Die Unterbringung eines Versicherten in einem psychiatrischen Krankenhaus begründet nicht schon deshalb die Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung gemäß § 39 SGB V, weil sie wegen einer emotionalinstabilen Persönlichkeitsstörung in seltener Ausprägung mit Intelligenzminderung mit schwerwiegender Eigen- oder Fremdgefährdung erfolgt und eine geeignete dauerhafte Unterbringungsmöglichkeit bisher nicht gefunden wurde. Die Unterbringung und Versorgung in einer geschützten Abteilung ist für sich keine medizinische Behandlung (vgl BSG, Urteil vom 12. November 1985 - 3 RK 33/84). Auch eine durchgehende Fixierung stellt für sich keine medizinische Behandlungsmaßnahme dar, die der besonderen Mittel des Krankenhauses bedarf. Die Kontrolle der Fixierung in regelmäßigen Abständen erfüllt nicht zugleich die Voraussetzungen einer 1:1 Betreuung nach dem OPS 9-640. Ein individuelles therapieorientiertes Behandlungskonzept muss in der Patientenakte dokumentiert sein.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 16. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert im Berufungsverfahren wird auf 364.223,66 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Vergütung einer vollstationären Behandlung in der Psychiatrie im Zeitraum vom 24. September bis 1. Dezember 2018 und vom 2. Dezember 2018 bis 26. Oktober 2019.
Die Klägerin ist Trägerin eines nach § 108 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zugelassenen psychiatrischen Krankenhauses. Dort ist die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte J. K. (Versicherte), geboren am L., seit Jahren untergebracht. Die intelligenzgeminderte Versicherte leidet an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (F60.30) mit anhaltender psychischer Dekompensation seit September 2018, massiven Selbstverletzungstendenzen und Fremdaggressivität sowie wiederkehrenden Fremdkörperingestitionen mit überwiegend endoskopischen Bergungen. Die Versicherte schluckte am 11. September 2018 einen 14 cm langen Löffel, am 22. September 2018 eine Zahnbürste und am 1. Dezember 2018 erneut einen Löffel.
Nach dem Zerbrechen der elterlichen Ehe bei alkoholkrankem und übergriffigen Vater wurde der allein erziehenden und überforderten Mutter bis zum 3. Lebensjahr der Versicherten eine Familienhelferin zur Seite gestellt. Ab dem 4. Lebensjahr zeigte die Versicherte Verhaltensauffälligkeiten aufgrund von gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Geschwistern. Mit 12 Jahren wurde sie erstmals wegen aggressiver Durchbrüche und Verdacht auf Minderbegabung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie M. stationär behandelt. Im Alter von 17 Jahren wurde eine ausgeprägte emotionale Störung mit aggressiven Impulsdurchbrüchen diagnostiziert. Nach Erreichen des 18. Lebensjahres befand sie sich im Jahr 2003 erstmals mit Unterbringungsbeschluss in stationärer Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie der Klägerin. Es wurde eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, die seither durchgehend besteht. Ab April 2004 wurde die Versicherte drei Jahre lang vollstationär behandelt. Seitdem ist sie durchgehend – unterbrochen durch diverse Aufenthalte in anderen Krankenhäusern der Region – im Klinikum der Klägerin untergebracht. Eine geeignete dauerhafte Unterbringungsmöglichkeit wurde für die Versicherte nicht gefunden.
Nach einer Fallkonferenz im Februar 2007 wurde bei fachärztlich attestierter fehlender Perspektive außerhalb des Krankenhauses die Kostenzusage der Beklagten zum April 2007 beendet und die Versicherte verblieb ab 13. April 2007 mit einem Langzeitbeschluss über Sozialhilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für vollstationäre Unterbringung im Wohnbereich der Klägerin. Im Verlauf war der Sozialhilfeträger nicht damit einverstanden, den Fall nach PEPP Entgeltsätzen abzurechnen. Mit Beschluss vom 12. Januar 2018 verlängerte das Betreuungsgericht auf Antrag der Betreuerin die Unterbringung bis zum 11. Januar 2020 (Amtsgericht Lehrte, - 3 XVII V 73 -).
Am 11. September 2018 schluckte die Versicherte einen 14 cm langen Löffel in suizidaler Absicht, der zu einer notfallmäßigen Aufnahme in der N. (O.) führte. Da eine endoskopische Bergung nicht möglich war, wurden zwei notfallmäßige Laparotomien erforderlich. Postoperativ zeigte sie zeitweilig extreme Unruhe und massive Fremdaggressivität, sodass sie wiederholt fixiert werden musste.
Am 18. September 2018 wurde die Versicherte in die Psychiatrie der Klägerin entlassen und wegen anhaltender Übelkeit und Erbrechen vom 21. bis 24. September 2018 in die O. verlegt. Während des Krankenhausaufenthaltes manipulierte die Versicherte an ihrer Bauchwunde durch Entfernung von Wundklammern und schluckte eine Zahnbürste, die endoskopisch geborgen werden musste. Am 24. September wurde sie in die psychiatrische Klinik zurückverlegt, wobei sie für den Rücktransport fixiert und zusätzlich sediert werden musste. Ab dem 24. September 2018 war die Versicherte mit gelegentlichen stundenweisen Unterbrechungen durchgehend fixiert. Auch in der Fixierung kam es zu Manipulationen der Bauchwunde und fremdaggressiven Verhaltensweisen mit verbalen und körperlichen Übergriffen. In der Pflegeplanung ist in der Rubrik „Pflegeproblem“ angekreuzt, dass sich die Versicherte selbst verletzt und suizidale Gedanken habe. Unter „Maßnahmen/Intervall“ sind angekreuzt: „Krankenbeobachtung und Dokumentation, Wundversorgung, Arztinfo, Gespräche, Medikamente nach Arztanordnung, Entfernen von gefährlichen Gegenständen, Überwachung nach Arztanordnung, Absprachen treffen.“ In der Rubrik „Ziele“ ist keine Zielvorgabe angekreuzt.
Am 1. Dezember 2018 wurde die Versicherte nach erneutem Schlucken eines Löffels für einen Tag in die O. eingeliefert.
Mit Rechnungen vom 18. Dezember 2018, 11. Januar, 15. Januar, 16. Januar und 4. Februar 2019 stellte die Klägerin der Beklagten insgesamt 62.523,77 Euro in Rechnung, die die Beklagte nicht bezahlte.
Unter dem 21. Januar 2019 zeigte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) an, dass er von der Beklagten mit der Rechnungsprüfung für den stationären Aufenthalt vom 24. September bis 1. Dezember 2018 in Bezug auf eine Kodierprüfung sowie primäre und sekundäre Fehlbelegung beauftragt worden sei.
Die Klägerin hat am 26. Februar 2019 Klage beim Sozialgericht (SG) Hannover erhoben, die zunächst auf Zahlung der Vergütung für den Zeitraum vom 24.September bis zum 1. Dezember 2018 in Höhe von 65.523,77 Euro gerichtet gewesen ist.
Sie hat die Auffassung vertreten, dass die Zahlungsverweigerung der Beklagten gegen die Regelungen der Prüfverfahrensvereinbarung (PrüfvV) verstoße. Nach §§ 8 und 10 PrüfvV sei die Beklagte frühestens nach Übermittlung der leistungsrechtlichen Entscheidung nach Vorliegen des MDK-Gutachtens berechtigt, eine Verrechnung vorzunehmen. Ohne leistungsrechtliche Entscheidung auf Grundlage eines entsprechenden MDK-Gutachtens sei die Beklagte unter keinem rechtlichen Aspekt zur Zahlungsverweigerung berechtigt. Zudem habe der MDK in seiner Stellungnahme vom 4. Juni 2019 zum Voraufenthalt der Versicherten in der Zeit vom 9. bis 21. September 2018 die akute Behandlungsnotwendigkeit ausdrücklich bestätigt. Die 1:1 Betreuungen seien jeweils ärztlich angeordnet worden. Die ärztliche Anordnung sei auf Fixierbögen erfolgt. Fixierungen setzten nach dem Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) eine 1:1 Betreuung voraus, die von der Klägerin hausintern als „Stufe 3“ bezeichnet werde. Die Betreuungsstufe sei dadurch gekennzeichnet, dass der Patient in ständigem Sichtkontakt mit der Betreuungsperson plus aktiver und direkter, periodischer Kontaktaufnahme sei. So überzeuge sich die qualifizierte Betreuungsperson vom Zustand des Patienten.
Die Klägerin hat die Stellungnahme ihres ärztlichen Direktors Prof Dr P. vom 5. Dezember 2019 vorgelegt. Danach befinde sich die Versicherte seit weit über 10 Jahren in der geschützt geführten (geschlossenen) Station des Klinikums. Während des zuletzt erfolgten Behandlungszeitraums vom 2. Dezember 2018 bis 26. Oktober 2019 sei die Versicherte an sämtlichen Tagen schutzfixiert gewesen und allenfalls bis zu zwei Stunden unter intensiver und engmaschiger Begleitung durch eine examinierte Pflegekraft, teilweise in Kombination mit einem anderen therapeutischen Teammitglied, defixiert worden. Bislang sei es nur möglich gewesen, kurzfristige Intervalle einer Symptombesserung zu erreichen. Die aktuelle stationäre Behandlung erscheine jedoch unabdingbar, um das Therapieziel einer Suizidvermeidung oder Tötung eines Dritten zu vermeiden. Eine ambulante Weiterversorgung sei selbst unter hochstrukturierten Rahmenbedingungen nicht realistisch.
Das SG hat das ärztliche Gutachten nach Aktenlage der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr Q. vom 21. Dezember 2019 eingeholt, in dem die Sachverständige zu dem Ergebnis kommt, dass keine Zweifel an einem akutpsychiatrischen vollstationären Behandlungsbedarf bei der erheblich eigen- und fremdgefährdenden, tiefgreifend gestörten Versicherten ab dem 24. September 2018 bestanden habe. Eine Fixierung sei lückenlos dokumentiert, sodass eine Intensivbehandlung im Bereich A2 gemäß OPS 9-980.1 und beim Vorliegen von vier Merkmalen auch die Abrechnung des OPS 9-619 nachvollzogen werden könne. Allerdings sei eine 1:1 Betreuung nicht explizit dokumentiert.
In seiner Stellungnahme vom 28. Oktober 2020 hat der MDK für den Zeitraum vom 2. Dezember 2018 bis 26. Oktober 2019 festgestellt, dass aufgrund der dokumentierten schweren Verhaltensauffälligkeiten die Betreuung in einer Wohn- oder Heimeinrichtung für psychisch Kranke nicht durchführbar gewesen sei und hat die Notwendigkeit der stationären psychiatrischen Versorgung bestätigt. Allerdings sei der Dokumentation die Durchführung einer 1:1 Betreuung gemäß den Vorgaben des OPS 9-640 zu keinem Zeitpunkt zu entnehmen, sodass diese Prozeduren nicht bestätigt werden könnten. Eine 1:1 Betreuung sei nicht gleichzusetzen mit Beobachtung. Bei psychischen Störungen bestehe die 1:1 Betreuung in Blick- oder Gesprächskontakt mit dem Patienten, im Eingehen auf seine Äußerungen, indem diese erfüllt oder abgelehnt würden und ihm emotional Aufmerksamkeit geschenkt werde, die der Patient auch bemerke und mit der er umgehen könne. Dies sei der Dokumentation nicht zu entnehmen, sodass die entsprechenden ET und die Prä-PEPP (PEPP= pauschalierendes Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen) entfielen.
Im Laufe des Verfahrens hat die Klägerin ihre Zahlungsklage abschnittsweise für zusätzlich aufgelaufene Behandlungskosten im Zeitraum vom 2. Dezember 2018 bis zum 26. Oktober 2019 um insgesamt 261.517,89 Euro auf 364.223,66 Euro erweitert.
Mit Urteil vom 16. Dezember 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klage sei zulässig, erweise sich jedoch als unbegründet, da die Verhinderung von Selbstverletzungen aus rechtlichen Gründen für sich genommen keine stationäre Krankenhausbehandlung erfordere und keine Therapieleistungen erkennbar seien, die für sich genommen stationäre Krankenhausbehandlung rechtfertige.
Die Klageerweiterungen seien jeweils zulässig, da sich die Beklagte rügelos eingelassen habe, § 99 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es liege keine bloße Erweiterung des Klageantrags in der Hauptsache oder in Bezug auf die Nebenforderungen gemäß § 99 Abs 3 SGG vor, weil mit Erweiterung des streitigen Behandlungszeitraums der Streitgegenstand erweitert worden sei. Eine Beiladung des Sozialhilfeträgers sei nicht erforderlich, da dieser nicht verurteilt werden könnte. Denn im sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis setze der Anspruch des Leistungserbringers gegen den Sozialhilfeträger einen Schuldbeitritt durch Kostenübernahmeerklärung im Verhältnis des Hilfeempfängers zum Sozialhilfeträger voraus (unter Hinweis auf Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 28. Oktober 2008,- B 8 SO 22/07 R -).
Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch sei § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V iVm § 17d Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) und der PEPP- Entgeltkatalog für die Jahre 2018 und 2019. Eine Unterbringung zum Zweck der Abwehr von Selbstgefährdung begründe für sich genommen noch keine stationäre Behandlungsbedürftigkeit. Zwar führten Selbstverletzungen zu Krankheiten im Sinne von § 27 Abs 1 SGB V; sie könnten jedoch schon durch geeignete pflegerische Maßnahmen vermieden werden. Eine jederzeitige ärztliche Rufbereitschaft und die besonderen Mittel eines Krankenhauses seien dafür nicht erforderlich. Dass auch therapeutische Leistungen erbracht würden, begründe für sich genommen noch keine Zuordnung zur Krankenbehandlung. Vielmehr müssten die therapeutischen Leistungen die stationäre Unterbringung unabhängig von der Fremd- bzw Eigengefährdung rechtfertigen können (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 12. November 1985 - 3 RK 33/84 -). Das ergebe sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung und dem systematischen Zusammenhang zu den Unterbringungsgesetzen. Ein Mindestmaß begleitender therapeutischer Behandlung gehöre stets zu einer Unterbringung, die sich eben nicht nur in einer reinen Verwahrung erschöpfe. Nach dem NPsychKG gehöre zur Unterbringung auch die Krankenbehandlung, und zwar sowohl für akute Fälle zur Vermeidung drohender Gesundheitsgefahren als auch die psychotherapeutische Behandlung mit dem Ziel der Eingliederung in die Gesellschaft, § 21, 21a, 21b NPsychKG. Grundsätzlich trage die untergebrachte Person die Kosten, § 37 Abs 1 NPsychKG. Zwar handele es sich vorliegend um eine Unterbringung nach § 1906 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), da sie auf Antrag des Betreuers verlängert und nicht nach § 17 Abs 1 Satz 2 NPsychKG vom Landkreis bzw der kreisfreien Stadt beantragt worden sei. Aus § 312 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) ergebe sich jedoch, dass alle Unterbringungsformen gleichwertig seien und die Unterbringung nach § 1906 vorrangig sei bei Eigengefährdung. An dieser Rechtsprechung vor Einführung des § 39 SGB V sei festzuhalten; der Große Senat habe ausdrücklich an die Rechtsprechung vor Einführung des § 39 SGB V angeknüpft.
Die Prüfung habe im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Aufenthaltes zu erfolgen. Für eine Gesamtbetrachtung sprächen Praktikabilitätsgründe. Nach diesem Maßstab habe schon kein Therapieziel vorgelegen. Eine Therapiedichte, die abgesehen von der Fixierung nur im stationären Setting hätte erbracht werden können, sei weder vorgetragen noch könne sie dem Sachverständigengutachten entnommen werden. Die aus der Patientenakte ersichtliche Therapiedichte sei nicht ansatzweise hoch genug. Die im Einzelfall verschluckten Gegenstände hätten eine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit (nur) auf chirurgischem Gebiet begründet.
Der vorstehenden Beurteilung stehe die Bewertung der Sachverständigen nicht entgegen. Im Gutachten werde die akutstationäre Behandlungsbedürftigkeit mit der Dauerfixierung begründet, den Manipulationen an der Bauchwunde, sowie dem fremdaggressiven Verhalten. Damit würden entgegen der Rechtsprechung des BSG keine medizinischen Gründe für die stationäre Behandlungsbedürftigkeit angeführt, sondern der Schutz der Öffentlichkeit bzw der Schutz der Versicherten vor Suizid bzw Selbstverletzung. Dem Gutachten lasse sich nicht entnehmen, dass diese Ziele über die pflegerische Versorgung hinaus eine dauerhafte ärztliche Rufbereitschaft erforderten. Das Gutachten gehe von einem falschen rechtlichen Maßstab aus.
Ein Zahlungsanspruch folge auch nicht aus § 13 Abs 6 des Landesvertrages nach § 112 SGB V bzw den Regelungen der PrüfvV. Diese Regelungen seien nur einschlägig, wenn überhaupt eine auf Krankenbehandlung gerichtete Tätigkeit des Krankenhauses vorliege. Die Vorschriften des SGB V und der PrüfvV sowie § 17d KHG setzten voraus, dass der Anwendungsbereich des § 39 SGB V eröffnet sei.
Ein Anspruch nach § 76 SGB V unter dem Gesichtspunkt einer Notfallbehandlung komme ebenfalls nicht in Betracht, weil dieser ebenso wie § 39 SGB V voraussetze, dass das Ziel der Leistung Krankenbehandlung sei, was hier gerade verneint werde.
Gegen das ihr am 29. Dezember 2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Januar 2022 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Das SG verkenne, dass die Unterbringung der Versicherten nicht ausschließlich zur Vermeidung von Selbstgefährdung erfolge. Es habe seit 2007 weder ein „Verwahren“ noch ein „Wohnen“ der Versicherten in der Psychiatrie der Klägerin stattgefunden habe, sondern eine intensive Krankenhausbehandlung. Maßgebliche Rechtsgrundlage sei § 27 Abs 1 iVm § 39 Abs 1 SGB V. Im vorliegenden Fall sei der in § 27 Abs 1 Satz 4 SGB V zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Wille, bei der Krankenbehandlung den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, in Blick zu nehmen. Diese Maßgabe werde durch den in § 70 SGB V ausgeformten Grundsatz der Humanität untermauert. Im streitbefangenen Zeitraum sei eine akutstationäre, intensive psychiatrische Behandlung erfolgt. Die medizinische Notwendigkeit der vollstationären Behandlung beruhe auf der besonderen Schwere der Erkrankung vom Borderline-Typus bei fortbestehendem Gefährdungspotential und Intelligenzminderung. Eine sukzessive Lockerung der intensiven Betreuungsmaßnahmen sei vorbesprochen, das Verhalten reflektiert und nachbesprochen worden. Aus der Verlaufsdokumentation ergebe sich, dass regelmäßig ergotherapeutische Therapieeinheiten durchgeführt worden seien. Mittel- und langfristiges Therapieziel sei eine Stabilisierung der Gesamtsymptomatik gewesen, sodass mit Erreichen dieses Ziels eine Entlassung in einen geschützt geführten Heimbereich habe ermöglicht werden sollen.
Die Klägerin hat die aktualisierte fachärztliche Stellungnahme von Prof Dr P. vom 30. Juli 2024 vorgelegt, wonach es sich bei der Versicherten um einen sehr komplexen Fall handele, der sich nur sehr selten im klinischen Alltag darstelle. In der Somatik würde der Begriff „rare disease“ Verwendung finden. Aufgrund der Intelligenzminderung beruhten viele Reaktionen auf kindlichen Handlungsweisen. In den Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften (S3 Leitlinie der DGPPN/AWMF oder der American Phsychiatric Association (APA) in den USA oder dem National Institute of Clinical Excellence (NICE) in Großbritannien fänden die Patienten bisher leider keinen Eingang, sodass es keine entsprechenden Behandlungsmodule / -schemata für die Betroffenen gebe. Da für das komplexe Störungsbild der Versicherten keine suffizienten Leistungsempfehlungen vorlägen, sei ein individuelles Therapiekonzept implementiert worden, das sich einzelner leitliniengerechter Anteile bediene. Im Kern stünden Elemente der Behandlung von emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen. Bei den Therapiekonzepten zur Behandlung der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typus handele es sich fast ausnahmslos um multidimensionale Ansätze. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegten, dass sich mit Hilfe einer behutsamen langfristigen Therapie auch bei bereits vorhandener Chronifizierung noch wesentliche Verbesserungen erzielen ließen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Hannover vom 16. Dezember 2021 aufzuheben und
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 364.223,66 Euro zu zahlen nebst 2 Prozentpunkte Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz aus
50.389,07 Euro seit dem 30. Januar 2019,
2.451,26 Euro seit dem 3. Januar 2019,
2.801,44 Euro seit dem 24. Januar 2019,
3.300 Euro seit dem 1. Februar 2019,
3.552 Euro seit dem 19. Februar 2019,
3.300 Euro seit dem 6. März 2019,
2.886 Euro seit dem 19. März 2019,
3.330 Euro seit dem 3. April 2019,
3.552 Euro seit dem 17. April 2019,
3.330 Euro seit dem 1. Mai 2019,
3.330 Euro seit dem 18. Mai 2019,
3.330 Euro seit dem 1. Juni 2019,
3.552 Euro seit dem 19.Juni 2019,
3330 Euro seit dem 4. Juli 2019,
6.660 Euro seit dem 2. August 2019,
3.552 Euro seit dem 17. August 2019 und
261.517,89 Euro seit dem 6. Januar 2020 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Im Gutachten des MDK wie auch im gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachten von Dr Q. würden (nur) Sicherungsmaßnahmen beschrieben. Es ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Behandlung des psychiatrischen Grundleidens der Versicherten. Der Behandlungsplan und das Behandlungsziel würden nicht erläutert. Das Erfordernis dauerhafter Sicherungsmaßnahmen stelle einen möglichen Hilfebedarf nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) dar oder eine Handlungspflicht der Ordnungsbehörden nach § 11 Niedersächsisches Gesetz über die Sicherheit und Ordnung (Nds SOG) und nicht einen solchen nach dem SGB V. Die Entscheidung des BSG vom 12. November 1985 sei vorliegend einschlägig. Das Sachverständigengutachten führe entgegen der Rechtsprechung des BSG keine medizinischen Gründe für eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit an. Nach den rechtlichen Maßstäben, dem medizinischen Vortrag der Klägerin und dem Inhalt der Patientenakte hätte ein Gutachten erst gar nicht eingeholt werden müssen. Da schon keine Krankenbehandlung vorliege, könne die Beklagte mangels Anwendbarkeit der §§ 275 ff SGB V gar keine Fallprüfung durch den MDK in Auftrag geben. Zudem sei die erste Schlussrechnung der Klägerin vom 28. Dezember 2018 übersandt worden, ohne dass eine Entlassungsanzeige erfolgt sei. Ohne Auflistung der Kodes und ohne Entlassungsanzeige sei eine Beauftragung des MDK zur vollumfänglichen Überprüfung nicht möglich gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten und die Patientenakte der Versicherten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 ff SGG form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das Urteil des SG Hannover hält einer Überprüfung durch den Senat in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht stand. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Die Klage ist gemäß § 54 Abs 5 SGG als echte Leistungsklage im hier bestehenden Gleichordnungsverhältnis zulässig. Die infolge weiter aufgelaufener Behandlungskosten vorgenommenen Klageerweiterungen waren als Klageänderungen gemäß § 99 Abs 2 SGG zulässig, da sich die Beklagte rügelos eingelassen hat.
Die Klage erweist sich allerdings als unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der begehrten Vergütung von 364.223,66 Euro, da die Voraussetzungen einer Krankenhausbehandlung nicht erfüllt sind.
1. Anspruchsgrundlage für die begehrte Vergütung ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und § 9 Abs1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG sowie § 17d KHG und den für den Behandlungs- und Abrechnungsfall im Jahr 2018 und 2019 maßgeblichen Entgeltsystem PEPP (pauschalierendes Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatischen Einrichtungen) sowie der am 1. November 1992 in Kraft getretene Vertrag zu den Bereichen des § 112 Abs 2 Nr 1,2,4 und 5 SGB V zwischen der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und den Landesverbänden der Krankenkassen (Niedersächsischer Sicherstellungsvertrag). Nach § 17d Abs 1 KHG ist für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen seit dem 1. Januar 2018 ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschaliertes Vergütungssystem (PEPP) auf Grundlage von tagesbezogenen Entgelten für alle Krankenhäuser verbindlich anzuwenden.
Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung eines gesetzlich Krankenversicherten und damit korrespondierend die Zahlungspflicht der Krankenkasse entsteht – unabhängig von einer Kostenzusage – unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und im Sinne von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (zB BSG, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 25/27 R Rn 10).
2. Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach Satz 4 (in der bis Dezember 2019 geltenden Fassung des § 27 SGB V) ist bei der Krankenbehandlung den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation. Der Gesetzgeber hat neuen Erkenntnissen auf dem Fachgebiet der Psychiatrie Rechnung getragen und mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBL I S 2477) allgemein in § 27 Abs 1 (damals) Satz 3 SGB V (in der bis Dezember 2019 gültigen Fassung: Satz 4) die Verpflichtung hervorgehoben, bei der Krankenbehandlung den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen. Hiermit sollte der Gleichstellung körperlich und psychisch Kranker Ausdruck verliehen und so ein Beitrag zur Verbesserung der Situation psychisch Kranker geleistet werden. Diese Regelung verleiht dem Einzelnen zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenkasse, ihr kommt aber zumindest eine Verdeutlichungsfunktion und der Charakter einer Auslegungsregel zu; sie bedingt, dass die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten auch bei psychischen Erkrankungen voll ausgeschöpft werden und dass für sie bestimmte Leistungsangebot nicht hinter denjenigen für somatisch Kranke zurückbleiben darf (BSG, Urteil vom 20. Januar 2005 - B 3 KR 9/03 R Rn 22 mwN; so auch Fahlbusch in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl, § 27 SGB V (Stand: 27. Februar 2024), Rn 83).
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich auch aus der Zusammenschau von § 27 Abs 1 Satz 4 SGB V mit § 70 Abs 2 SGB V keine Sonderregelung für die Versorgung psychisch Kranker. § 70 Abs 2 SGB V ist nur als Programmsatz bei der Auslegung des Leistungsanspruchs zu berücksichtigen (vgl Hess, Kasseler Kommentar, 122. EL, Stand: Mai 2023; § 70 Rn 10).
Nach der Begründung des Gesetzentwurfs trägt § 70 Abs 2 SGB V, nach dem Krankenkassen und Leistungserbringer durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung der Versicherten hinzuwirken haben, der besonderen Bedeutung einer humanen Krankenbehandlung als tragendem Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherung Rechnung. Die Vorschrift des Absatzes 2 richtet sich an Krankenkassen und Leistungserbringer, begründet also keine unmittelbaren Ansprüche der Versicherten. Sie wird deshalb vornehmlich als Programmsatz mit der Folge verstanden, dass sich aus ihr konkrete Ansprüche der Versicherten nicht ableiten lassen. Allerdings ist § 70 Abs 2 SGB V bei der Auslegung, ob und in welcher Weise Versicherte Anspruch auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung haben, als Auslegungsrichtlinie zu berücksichtigen (Engelmann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl, § 70 SGB V (Stand: 28. November 2022), Rn 37).
Nach § 27 Abs 1 Satz Nr 5 SGB V umfasst die Krankenbehandlung die Krankenhausbehandlung, die in § 39 SGB V geregelt ist. Nach § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108 SGB V), wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend – auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes einer humanen Krankenbehandlung (§ 70 Abs 2 SGB V) und des Gebotes, dass die Versorgung psychisch Kranker nicht hinter der Versorgung somatisch Kranker zurückbleiben darf (§ 27 Abs 1 Satz 4 SGB V), nicht erfüllt.
3. Der Anspruch erkrankter Versicherter auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus setzt – seit jeher – ausschließlich voraus, dass das Behandlungsziel allein aus medizinischen Gründen nicht durch andere Maßnahmen der Krankenbehandlung erreicht werden kann (Großer Senat, Vorlagebeschluss vom 7. November 2006 – B 1 KR 32/04 R – Rn 23 ff). Damit richtet sich der Anspruch auf vollstationäre Krankenhausbehandlung allein nach den medizinischen Erfordernissen des Einzelfalles. Andere Gründe für den Krankenhausaufenthalt reichen nicht aus, selbst wenn sie auf eine Krankheit zurückzuführen sind (Großer Senat, aaO, Rn 24).
Dementsprechend ist für die Beurteilung, ob im Einzelfall der Versicherten über die streitbefangenen 13 Monate die Voraussetzungen einer vollstationären psychiatrischen Krankenhausbehandlung erfüllt waren, auf die in der Patientenakte dokumentierten Therapiemaßnahmen abzustellen.
Die Unterbringung der Versicherten im psychiatrischen Klinikum der Klägerin begründet nicht schon deshalb einen Anspruch auf stationäre Krankenhausbehandlung, weil sie wegen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung mit schwerwiegender Eigen- und Fremdgefährdung in seltener Ausprägung mit Intelligenzminderung erfolgt und nur in einer geschützten Abteilung möglich ist und eine geeignete dauerhaft Unterbringungsmöglichkeit bisher nicht gefunden wurde. Die Unterbringung und Versorgung eines Kranken in einer geschlossenen Abteilung ist für sich keine medizinische Behandlung. Ist sie nur aus Verwahrungsgründen erforderlich, handelt es sich ebenso wenig um eine Krankenhauspflege im Sinne des § 184 Reichsversicherungsordnung <RVO> wie bei einer Unterbringung zur Pflege, die lediglich dem Zweck dient, einem Zustand der Hilflosigkeit zu begegnen (BSG, Urteil vom 12. November 1985 – 3 RK 33/84 Rn 13). Von dieser Rechtsprechung ist das BSG bis heute nicht abgewichen. Auch die Notwendigkeit einer ständigen Betreuung durch psychiatrisch geschultes nichtärztliches Personal allein macht die Krankenkasse noch nicht leistungspflichtig. Diese Auslegung des § 39 SGB V entspricht dem gesetzlichen Regelungssystem abgestufter Ansprüche der Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) (vgl Großer Senat, aaO, Rn 13, 39). Dieses abgestufte Regelungssystem des SGB V würde durchbrochen und das erkennbar mit Nachdruck und Priorität verfolgte gesetzgeberische Ziel einer möglichst weitgehenden Vermeidung stationärer Krankenhauspflege auf Kosten der Krankenkassen wäre in Frage gestellt, wenn für die Beurteilung, auf welche der genannten Behandlungsformen der Versicherte gegen eine Krankenkasse Anspruch hat, neben medizinischen Gründen wesentlich auf krankenversicherungsfremde Gesichtspunkte abzustellen wäre wie zB das persönliche Umfeld des Betroffenen oder die Versorgungsstruktur in Bezug auf Unterbringungseinrichtungen zur Gefahrenabwehr und bei Pflegeheimen. Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Regelungssystem verdeutlichen mithin den mit § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V verfolgten Regelungszweck, Krankenhausbehandlung als eine der kostenintensivsten Leistungen der GKV nur als letztes, äußerstes Mittel in den wirklich notwendigen, nicht durch andere Maßnahmen behandelbaren Fällen einzusetzen (Großer Senat, aaO, Rn 42, 43).
4. Nach diesen Maßstäben bestand bei der Versicherten Voss keine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit allein aus medizinischen Gründen. Ihre Unterbringung auf der geschützt geführten Station der Klägerin erfolgte zur Vermeidung eines Suizides, weiterer schwerer Selbstverletzungen und zur Verhinderung fremdaggressiver Übergriffe. Darin stimmen die Beurteilungen der gerichtlichen Sachverständigen, des MDK und des ärztlichen Direktors und Chefarztes des Klinikums der Klägerin, Prof Dr P., überein. Sowohl Prof Dr P. als auch die Sachverständige benennen diese drei Aspekte ausdrücklich als Therapieziele. Prof Dr P. wird in seiner Stellungnahme vom 5. Dezember 2019 noch deutlicher, indem er feststellt, die aktuelle stationäre Behandlung erscheine aus ärztlicher Sicht unabdingbar, um das Therapieziel des Vermeidens eines Suizids der Patientin oder eines Tötungsdelikts Dritter zu erreichen. In diesem Zusammenhang führt er aus, dass es bislang – die Versicherte ist seit weit über zehn Jahren auf der geschützt geführten Station untergebracht – nur möglich gewesen sei, eine kurzfristige Symptomverbesserung zu erreichen. Aufgrund des erheblichen Störungsbildes sei die Versicherte zwischen dem 2. Dezember 2018 und dem 26. Oktober 2019 an sämtlichen Tagen schutzfixiert gewesen.
a) Der gegenteiligen gutachtlichen Einschätzung der Sachverständigen Dr Q., wonach eine vollstationäre akutpsychiatrische Behandlung erfolgt ist, für die die Merkmale einer Intensivbehandlung erfüllt waren, kann sich der Senat nicht anschließen.
Die Sachverständige benennt in ihrem Gutachten keine stattgehabten Behandlungsmaßnahmen zur Linderung der Grunderkrankung bzw der schwerwiegenden Verhaltensstörungen, die ein stationäres Setting rechtfertigen könnten. Auf eine Analyse des Therapiekonzeptes hat sie verzichtet und als maßgebliche Behandlungsmaßnahme allein auf die durchgängige Fixierung abgestellt. Insoweit hat sie sich auf den Hinweis beschränkt, die ärztliche Anordnung sei ebenso dokumentiert wie die regelmäßigen Kontrollen der Versicherten in der Fixierung seitens des Pflegepersonals.
Die Erforderlichkeit einer durchgehenden Fixierung der Versicherten aufgrund der nicht beherrschbaren Verhaltensstörungen wird vom erkennenden Senat nicht in Frage gestellt. Allerdings stellt die Fixierung grundsätzlich keine medizinische Behandlungsmaßnahme dar, die der besonderen Mittel des Krankenhauses bedarf oder nur in einem fachpsychiatrischen Krankenhaus durchgeführt werden könnte, sondern eine Maßnahme zur Abwehr von Fremd- und Selbstgefährdung, die eher dem Gebiet der Gefahrenabwehr zuzuordnen ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. Januar 2000 – L 4 KR 105/98 -).
Eine Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen nach OPS 9-61, die die Sachverständige auch zur Begründung einer stationären Behandlungsbedürftigkeit heranzieht, hat nicht stattgefunden, weil das Mindestmerkmal einer therapiezielorientierten Behandlung nicht erfüllt ist.
Der OPS 9-61 lautet:
Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen
Exkl.:
Regelbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-607)
Psychotherapeutische Komplexbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-626)
Psychosomatisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-634)
Hinw.:
Ein Kode aus diesem Bereich ist so lange anzugeben, wie mindestens eines der unten genannten Patientenmerkmale vorliegt
Ein erhöhter Betreuungsaufwand bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-640 ff.), eine kriseninterventionelle Behandlung (9-641 ff.), die integrierte klinisch-psychosomatisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-642), die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung im besonderen Setting (Mutter/Vater-Kind-Setting) (9-643 ff.), die Erbringung von Behandlungsmaßnahmen im stationsersetzenden Umfeld und als halbtägige tagesklinische Behandlung (9-644 ff.), der indizierte komplexe Entlassungsaufwand (9-645 ff.), die spezifische qualifizierte Entzugsbehandlung Abhängigkeitskranker (9-647 ff.) und der Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern (9-510 ff.) sind gesondert zu kodieren
Ein Kode aus diesem Bereich ist zu Beginn der Behandlung, bei jedem Wechsel der Behandlungsart und bei jeder Änderung der Anzahl der Patientenmerkmale anzugeben
Die Anzahl der Therapieeinheiten pro Woche ist gesondert zu kodieren (9-649 ff.)
Die psychiatrisch-psychosomatische Intensivbehandlung umfasst ärztliche und/oder psychologische Gespräche (z.B. Visiten) und/oder sozialarbeiterische Interventionen und die Basisversorgung durch weitere Berufsgruppen. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt zumeist bei häufigen, nicht planbaren und zeitlich begrenzten Einzelkontakten, da die Patienten meistens nicht gruppenfähig sind
- Mindestmerkmale:
- Therapiezielorientierte Behandlung durch ein multiprofessionelles Team unter Leitung eines Facharztes (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie, Facharzt für Nervenheilkunde oder Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie)
- Vorhandensein von Vertretern der folgenden Berufsgruppen in der Einrichtung:
- Ärzte (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie, Facharzt für Nervenheilkunde oder Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie)
- Psychologen (Psychologischer Psychotherapeut, Diplom-Psychologe oder Master of Science in Psychologie)
- Spezialtherapeuten (z.B. Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter, Logopäden, Kreativtherapeuten)
- Pflegefachpersonen (z.B. Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger, Altenpfleger, Heilerziehungspfleger)
- Als angewandte Verfahren der ärztlichen und psychologischen Berufsgruppen gelten folgende Verfahren oder im Aufwand vergleichbare Verfahren:
- Supportive Einzelgespräche
- Angehörigengespräche (z.B. Psychoedukation, Angehörigengruppen, Gespräche mit Betreuern)
- Gespräche mit Richtern oder Behördenvertretern
- Somato-psychosomatisches ärztliches Gespräch
- Aufklärung, Complianceförderung und Monitoring im Rahmen der ärztlich indizierte Psychopharmakotherapie
- Als angewandte Verfahren der Spezialtherapeuten gelten folgende Verfahren oder im Aufwand vergleichbare Verfahren:
- Beratung, Adhärenz-Förderung und Monitoring im Rahmen der ärztlich indizierten Psychopharmakotherapie
- Psychoedukation
- Ergotherapeutische Behandlungsverfahren
- Gespräche mit Behördenvertretern
- Angehörigengespräche, Gespräche mit Betreuern
- Spezielle psychosoziale Interventionen (z.B. Selbstsicherheitstraining, soziales Kompetenztraining)
- Physio- oder Bewegungstherapie (z.B. Sporttherapie)
- Logopädie (z.B. bei Schluckstörungen)
- Bezugstherapeutengespräche, supportive Einzelgespräche
- Die Patienten weisen mindestens eines der nachfolgenden Merkmale auf:
- Anwendung von Sicherungsmaßnahmen
- Dieses Merkmal ist erfüllt, wenn die Notwendigkeit des Einsatzes von individuellen präventiven (nur personellen) Sicherungsmaßnahmen und/oder individuellen reaktiven (personellen, räumlichen, mechanischen und/oder medikamentösen) Sicherungsmaßnahmen besteht und diese ärztlich angeordnet sind
- Akute Selbstgefährdung durch Suizidalität oder schwer selbstschädigendes Verhalten
- Unter selbstschädigendem Verhalten versteht man z.B. häufige Selbstverletzungen von Borderline-Patienten oder durchgängige Nahrungsverweigerung bei Essstörungen oder Verweigerung vital notwendiger medizinischer Maßnahmen (z.B. Insulintherapie bei Diabetes mellitus)
- Akute Fremdgefährdung
- Dieses Merkmal ist erfüllt, wenn der Patient gewaltbereit oder gewalttätig ist
- Schwere Antriebsstörung (gesteigert oder reduziert)
- Das Merkmal "schwere gesteigerte Antriebsstörung" ist erfüllt, wenn der Patient ständig aktiv ist, sich durch Gegenargumente nicht beeindrucken lässt und selbst persönliche Konsequenzen nicht zur Kenntnis nimmt oder sie ihm nichts ausmachen. Das Merkmal "schwere reduzierte Antriebsstörung" ist erfüllt, wenn Anregungen von außen den Patienten kaum oder gar nicht mehr erreichen. Die Alltagsverrichtungen sind beeinträchtigt. Hierzu gehört auch der Stupor
- Keine eigenständige Flüssigkeits-/Nahrungsaufnahme
- Dieses Merkmal ist erfüllt, wenn Flüssigkeit und/oder Nahrung vollständig von Dritten verabreicht oder die Flüssigkeits-/Nahrungsaufnahme vollständig von Dritten begleitet werden muss (nicht bei alleiniger Sondenernährung oder alleiniger parenteraler Ernährung)
- Akute Selbstgefährdung durch fehlende Orientierung oder Realitätsverkennung (z.B. Stürze ohne Fremdeinfluss oder durchgängige Nahrungsverweigerung bei Demenz)
- Vitalgefährdung durch somatische Komplikationen
- Die für den jeweiligen Patienten zutreffenden unterschiedlichen Merkmale sind für die einzelnen Tage, an denen sie zutreffen, jeweils zu addieren. Ändert sich die Anzahl der Patientenmerkmale pro Tag, ist der entsprechende neue Kode anzugeben. Für den Nachweis der Merkmale ist die Regeldokumentation in der Patientenakte ausreichend
- Anwendung von Sicherungsmaßnahmen
9-617 Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei erwachsenen Patienten mit 1 Merkmal
9-618 Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei erwachsenen Patienten mit 2 Merkmalen
9-619 Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei erwachsenen Patienten mit 3 Merkmalen
9-61a Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei erwachsenen Patienten mit 4 Merkmalen
9-61b Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei erwachsenen Patienten mit 5 oder mehr Merkmalen
Zutreffend weist die Sachverständige darauf hin, dass in den „Erfassungsbögen OPS“ in der Patientenakte als Patientenmerkmale einer Intensivbehandlung besondere Sicherungsmaßnahmen, akute Selbstgefährdung, akute Fremdgefährdung und schwere Antriebsstörung angekreuzt und vom Arzt mit Handzeichen abgezeichnet worden sind. Allerdings übersieht sie bei ihrer Beurteilung, dass die Kodierung der OPS 9-61 als Mindestmerkmal eine „therapiezielorientierte Behandlung durch ein multiprofessionelles Team unter Leitung eines Facharztes (… )“ voraussetzt.
Eine therapiezielorientierte Behandlung des psychiatrischen Grundleidens, der schwerwiegenden Verhaltensstörungen oder die Linderung krankheitsbedingter Leiden, die aufgrund der Therapiedichte ein stationäres Setting erfordern oder aufgrund ihrer Eingriffsintensität nur unter stationärer Beobachtung durchgeführt werden kann, ist nicht nachgewiesen.
Die Sachverständige schließt ohne Prüfung der medizinischen Voraussetzungen allein aufgrund des Krankheitsbildes und der Dauerfixierung auf eine akutpsychiatrische Intensivbehandlung und nimmt damit eine rechtliche Würdigung vor, an die der erkennende Senat nicht gebunden ist. Die rechtliche Würdigung von Sachverhalten und die Beantwortung von Rechtsfragen, wozu auch die Auslegung von Deutschen Kodierrichtlinien zählt, obliegt ausschließlich dem Gericht und ist der Begutachtung durch einen Sachverständigen entzogen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. März 2023 – L 7 KO 21/20 <KR>). Daher musste sich der Senat nicht veranlasst sehen, ein weiteres Gutachten einzuholen.
Auch die Stellungnahmen des ärztlichen Direktors, Prof Dr P., vom 5. Dezember 2019 und 30. Juli 2024 belegen kein therapieorientiertes Behandlungskonzept. Zwar wird in der ersten Stellungnahme ausgeführt, dass die Versicherte sowohl in Zeiten der Schutzfixierungsmaßnahmen als auch in Phasen der Defixierung therapeutische Einheiten durch Ergotherapeuten und Psychologen erhalten habe. Die Häufigkeit dieser Einheiten wird allerdings nicht benannt.
In der aktuellen Stellungnahme vom 30. Juli 2024 werden konkrete Therapieeinheiten mit Daten angegeben, die allerdings mehrheitlich in großen Abständen erfolgt sind.
Auch im Übrigen begründet die aktuelle fachärztliche Stellungnahme keine Krankenhausbedürftigkeit aus medizinischen Gründen. Dabei stellt der Senat weder in Frage, dass in den Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften Patienten mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typus sowie einer mittelgradigen Intelligenzminderung keinen Eingang finden, sodass es für die Betroffenen keine entsprechenden Behandlungsmodule/-schemata gibt, noch, dass in solchen Fällen nur ein individuelles Therapiekonzept implementiert werden kann. Allerdings muss das individuelle Therapiekonzept bei dieser besonderen Krankheitsausprägung in der Patientenakte dokumentiert werden. Daran fehlt es im streitbefangenen Behandlungsfall. Die Erläuterung, dass es sich bei den Therapiekonzepten, die im Rahmen der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen vom Borderline Typus fast ausnahmslos um multidimensionale Ansätze handelt, befreit die Klägerin nicht von ihrer Beweislast. Der Nachweis eines individuellen Therapiekonzepts im Einzelfall der Versicherten wird auch nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen erbracht, die belegen, dass sich mit Hilfe einer behutsamen langfristigen Therapie auch bei bereits vorhandener Chronifizierung noch wesentliche Besserungen erzielen lassen.
Entgegen dem klägerischen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung ergeben sich aus dem Dokumentationstext der Verlaufsdokumentation keine engmaschigen multimodalen Therapiemaßnahmen, die ein stationäres Setting erfordern. Beispielhaft kann der Dokumentationstext für den 5. April 2019 herausgegriffen werden. Dort wird für 3:49 Uhr die 5 Punkt Fixierung und das Verhalten der Versicherten beschrieben, die begrenzt werden musste. Um 9:35 Uhr wird eine akute Suizidalität festgestellt und eine Nichterreichbarkeit im Gespräch. Um 11:00 Uhr wird Sterbewunsch eingetragen und dass die Versicherte auf therapeutische Intervention nicht eingeht. Für 12:41 Uhr und 18:41 Uhr findet sich wiederum eine Situationsbeschreibung und der Eintrag, die Versicherte habe mehrfach Gespräche erhalten. In der Spalte „Tätigkeit“ ist keine Therapie vermerkt. Erst am 24. April 2019 findet sich in der Verlaufsdokumentation um 11:45 Uhr unter Tätigkeit der Eintrag „Ergotherapie“ mit dem Ziel der Steigerung von Konzentration, Ausdauer und Merkfähigkeit. Dort heißt es: „Patientin kann den Inhalt der Geschichte – trotz langer Therapiepause – rudimentär erinnern“. Auch für den 25. April 2019 ist eine Ergotherapie vermerkt. Der nächste Eintrag für Ergotherapie findet sich allerdings erst wieder am 14. Mai 2019. Dementsprechend spiegelt die Verlaufsdokumentation, dass im Wesentlichen eine Krankenbeobachtung stattgefunden hat und nur dann, wenn die Situation es zuließ, in sehr unregelmäßigen Abständen therapeutische Einzelkontakte erfolgt sind. Das belegen auch die in der aktuellen fachärztlichen Stellungnahme vom 30. Juli 2024 aufgeführten Therapiedaten am 24. April, 25. Juli, 20. August, 25. September, sowie am 8. und 10. Oktober 2019. Ein Therapiekonzept, das ein stationäres Setting rechtfertigt, für das die Klägerin die Beweislast trägt, wird daraus nicht ersichtlich.
Für Krankenhäuser besteht eine sozialrechtliche Dokumentationspflicht; sie steht nicht im Widerspruch zur Dokumentationspflicht aus oder entsprechend den Grundsätzen des Behandlungsvertrages, verfolgt aber eigene Ziele. Die Dokumentationspflicht folgt im Verhältnis zum Patienten aus oder entsprechend dem Behandlungsvertrag. Sie dient vor allem der Therapiesicherung, zudem aber auch der Beweissicherung. Die Dokumentation des Krankenhauses darf in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit in die Feststellung des Sachverhaltes im Wege der Amtsermittlung einfließen (BSG, Urteil vom 19. November 2020 – B 1 KR 33/18 R -).
b) Die Klägerin kann auch aus der vorgetragenen 1:1 Betreuung keine Behandlungsmaßnahme herleiten, die eine vollstationäre psychiatrische Krankenhausbehandlung rechtfertigen würde.
Zum einen ist die ärztliche Anordnung einer 1:1 Betreuung in der Patientenakte nicht dokumentiert; zum anderen sind die Voraussetzungen einer 1:1 Betreuung nach dem OPS 9-640 nicht erfüllt. In der Patientenakte sind Kontrollen der Fixierung durch das Pflegepersonal in viertelstündigen Abständen dokumentiert. Die Kontrolle der Fixierung erfüllt allerdings nicht zugleich die Voraussetzungen einer 1:1 Betreuung. Auch die Sachverständige Dr Q. hat darauf hingewiesen, dass die klägerische Argumentation, Fixierungsmaßnahmen seien quasi automatisch mit einer 1:1 Betreuung verbunden, nicht haltbar ist. Nach dem OPS 9-640 bedeutet eine 1:1 Betreuung, dass eine einzelne Person einen einzelnen Patienten individuell zusammenhängend ggfs zusätzlich zu den angewandten Verfahren betreut bzw dass ein Patient über einen Zeitraum von mindestens zwei Stunden ohne Unterbrechung fortlaufend von einer oder mehreren Personen betreut wird. Ausweislich der Klageschrift wird die 1:1 Betreuung bei der Klägerin hausintern als „Stufe 3“ bezeichnet und ist dadurch gekennzeichnet, dass der Patient in ständigem Sichtkontakt mit der Betreuungsperson plus aktiver und direkter periodischer Kontaktaufnahme steht. Damit sind die Voraussetzungen einer 1:1 Betreuung nicht erfüllt; die Nichterweislichkeit geht zu Lasten der Klägerin.
Zudem ist die 1:1 Betreuung keine eigenständige Behandlungsmaßnahme. Das ergibt sich aus
dem Hinweis zum einschlägigen OPS 9-640, wonach diese Kodes (9-640.0 bis 9-640.08) Zusatzkodes sind. Sie können nur in Kombination mit der Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-61), der psychotherapeutischen Komplexbehandlung … (9-626) und der psychosomatisch-psychotherapeutischen Komplexbehandlung …. (9-634) angegeben werden und bilden den erhöhten Betreuungsaufwand ab. Eine psychiatrische Intensivbehandlung ist vorliegend nicht nachgewiesen.
c) Die vom LSG Baden-Württemberg im Urteil vom 21. November 2023 (L 11 KR 1032/20) vertretene Auffassung, wonach auch bei einer schweren chronifizierten psychiatrischen Erkrankung nicht von vornherein von einer fehlenden medizinisch-ärztlichen Beeinflussbarkeit ausgegangen werden kann, führt im streitbefangenen Behandlungsfall zu keiner abweichenden Beurteilung. Das LSG Baden-Württemberg geht plausibel davon aus, dass bei einer psychiatrischen Erkrankung allein der Einsatz von Ärzten, therapeutischen Hilfskräften und Pflegepersonal sowie die Art der Medikation die stationäre Behandlung kennzeichnen. Der dort beauftragte Sachverständige hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass im Falle eines hochbeeinträchtigenden chronischen Krankheitsbildes durch die Behandlung zwar ggfs keine Besserung des herabgesenkten psychosozialen Funktionsniveaus mehr möglich ist, hiervon die Linderung krankheitsbedingter Leiden jedoch getrennt betrachtet werden muss (Rn 43). Im Unterschied zum vorliegenden Fall erhielt der Versicherte dort während des Klinikaufenthalts zuerst mehrfach und im Verlauf nur noch einmal wöchentlich EKT-Behandlungen bei angepasster neuroleptischer Medikation. Die Behandlung mittels EKT diente der Behandlung therapieresistenter und schwerer depressiver Störung und bei der mit wenige Sekunden andauernden Stromimpulsen unter Narkose mit Muskelrelaxation eine kurzzeitige neuronale Übererregung im Gehirn ausgelöst wurde. Sie führte bei dem Versicherten zu einer wesentlichen Verbesserung seines psychischen Zustandes bei deutlich stabilisiertem Affekt und rückläufiger Wahnsymptomatik. Derartige invasive medizinische Behandlungsmaßnahmen hat die Versicherte Voss im vorliegenden Abrechnungsfall nicht erhalten.
d) Die Klägerin kann auch nicht erfolgreich einwenden, dass ihr Facharzt für Neurologie bei Klinikaufnahme am 24. September 2018 nach Rückführung aus der O. die stationäre Behandlung für notwendig, Alternativen für nicht durchführbar und prä-, teil-, poststationäre Behandlung als nicht möglich bewertet hat (Aufnahmebefund R. vom 25. September 2018). Im Unterschied zu einem Versicherten, der bei fehlerhafter ärztlicher Einschätzung einer Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit jedenfalls Vertrauensschutz bis zur ersten Ablehnungsentscheidung der Krankenkasse genießt, erlangt das Krankenhaus keinen Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse. Es hat nämlich nicht einen bestehenden Anspruch des Versicherten gegen die Krankenkasse erfüllt, sondern bei seiner Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen auf medizinischem Gebiet versagt und daraus die Konsequenzen zu tragen. Von dieser Verantwortung kann sich das Krankenhaus auch nicht zu Lasten des Versicherten freizeichnen, soweit nicht der Versicherte in voller Kenntnis seiner Rechte Behandlung auf eigene Kosten ohne Aussicht auf Übernahme durch die Krankenkasse wünscht (Großer Senat, aaO, Rn 48).
5. Schließlich hat die Beklagte mit ihrer Zahlungsverweigerung weder gegen die Zahlungsregelungen im Niedersächsischen Sicherstellungsvertrag noch gegen die Vorschriften der PrüfvV verstoßen.
a) Der zwischen der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und den niedersächsischen Landesverbänden der Krankenkassen geschlossene Sicherstellungsvertrag normiert in § 13 Zahlungsregelungen. Nach § 13 Abs 6 Satz 1 hat die Krankenkasse die Rechnung unverzüglich, spätestens innerhalb von 14 Tagen nach Rechnungsdatum zu bezahlen. Allerdings setzt der Niedersächsische Sicherstellungsvertrag voraus, dass eine Krankenhausbehandlung durchgeführt worden ist. Das ergibt sich sowohl aus § 1 Zweck des Vertrages als auch aus § 3 Notwendigkeit und Durchführung von Krankenhausbehandlung. Im streitbefangenen Behandlungsfall werden die Voraussetzungen einer Krankenhausbehandlung nach den vorstehenden Ausführzungen jedoch nicht erfüllt.
b) Aus dem gleichen Grund findet die PrüfvV keine Anwendung. Abgesehen davon kann es der Krankenkasse nach der Rechtsprechung des BSG nicht verwehrt werden, die Zahlung der Krankenhausvergütung zu verweigern, wenn und soweit für sie feststeht, dass der Vergütungsanspruch nicht besteht (vgl BSG vom 25. Oktober 2016 - B 1 KR 6/16 R - SozR 4-2500 § 109 Nr 59 Rn 17). Die Krankenkasse ist weder verpflichtet, ein Prüfverfahren durchzuführen (vgl BSG, Urteil vom 22. Juni 2022 - B 1 KR 19/21 R - BSGE 134, 172 = SozR 4-2500 § 275 Nr 39, Rn 25 ff) noch muss sie sich auf die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs verweisen lassen. Ihre Einwände gegen den geltend gemachten Vergütungsanspruch kann die Krankenkasse auch noch im Verlaufe eines gerichtlichen Verfahrens spezifizieren (vgl BSG vom 22. Juli 2004 - B 3 KR 20/03 R - SozR 4-2500 § 112 Nr 3 Rn 16). Die Regelungen des kompensatorischen Beschleunigungsgebots bieten insofern keine Grundlage dafür, dennoch Zahlungspflichten - und sei es auch vertraglich - zu begründen (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2023 – B 1 KR 1/23 R – Rn 31).
6. Da der geltend gemachte Vergütungsanspruch nicht besteht, hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf Zahlung von Zinsen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
Der Senat musste sich nicht veranlasst sehen, die Revision nach § 160 Abs 2 SGG zuzulassen, da sich die Entscheidung im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, insbesondere des grundlegenden Urteils des BSG vom 12. November 1985 sowie des Vorlagebeschlusses des Großen Senats vom 7. November 2006 hält. Zudem stellt der streitbefangene Behandlungsfall ausweislich der Stellungnahme des ärztlichen Direktors Prof Dr P. vom 30. Juli 2024 einen besonderen Einzelfall dar, der sich nur selten im klinischen Alltag darstellt, und dem deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zukommt.