1. Die Berufung bedarf bei einem Beschwerdewert von bis zu 750 � der Zulassung, auch wenn im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X höheres Arbeitslosengeld II für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr begehrt wird.
2. Mehrere Bewilligungszeiträume werden bei der Bestimmung der Zeitdauer nach § 144 Abs 1 Satz 2 SGG nicht zusammengerechnet (Anschluss an BSG, Urt v 30. Juni 2021, B 4 AS 70/20 R).
Die Berufung wird verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist im Zugunstenverfahren die Gewährung höherer Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis 31. März 2017 durch Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung streitig.
Die 1971 geborene Klägerin und Berufungsklägerin (im weiteren Klägerin) bezog nach der Trennung von ihrem Ehemann ab März 2015 zusammen mit ihrem Sohn als Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen vom Beklagten und Berufungsbeklagten (im weiteren Beklagter). Dieser bewilligte insbesondere Leistungen für die
Zeiträume von August 2015 bis Januar 2016 (Bescheid vom 24. Juli 2015),
von Februar 2016 bis Januar 2017 (Bescheide vom 14. Januar und 24. August 2016) und
von Februar 2017 bis Januar 2018 (Bescheide vom 10. Januar, 23. März, 27. April, 16. Mai 2017).
Mit Schreiben vom 19. April 2017 beantragte die Klägerin die rückwirkende Erbringung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II aufgrund einer chronischen Darmerkrankung. Sie habe ihre Erkrankung bereits im Januar 2016 mitgeteilt und begehre daher rückwirkende Leistungen. Sie reichte mit Schreiben vom 12. Mai 2017 eine ärztliche Bescheinigung nach.
Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 27. Juni 2017 einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung für die Zeit von April bis September 2017 ab. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 20. Juli 2017 und nach Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens bewilligte der Beklagte den Mehrbedarf ab 12. Mai 2017 i.H.v. 40,90 €/Monat (Bescheid vom 11. September 2017). Daraufhin machte die Klägerin mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 gelten, dass der Mehrbedarf rückwirkend ab Januar 2016 begehrt werde. Mit weiterem Bescheid vom 27. Oktober 2017 bewilligte der Beklagte den Mehrbedarf bereits ab dem 1. April 2017.
Die Klägerin beantragte am 26. April 2018 nochmals die rückwirkende Erbringung des Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung. Mit Bescheid vom 20. März 2019 verwies der Beklagte auf die bisherige Leistungsbewilligung und übersandte nochmals die Bescheide ab April 2017. Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2019 zurück. Die Bewilligung des Mehrbedarfs ab April 2017 sei nicht zu beanstanden. Eine rückwirkende Bewilligung ab Januar 2016 könne nicht erfolgen. Es sei weder dargelegt noch nachgewiesen, dass ein Bedarf hinsichtlich einer besonderen Kostform bereits ab einem Beratungsgespräch bei der Arbeitsvermittlung im Januar 2016 bestanden habe.
Die Klägerin hat am 16. Mai 2019 Klage beim Sozialgericht Magdeburg (SG) erhoben. Sie hat weiterhin die Gewährung des Mehrbedarfs geltend gemacht.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 3. Juli 2020 abgewiesen. Es könne nicht festgestellt werden, dass die Nichtgewährung des Mehrbedarfs für Zeiträume vor dem 1. April 2017 fehlerhaft gewesen sei. Die Klägerin habe insbesondere nicht hinreichend dargelegt, dass ihr die besondere Kostform vor ihre Antragstellung im April 2017 bekannt gewesen sei. Das SG ist davon ausgegangen, dass der Gerichtsbescheid mit der Berufung angefochten werden könne.
Gegen das am 14. Juli 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14. Juli 2020 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt.
Sie habe den Antrag auf Erbringung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändigen Ernährung mehrfach beim Beklagten gestellt. Dieser hätte bereits ab der ersten Antragstellung vom 17. März 2015 erbracht werden müssen. Er betrage 10 % des jeweiligen Regelbedarfs. Eine ausreichende Beratung sei trotz ihres Hinweises auf ihre Darmerkrankung im Januar 2016 nicht erfolgt. Der Mehrbedarf müsse auch vor April 2017 geleistet werden, da die Voraussetzungen vorgelegen hätten.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 3. Juli 2020 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 20. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Mai 2019 zu verpflichten, einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung rückwirkend ab der Antragstellung vom 17. März 2015 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Ausführungen im Gerichtsbescheid des SG seien nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf seien für den Zeitraum vor April 2017 nicht nachgewiesen.
Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Schreiben vom 23. März 2023 darauf hingewiesen, dass die Beschwerde nicht zulässig sei, da der Beschwerdewert von 750 € nicht erreicht werde. Die Klägerin habe den Mehrbedarf für den Zeitraum von Januar 2016 bis März 2017 geltend gemacht. Die Beteiligten haben sich hierzu nicht geäußert.
Der Senat hat mit Beschluss vom 14. März 2024 dem Berichterstatter die Berufung nach § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) übertragen.
Die Klägerin hat am 4. April 2024 und der Beklagte bereits am 1. Februar 2024 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte durch den vom Vorsitzenden ernannten Berichterstatter anstelle des Senats (§ 155 Abs. 3, 4 SGG) gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Denn die Streitsache ist tatsächlich und rechtlich einfach. Strittige Rechtsfragen haben die Beteiligten nicht aufgeworfen. Soweit die Würdigung von Tatsachen umstritten ist, handelt es sich um eine einfach gelagerte Sache, weil die Lösung anhand der eingereichten Stellungnahmen und der Verwaltungsakte gefunden werden kann.
1.
Die Berufung ist als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht statthaft ist. Sie bedarf der Zulassung; das SG hat die Berufung aber nicht zugelassen.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf eine Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 € nicht übersteigt. Das gilt gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Der Wert des Beschwerdegegenstands ist danach zu bestimmen, was das SG dem Rechtsmittelführer versagt bzw. auferlegt hat und was von diesem mit seinen Berufungsanträgen zum Zeitpunkt der Einlegung der Berufung weiterverfolgt wird (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 5. August 2015, B 4 AS 17/15 B, juris, Rn. 6). Bei einem unbezifferten Antrag muss das Gericht den Wert ermitteln bzw. anhand des wirtschaftlichen Interesses am Ausgang des Rechtsstreits gemäß § 202 SGG i.V.m. § 3 Zivilprozessordnung (ZPO) schätzen; dabei ist auf die Angaben des Berufungsklägers zumindest solange abzustellen, wie keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Bezifferung mutmaßlich falsch ist (vgl. BSG, Beschluss vom 21. September 2017, B 8 SO 32/17 B, juris, Rn. 9).
Lässt sich nicht feststellen, dass die Voraussetzungen der Berufungsbeschränkung nach § 144 Abs. 1 SGG vorliegen, ist die Berufung nach der Grundregel des § 143 SGG grundsätzlich statthaft (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 144, Rn. 15b). Etwas anderes gilt aber, wenn die Feststellung allein aufgrund fehlenden Vortrags des Berufungsklägers nicht möglich ist, obwohl dieser dazu in der Lage wäre (vgl. Urteil des Senats vom 16. Juli 2015, L 5 AS 16/14, nicht veröffentlicht; Beschluss vom 18. Oktober 2016, L 5 AS 438/16 B, juris, Rn. 16; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 8. Januar 2013, L 11 AS 526/12, juris, Rn. 50; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Januar 2017, L 7 AS 902/16 NZB, juris, Rn. 4; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, a.a.O.).
Vorliegend ist die Klägerin durch den Gerichtsbescheid des SG vom 3. Juli 2020 beschwert, da ihre Klage abgewiesen worden ist. Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 SGG liegen jedoch nicht vor.
a.
Der Beschwerdewert von 750 € nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG wird nicht erreicht.
Der Beklagte hatte dem ursprünglichen Überprüfungsantrag vom 19. April 2017 für die Zeit ab April 2017 entsprochen und Leistungen i.H.v. 40,90 €/Monat hinsichtlich eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung gewährt. Dies erfolgte im Widerspruchsverfahren, in dem die Klägerin ausdrücklich klargestellt hatte, dass sie Leistungen rückwirkend ab Januar 2016 geltend mache.
Mit dem erneuten Überprüfungsantrag vom 26. April 2018 bezog sich die Klägerin auf das frühere Überprüfungsverfahren. Der Beklagte ist daher im Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2019 zutreffend davon ausgegangen, dass die Leistungserbringung rückwirkend ab Januar 2016 geltend gemacht werde. Mangels eindeutiger Antragstellung hat das SG unterstellt, dass die Klägerin im Zugunstenverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) den Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung (jedenfalls) ab Januar 2016 bis März 2017 geltend mache. Dies ist nicht zu beanstanden.
Die Bezugnahme auf den ursprünglichen Überprüfungsantrag spricht dafür, dass eine Begrenzung der rückwirkenden Leistungserbringung hinsichtlich des Mehrbedarfs ab Januar 2016 erfolgt ist. Eine Begrenzung hat die Klägerin eindeutig im Schreiben vom 12. Oktober 2017 vorgenommen. Im zweiten Überprüfungsverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, dass ihrem Begehren aus April 2017 noch nicht vollständig entsprochen worden sei. Sie begehrte eine nochmalige Überprüfung des Überprüfungsbescheids. Damit steht jedoch auch fest, dass für das zweite Überprüfungsverfahren nur der Zeitraum von Januar 2016 bis März 2017 streitgegenständlich sein sollte. Eine anderweitige Antragstellung ist auch im Klageverfahren nicht erfolgt.
Der Beschwerdewert entspricht daher dem Wert des Mehrbedarfs für 15 Monate. Die Klägerin hat die Gewährung des ab April 2017 gewährten Mehrbedarfs auch für die vorangegangenen Zeiträume geltend gemacht. Es ist daher von dem Mehrbedarf i.H.v. 40,90 €/Monat auszugehen. Dies entspricht einem Gesamtwert i.H.v. 613,50 €. Der Beschwerdewert wird jedoch auch dann nicht erreicht, wenn – wie vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin geltend gemacht – für jeden Monat von 10 % des Regelbedarfs ausgegangen würde (12 × 40,40 € + 3 × 40,90 € = 607,50 €).
Dem steht nicht entgegen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erstmals im Rahmen der Berufungsbegründung vom 23. Februar 2021 eine rückwirkende Leistungserbringung bezogen auf eine Antragstellung vom 17. März 2015 geltend gemacht hat. Dies widerspricht dem kompletten vorherigen Akteninhalt und dem von der Klägerin selbst im Rahmen der Antragstellungen und des vorangegangenen Widerspruchverfahrens geäußerten Begehrens. Unabhängig von dem Umstand, dass im Zugustenverfahren nur eine höhere Leistungserbringung für das zurückliegende Jahr erreicht werden kann (§ 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X) ist davon auszugehen, dass die erstmalige Geltendmachung eines Mehrbedarfs bereits ab März 2015 allein dem Umstand geschuldet ist, den Beschwerdewert zu erreichen. Eine derartige Erhöhung des Beschwerdewerts erst in der Berufungsinstanz ist unbeachtlich (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 144, Rn. 20 m.w.N.). Es liegt auch kein Fall vor, in dem das SG über einen falschen Streitgegenstand insbesondere über ein Teil des klägerischen Begehrens nicht entschieden hätte. Aufgrund des Akteninhalts ist die Auslegung des SG, dass der Mehrbedarf ab Januar 2016 geltend gemacht worden ist, zutreffend.
b.
Die Klägerin macht auch keine (höheren) wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG geltend.
Nach der Rechtsprechung des BSG handelt es sich beim Arbeitslosengeld II um eine Sozialleistung in Form einer laufenden Geldleistung, weil diese wiederholt gezahlt werde, gleichartig sei und innerhalb eines Bewilligungszeitraums auf demselben Rechtsgrund beruhe (Beschluss vom 22. Juli 2010, B 4 AS 77/10 B, juris, Rn. 7). Allerdings werden bei der Bestimmung der Zeitdauer nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG mehrere Bewilligungszeiträume weder im Höhenstreit noch im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X zusammengerechnet (BSG, Urteil vom 30. Juni 2021, B 4 AS 70/20 R, juris, Rn. 26 ff.). Dabei ist es unerheblich, ob der Leistungsträger im Überprüfungsverfahren durch getrennte Bescheide hinsichtlich der einzelnen Leistungszeiträume oder mit einem einheitlichen Bescheid entschieden hat (BSG, a.a.O.).
Im vorliegenden Verfahren sind zwar insgesamt 15 Monate betroffen. Diese verteilen sich jedoch auf drei Bewilligungszeiträume (Januar 2016, Februar 2016 bis Januar 2017 und Februar bis März 2017). Der Zeitraum von einem Jahr wird daher – auch unter Zugrundelegung der gesetzlichen Regelung in § 41 Abs. 3 SGB II – nicht überschritten.
Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht dadurch, dass die Klägerin die Überprüfung des Überprüfungsbescheids vom 27. Juni 2017 geltend gemacht hat. Dieses Begehren war auszulegen und zielte letztlich auf die Abänderung der Leistungsbescheide für die geltend gemachten Monate ab.
2.
Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.