert § 47 Abs. 1 SGB IX den Anspruch weitgehend inhaltsgleich. Soweit das Hilfsmittel nicht dazu dient, die beeinträchtigte Körperfunktion unmittelbar wiederherzustellen oder auszugleichen, ist es nach ständiger Rechtsprechung des BSG im Rahmen eines nur die Folgen der Behinderung betreffenden, mittelbaren Behinderungsausgleichs von der gesetzlichen Krankenversicherung allerdings nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Dazu gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (st. Rspr., vgl. nur BSG, Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 7/10 R –, juris Rn. 32). Zu den seit langer Zeit anerkannten Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehört die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung (vgl. dazu u.a. BSG, Urteil vom 22.07.2004 – B 3 KR 13/03 R –, juris). Benötigt ein Schüler aufgrund einer Krankheit oder Behinderung ein – von der Schule nicht vorzuhaltendes – Hilfsmittel, um am Unterricht in der Schule erfolgreich teilzunehmen bzw. die Hausaufgaben erledigen zu können, hat die Krankenkasse dieses Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, weil es um die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit geht. Schulfähigkeit bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung ist als ein allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers anerkannt. Betroffen sind Kinder und Jugendliche, die als Grund- und Hauptschüler, Realschüler, Gymnasiasten oder Sonderschüler den Unterricht noch im Rahmen ihrer Schulpflicht besuchen (vgl. zum Ganzen LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 01.04.02020 – L 4 KR 187/18 –, juris Rn.22).

 

Insgesamt ist bei Kindern und Heranwachsenden ein großzügigerer Maßstab anzulegen, um ihrer weiteren Entwicklung Rechnung zu tragen (vgl. Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, Stand: 20.07.2023, § 33 SGB V Rn. 36).

 

Das LSG Niedersachsen-Bremen hat in seinem Urteil vom 01.04.02020 – das die Kostenerstattung für die Spracherkennungssoftware „Dragon“ zum Gegenstand hatte – ausgeführt (Az. L 4 KR 187/18, in juris Rn.24 ff.):

Die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung ergibt sich insbesondere aus dem Gesichtspunkt der Integration des behinderten Jugendlichen in das Lebensumfeld nicht behinderter Gleichaltriger (vgl. BSG, SozR 2200 § 182 B Nr. 13). In der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen, zumindest bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres, lassen sich die Lebensbereiche nicht in der Weise trennen wie bei Erwachsenen, nämlich in die Bereiche Beruf, Gesellschaft und Freizeit. In der Rechtsprechung des BSG ist stets nicht nur die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht als Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen anerkannt worden (BSG, SozR 2200 § 182 Nr. 73: Sportbrille; SozR 3-2500 § 33 Nr. 22: Computer), sondern anerkannt worden ist auch ein Grundbedürfnis der Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses (BSG, SozR 3-2500 § 33 Nr. 27). Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird.

 

Die Klägerin leidet unter einer spastischen Zerebralparese, die sowohl die Beweglichkeit der Beine als auch der Hände beeinträchtigt. Aufgrund der dadurch eingeschränkten Gehfähigkeit ist sie auf einen Rollstuhl oder einen Rollator angewiesen. Zum Zwecke der Betreuung während der Unterrichtszeit ist ihr durch den Landkreis Friesland Eingliederungshilfe in Form von Übernahme der Kosten für eine Integrationshelferin gewährt worden (vgl. Bescheid vom 11. Juli 2017). Aufgabe der Integrationshelferin ist es u.a. längere Schreibaufträge (z.B. Aufsätze) für die Klägerin zu übernehmen. Ausweislich des Beratungsgutachtens der K. -Schule, Förderzentrum ist die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage, so schnell zu reagieren und so schnell zu reden wie andere Kinder. Sie habe aufgrund ihrer Erkrankung keine formklare, gut lesbare Handschrift. Die Integration der Klägerin in den Kreis der gleichaltrigen Schüler rechtfertigt vorliegend die Gewährung der begehrten Spracherkennungssoftware.

 

Die Integration in den Kreis gleichaltriger Jugendlicher ist nicht schon dann erreicht, wenn der Jugendliche überhaupt in der Lage ist, den Schulbesuch zu absolvieren. Die Teilnahme an Schulbesuchen reduziert sich nicht nur darauf, an den schulischen Pflichtveranstaltungen teilzunehmen; benötigt ein behinderter Jugendlicher erheblich mehr Zeit, um den Anforderungen des Schulunterrichts gerecht zu werden, so ist nach allgemeiner Lebenserfahrung die Bereitschaft seiner in der Klasse anwesenden Altersgenossen als sehr begrenzt anzusehen, mit einem Maß an Toleranz und Rücksichtnahme zu reagieren. Mit der Spracheingabesoftware kann die Klägerin wenigstens im Bereich des Verfassens von Kurz- oder Langtexten in die Lage versetzt werden, entsprechend ihrer Fähigkeiten dem Unterricht zu folgen und trotz der eingeschränkten Beweglichkeit der Hände den schriftlichen Anforderungen im Schulunterricht gerecht zu werden. Dadurch kann sie im Klassenverbund, der ausweislich des Beratungsgutachtens aus insgesamt 10 Schülern mit und ohne Förderbedarf im Bereich Lernen besteht, eine einigermaßen gleichgestellte Leistungsfähigkeit erreichen.

 

Die Versorgung ist im Einzelfall der Klägerin auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Hilfsmittel als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen ist. Bei der hier begehrten Spracherkennungssoftware handelt es sich ausweislich der Produktinformationen des Herstellers „Nuance“ um eine besonders leistungsstarke Spracherkennung, die den Anwender insbesondere bei der Bewältigung von Büroaufgaben beim Dokumentieren und Schreiben auf dem Computer produktiver machen soll. Sie soll das Erstellen und Bearbeiten von Dokumenten auch außerhalb des Büros ermöglichen. Für die zum Zeitpunkt der Anschaffung 9-jährige und inzwischen 13-jährige Schülerin handelt es sich nach der herstellereigenen Zweckbestimmung und aus der Sicht der Nutzer nicht um ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es darauf an, ob das Mittel spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit und dem Ausgleich einer Behinderung dient. Was daher regelmäßig auch von Gesunden benutzt wird, fällt auch bei hohen Kosten nicht in die Leistungspflicht der Krankenversicherung (vgl. dazu Beck/Pitz, a.a.O., Rdnr. 45ff, m.w.N.). Bei der Ermittlung des Vorliegens der Eigenschaft eines Hilfsmittels der Krankenversicherung ist danach allein auf die Zweckbestimmung des Gegenstandes abzustellen, die einerseits aus der Sicht der Hersteller, andererseits aus der Sicht der tatsächlichen Benutzer zu bestimmen ist. Im Einzelfall der Klägerin soll allerdings das Hilfsmittel dazu dienen, ihre Behinderung, insbesondere die motorischen Einschränkungen der Hände auszugleichen und so eine einigermaßen gleichgestellte Leistungsfähigkeit im schulischen Bereich zu ermöglichen. Es soll der Gewährleistung gleichwertiger Entwicklungsmöglichkeiten dienen. Zu diesem Zwecke wird die Spracherkennungssoftware Dragon Naturally Speaking üblicherweise nicht von Kindern genutzt.

 

Die Voraussetzungen für einen Ausschluss gemäß § 34 Abs. 4 SGB V liegen ebenfalls nicht vor. Zudem kann die Klägerin nicht auf die Sprachsteuerung ihres Computers verwiesen werden, die jedenfalls im Mitte 2016 noch nicht so entwickelt war, dass bereits das Erstellen und Verfassen von Kurz- und Langtexten für ein Kind unproblematisch möglich war; es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung z.B. der Windows Sprachsteuerung heute anders zu bewerten wäre (vgl. etwa Liste der Sprachbefehle Windows- Spracherkennung, Microsoft). Dies muss allerdings vom Senat nicht entschieden werden.

 

Aus den genannten Gründen handelt es sich auch nicht um einen Gegenstand der üblicherweise vom Schulträger zur Verfügung zu stellen ist.

 

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigener Prüfung vollumfänglich an. Der Kläger leidet an einer Bilateralen Zerebralparese. Ausweislich der Stellungnahme der S.-Schule vom 22.03.2023 kann der Kläger zwar wenige Worte per Hand und auf einer Computertastatur schreiben, jedoch nur für einen kurzen Zeitraum bis Schmerzen auftreten. In der Schule wird allerdings das Erstellen längerer Texte gefordert. Die medizinische Notwendigkeit wird nach Auffassung der Kammer durch die Stellungnahmen der Ärztin B. vom 24.05.2023 und der Physiotherapeutin V. vom 31.05.2023 belegt. Die Nutzung der Schreibhilfe mittels Laptop ist ihm nur mit der rechten Hand möglich und auch dies nur für kurze Zeit, bevor ihm Schmerzen das Tippen verunmöglichen. Dass die Spracherkennungssoftware ihm auch in der alltäglichen Kommunikation sicherlich von Nutzen ist, wird von der Kammer nicht in Abrede gestellt, führt jedoch nicht dazu, dass der Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel nebst Zubehör (Headset) ausgeschlossen ist. Der Kläger benötigt die Spracherkennungssoftware um längere schulische Texte – auch in englischer Sprache – abzufassen, somit dient sie der Sicherstellung seiner Schulfähigkeit, und zwar sowohl in der aktuellen Schule als auch zukünftig in einer weiterführenden Schule bzw. in der Berufsschule.

 

Da der Kläger bei Zugrundelegung des für Kinder und Heranwachsenden – also auch für einen 16-Jährigen – geltenden großzügigeren Maßstabs Anspruch auf Kostenübernahme für die Hilfsmittelversorgung mit der Spracherkennungssoftware nebst Headset hat, war die angefochten Entscheidung aufzuheben.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Hauptsache.

Rechtskraft
Aus
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