L 2 AS 2187/24 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AS 2009/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 AS 2187/24 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. Juli 2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Der Antrag der Antragstellerinnen auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.


Gründe


Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stuttgart vom 10.07.2024 hat keinen Erfolg. Mit diesem Beschluss hat das SG den Antrag der Antragstellerin zu 1, ihr für Mai 2024 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) zu gewähren, abgelehnt.

I.
Die 1998 geborene Antragstellerin zu 1 reiste - mit einem am 06.03.2023 in der Ukraine ausgestellten Reisepass - am 20.03.2023 - nach ihren Angaben aus der Ukraine kommend - zusammen mit ihren beiden Kindern B1, geb. 2013, und B2, geboren 2014, den Antragstellerinnen zu 2 und 3, in das Bundesgebiet ein. Sie waren zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft in der Stadt N1 untergebracht, seit dem 17.08.2023 lebt die Familie in der aktuellen Wohnung in N2. Nachdem sie eine Aufenthaltserlaubnis beantragt hatten, erhielten die Antragstellerinnen am 28.08.2023 eine bis 27.09.2023 befristete Fiktionsbescheinigung. Über die Verlängerung der Fiktionsbescheinigung ist seitens des Landratsamts E1 bisher nicht entschieden worden. Laut Schreiben des Landratsamts E1 - Ausländerbehörde - vom 17.11.2023 bestehe ein ernsthafter Verdacht auf eine unterdrückte ungarische Staatsbürgerschaft (Bl. 169 VA).

Die Antragstellerinnen erhielten bis einschließlich 31.03.2024 vom Antragsgegner Bürgergeld (vgl. Bescheide vom 24.05.2023, Bl. 87 VA, und vom 24.11.2023, Bl. 181 VA).

Den Weiterbewilligungsantrag vom 15.02.2024 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 07.03.2024 (Bl. 226 VA) ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25.04.2024, Bl. 258 VA) und die Antragstellerin zu 1 erhob hiergegen am 24.05.2024 Klage zum SG Stuttgart (- S 20 AS 1961/24 -) und hat am 29.05.2024 dort den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.


II.
Die am 17.07.2024 beim SG gegen den dem Antragstellervertreter am 11.07.2024 gegen elektronisches Empfangsbekenntnis zugestellten Beschluss eingegangene Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.

Der Senat kann hier zunächst offen lassen, ob im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zulässigerweise auch Ansprüche der Antragstellerinnen zu 2 und 3 geltend gemacht werden können. Grundsätzlich dürften die Antragstellerin zu 1 und ihre beiden Kinder zusammen eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 und 4 SGB II bilden, sodass grundsätzlich auch diese in das Verfahren einzubeziehen wären (vgl. BSG Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - juris, Rn. 11 ff.). Allerdings hat der Antragstellervertreter dies in erster Instanz - trotz Hinweis durch das SG - nicht beantragt, sondern erstmals im Beschwerdeverfahren.
Darüber hinaus braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob Streitgegenstand allein der Monat Mai 2024 ist - nur für diesen Monat hatte die anwaltlich vertretene Antragstellerin zu 1 beim SG Leistungen beantragt - oder ob eine Beschwerde der Antragstellerinnen gerichtet auf eine Leistungsgewährung ab Mai 2024, d.h. auch für die folgenden Monate, zulässig ist. Denn grundsätzlich ist ein Beschwerdeverfahren beim Landessozialgericht (LSG) auf die Überprüfung der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschlüsse des erstinstanzlichen Verfahrens beim SG auf seine Richtigkeit und daher grundsätzlich auf den Umfang des erstinstanzlichen Verfahrens begrenzt (Littmann in Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, § 143, Rn. 17, beck-online; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.09.2016 - OVG 10 S 19.16 -, juris, Rn. 26). Eine Beschwerde, die einen neuen, bisher noch nicht geltend gemachten Anspruch zum Gegenstand hat, ist (mangels Beschwer) grundsätzlich unzulässig (vgl. Wehrhahn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., SGG [Stand: 15.06.2022] § 143 SGG, Rn. 15 zum begrenzten Streitgegenstand im Berufungsverfahren).
Letztlich kann der Senat aber offen lassen, ob die Beschwerde, soweit sie Ansprüche der Antragstellerinnen zu 2 und 3 sowie die Monate ab Juni 2024 betrifft, zulässig ist, denn auch unter Einbeziehung dieser Begehren bleibt die Beschwerde ohne Erfolg.

Die Beschwerde ist nämlich nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG] Beschluss vom 02.05.2005 -1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (BVerfG Beschluss vom 14.03.2019 - 1 BvR 169/19 - juris Rn. 15; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 06.09.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - <beide juris> jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Gemessen an diesen Grundsätzen bleibt die Beschwerde der Antragstellerinnen ohne Erfolg. Das SG hat den Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zu Recht abgelehnt.

Hierbei hat das SG zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II - Bürgergeld dargelegt (§ 19 i.V.m. § 7 Abs. 1 SGB II) und zutreffend ausgeführt, dass unabhängig davon, ob ab Mai 2024 überhaupt Hilfebedürftigkeit besteht, eine Leistungsgewährung aufgrund des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 SGB II scheitert. Darüber hinaus kommt - wie das SG zutreffend ausgeführt hat - auch kein Leistungsanspruch nach der Ausnahmeregelung zu den in § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II normierten Leistungsvoraussetzungen und Leistungsausschlüssen des § 74 SGB II in Betracht, da die Antragstellerinnen nicht (mehr) über die nach dieser Norm notwendige Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5, 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verfügen. Dem schließt sich der Senat nach eigener Prüfung uneingeschränkt an und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab (vgl. § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Ergänzend ist auszuführen, dass sich auch nichts anderes aus dem Vortrag im Beschwerdeverfahren ergibt. Die Voraussetzungen des § 74 SGB II liegen hier nicht vor. Die zum 01.06.2022 durch das Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze (BGBl I,760) eingeführte Regelung dient dem Zweck, aus der Ukraine geflüchtete Menschen in den Anwendungsbereich des SGB II zu überführen (BT-Drucks. 20/1768, S. 27) und war das Ergebnis des Ministerialkonferenzbeschlusses vom 07.04.2022, wonach hilfebedürftige Geflüchtete aus der Ukraine wie anerkannte hilfebedürftige Asylsuchende finanziell unterstützt werden sollen (vgl. Nr. 12 des Ministerialkonferenzbeschlusses vom 07.04.2022, abrufbar unter:
https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/2024136/1d72303ae0055656d1ee 8e4b33d18509/2022-04-07-mpk-beschluss-data.pdf?download=1). Danach erhalten abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II auch Personen, die gemäß § 49 AufenthG erkennungsdienstlich behandelt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5, 3 AufenthG ausgestellt worden ist, Leistungen nach dem SGB II.

Die Antragstellerinnen erfüllen diese Voraussetzungen nicht, denn sie verfügen nicht (mehr) über eine gültige Fiktionsbescheinigung. Diese wurde nach Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde nicht verlängert, da ein ernsthafter Verdacht auf eine unterdrückte ungarische Staatsbürgerschaft besteht. Dass die Antragstellerinnen möglicherweise (auch) über eine ukrainische Staatsbürgerschaft verfügen, spielt keine Rolle. Die Leistungsgewährung knüpft in den Fällen des § 74 SGB II gerade nicht an das Bestehen einer bestimmten Staatsbürgerschaft an, sondern verlangt vielmehr, das Vorliegen einer Fiktionsbescheinigung. Auch das Beantragen dieser ist nicht ausreichend, denn der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entscheiden, eine ausgestellte Fiktionsbescheinigung als Leistungsvoraussetzung zu verlangen (vgl. hierzu Wunder in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 74 1. Überarbeitung [Stand: 04.08.2023], Rn. 16, der darauf hinweist, dass im Gesetzgebungsverfahren geprüft worden ist, ob auch unterhalb einer Fiktionsbescheinigung Lösungen denkbar seien, um den Zugang zu Leistungen zu eröffnen. Diesen Vorschlag habe der Gesetzgeber jedoch nicht aufgegriffen.).

Nicht zuletzt haben die Antragstellerinnen auch ihre Hilfebedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht. Auf Nachfrage des Senats haben sie mitgeteilt, dass sie ihren Lebensunterhalt derzeit von Kindergeld und der Unterstützung durch Verwandte bestreiten. In welcher Höhe und in welcher Form (z.B. als Zuschuss oder als Darlehen) sie diese erhalten, haben die Antragstellerinnen aber weder dargelegt noch belegt.

Ob die Antragstellerinnen gegebenenfalls Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) oder auf (Überbrückungs-)Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) haben, braucht vorliegend nicht entschieden werden, da diese hier ausdrücklich nicht begehrt werden.

Aus diesen Gründen ist die Beschwerde zurückzuweisen.


III.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird gemäß § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO abgelehnt. Hinreichende Erfolgsaussichten waren bereits zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung nicht gegeben, wie sich aus dem oben Dargestellten ergibt.


IV.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG)


 

Rechtskraft
Aus
Saved