L 1 P 2/22

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 21 P 27/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 1 P 2/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Nicht die Schwere der Erkrankung oder Behinderung, sondern allein die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten ist Grundlage der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit. Eine festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit oder auch der GdB von 60 sagt nichts darüber aus, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI gegeben sind.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Bewilligung von Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) nach dem Pflegegrad 2 für die Zeit vom 1. April bis 31. August 2019. Seit dem 1. März 2023 bezieht der Kläger Leistungen nach dem Pflegegrad 2 von der Pflegekasse bei der AOK Sachsen-Anhalt, bei welcher er seit dem 1. September 2019 versichert ist.

Der am ... 1966 geborene Kläger bezieht seit 1. Juli 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Ferner ist ab 23. April 2019 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 anerkannt (1. Seelische Gesundheitsbeeinträchtigung, 2. Schultergelenksprothese links, Bewegungseinschränkung, 3. koronare Herzkrankheit mit Stentimplantation, Bluthochdruck, 4. Schlafapnoesyndrom, 5. Hörstörung, Tinnitus).

Auf den Antrag des Klägers vom 29. April 2019 auf Leistungen der Pflegeversicherung ließ die Beklagte die Pflegefachkraft K. des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung S. e.V. (MDK) das Gutachten vom 3. Juni 2019 nach Hausbesuch erstatten. Als pflegebegründende Diagnosen benannte die Gutachterin Zustand nach Humeruskopf Endoprothese links und Zustand nach ostheosynthetischer Versorgung einer Jochbeinfraktur links mit Fraktur des Orbitabodens. Als weitere Diagnosen teilte sie arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Tinnitus, Hypercholesterinämie, chronische Rückenschmerzen, Angstschmerzen, Nervenengpasssyndrom Nervus ulnaris linker Ellenbogen 2011 mit. Der Kläger habe Angstzustände und Panikattacken einmal im Monat angegeben. Er wende selbst angeordnete Medikamente an. Es bestehe kein Interventionsbedarf. Der Kläger befinde sich momentan (durch Umzug) in keiner fachärztlichen Behandlung. Die Gutachterin ermittelte eine Summe von 20 gewichteten Punkten (1. Mobilität: 0 Punkte, 2. und 3. kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 0 Punkte, 4. Selbstversorgung: 20 Punkte, 5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: 0 Punkte, 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 0 Punkte). Sie gelangte zu einer überwiegenden Selbstständigkeit in den Bereichen 4.4.1 Waschen des vorderen Oberkörpers, 4.4.2 Körperpflege im Bereich des Kopfes, 4.4.3 Waschen des Intimbereichs, 4.4.4 Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, 4.4.5 An- und Auskleiden des Oberkörpers, 4.4.6 An- und Auskleiden des Unterkörpers, 4.4.7 mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, 4.4.10 Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls. Die Gutachterin verneinte eine besondere Bedarfskonstellation. Sie gelangte zu der Einschätzung, dass seit 1. April 2019 der Pflegegrad 1 vorliege.

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 5. Juni 2019 Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 1 ab dem 1. April 2019.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, seine psychischen Defizite seien nicht berücksichtigt worden. Er fügte einen Befundschein von Dipl.-Psych. R. vom 16. Juni 2014 mit den Diagnosen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig, und ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung bei. Es bestehe eine ängstliche depressive Grundstimmung, die sich in allen Lebensbereichen auswirke.

Die Beklagte ließ die Pflegefachkraft H. vom MDK das weitere Gutachten vom 14. November 2019 nach Aktenlage erstatteten. Die Gutachterin ermittelte ebenfalls 20 gewichteten Punkte (für 4. Selbstversorgung). Im Modul 3 seien Ängste mangels Interventionsbedarf nicht bewertet worden. Der Kläger wende selbstständig eine Bedarfsmedikation an.

Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 24. März 2020 den Widerspruch als unbegründet zurück.

Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 22. April 2020 beim Sozialgericht Halle erhobenen Klage gewandt und weiterhin Leistungen nach dem Pflegegrad 2 begehrt. Er hat weiterhin geltend gemacht, dass die Auswirkungen seiner psychiatrischen Erkrankungen nicht berücksichtigt worden seien. Durch seinen Umzug habe er noch keinen neuen Therapeuten gefunden. Die in den Gutachten genannte, ihm verordnete Medikation (Antidepressivum Venlafaxin und begleitende Medikamente, u.a. Sormodren) nehme er zur Abmilderung der Beeinträchtigungen durch die psychische Erkrankung. Ihm seien darüber hinaus keine 3 unabhängigen Gutachter zur Auswahl gestellt worden, obwohl die Begutachtung sei erst über 4 Wochen nach Antragstellung durchgeführt worden sei. Auch rüge er die Bewertung seiner körperlichen Beeinträchtigungen im Modul 4. Die stark eingeschränkte Benutzung des linken Armes nach den beiden Schulter-Operationen und die Folgen der Gesichtsfraktur nach dem häuslichen Unfall vom 20. Februar 2018 hätten keine ausreichende Bewertung gefunden. Er sei 2019 wegen dieses Unfalls nicht in psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Er sei medikamentös eingestellt. Er befinde sich jedoch seit 2020 wieder in psychotherapeutischer Behandlung.

Die Beklagte hat ein „Kurzgutachten“ des MDK nach Aktenlage vom 25. August 2020 vorgelegt. Der Kläger habe sich letztmalig 2014 wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung befunden. Eine Wiedervorstellung seit 2014 könne den Unterlagen nicht entnommen werden. Aus dem Befund des Psychotherapeuten von 2014 könne kein dauerhafter personeller Interventionsbedarf abgeleitet werden. Neurologische Medikamente bzw. Medikamente zur Behandlung von Stimmungsschwankungen würden selbstständig eingenommen. Aus der selbstständigen Einnahme von Psychopharmaka könne kein dauerhafter personeller Interventionsbedarf abgeleitet werden. Die sozialmedizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach dem Pflegegrad 2 seien nicht erfüllt.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des Hausarztes und Facharztes für Allgemeinmedizin R. vom 1. Dezember 2020 eingeholt. Dieser hat eine depressive Stimmungslage, die Symptomatik einer sozialen Phobie und eine ängstliche vermeidende Persönlichkeitsstörung beschrieben. Die psychische Symptomatik bestehe bereits seit der Kindheit und habe sich durch den Unfall am 20. Februar 2018 (Sturz von der Leiter in 4 m Tiefe) verstärkt. Der Hausarzt hat seine Behandlungsdatei und diverse medizinische Befunde beigefügt, u.a. das für die ÖSA Öffentliche Versicherungen Sachsen-Anhalt von dem Facharzt für u.a. Orthopädie, Unfallchirurgie und spezielle orthopädische Chirurgie Dr. W. erstattete Gutachten vom 21. Februar 2020. Nach diesem Gutachten bestünden erhebliche funktionelle Einschränkungen und Beschwerden im linken Schultergelenk und im angrenzenden linken Ellenbogengelenk, zusätzlich eine deutliche Atrophie der Oberarmmuskulatur linksseitig sowie Funktionseinschränkungen im Endglied des 4. Fingers links sowie leichte Beschwerden beim Kauen im Bereich der ehemaligen Oberkieferfraktur.

Dem ebenfalls beigefügten Entlassungsbericht der K.-Klinik über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 27. Dezember 2017 bis zum 30. Januar 2018 ist eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode, zu entnehmen. Der Kläger neige bei ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsdisposition zu einer erhöhten Angstbereitschaft, Besorgtheit, sozialem Unbehagen bei reduzierter Stressreagibilität. In dem Entlassungsbericht der K.-M.-Klinik über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 28. Oktober bis 2. Dezember 2014 sind eine soziale Phobie, eine ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung und eine Dysthymia angeführt. In der Epikrise des Universitätsklinikums H. über den stationären Aufenthalt vom 25. Februar bis 4. März 2019 wird die Implantation einer Schulterprothese links am 26. Februar 2019 angegeben.

Der Kläger hat Bescheinigungen des Dipl.-Psych. R. vom 26. März 2021 und des Dipl.-Psych. M. vom 18. März 2021 über ambulante psychotherapeutische Behandlungen vom 14. Mai 2013 bis zum 31. August 2018 bzw. vom 9. Oktober 2020 bis zum 27. Januar 2021 vorgelegt. Ferner hat er den Entlassungsbericht der Fachklinik für Orthopädie & Schmerztherapie Dr. M. in Bad L. über die medizinische Rehabilitation vom 9. bis 29. April 2019 vorgelegt. Danach habe das psychologische Konsil als Diagnose eine Anpassungsstörung ergeben.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. November 2021 abgewiesen. Der Kläger habe von April bis August 2019 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2. Der Gutachter des MDK habe nachvollziehbar am 3. Juni 2019 keine Einschränkungen im Modul 2 sowie im Modul 3 festgestellt.

Gegen das ihm am 10. Februar 2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. März 2022 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Er habe die psychologische Behandlung aufgrund des Sturzes unterbrochen und im Oktober 2020 wiederaufgenommen. Auch bei der Erwerbsminderungsrente hätten seine psychischen Erkrankungen eine bedeutsame Rolle gespielt. Er hat das Gutachten der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See vom 22. Januar 2020, erstattet von der Fachärztin für Anästhesiologie und Sozialmedizin E., zu den Akten gereicht. Dort sind eine seelische Minderbelastbarkeit bei wiederkehrender depressiver Störung und eine ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 22. November 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm vom 1. April bis 31. August 2019 Leistungen nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und ihren Bescheid für zutreffend.

Der Kläger hat sich am 20. März 2023 und die Beklagte hat sich am 24. März 2023 mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin einverstanden erklärt.

Der Kläger hat mitgeteilt, dass er von der Pflegekasse bei der AOK Sachsen-Anhalt ab 1. März 2023 Pflegegeld nach einem Pflegegrad 2 erhalte. Er hat das Gutachten des Medizinischen Dienstes Sachsen-Anhalt (MD) vom 17. April 2023, erstattet von der Pflegefachkraft W. nach einem Hausbesuch, vorgelegt (Antrag des Klägers vom 2. März 2023). Die Gutachterin ermittelte insgesamt 33,75 gewichtete Punkte (1. Mobilität: 0 Punkte, 2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten und 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 0 Punkte, 4. Selbstversorgung: 20 Punkte, 5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: 10 Punkte, 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 3,75 Punkte im Modul 6).

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt worden und auch statthaft (§ 151 Abs. 1 und § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die Berichterstatterin konnte mit Einverständnis der Beteiligten über den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 155 Abs. 4, § 124 Abs. 2 SGG).

II.

Die Berufung ist aber unbegründet, da der angefochtene Bescheid der Beklagten und das Urteil des Sozialgerichts Halle nicht zu beanstanden sind.

Streitrelevant ist der Zeitraum vom 1. April bis zum 31. August 2019, bis zum Wechsel der Pflegekasse.

Dem Kläger stand in diesem Zeitraum kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XI nach dem Pflegegrad 2 zu.

Pflegebedürftig sind nach § 14 SGB XI i.d.F. ab dem 1. Januar 2017 Personen, die wegen gesundheitlich bedingter Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten der Hilfe durch andere bedürfen. Sie dürfen die körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingten Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss voraussichtlich für mindestens sechs Monate und mit mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen. Maßgeblich sind insoweit gemäß § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten Kriterien: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Kann die Haushaltsführung nicht mehr ohne Hilfe bewältigt werden, wird dies gemäß § 14 Abs. 3 SGB XI bei den Kriterien der o.g. Bereiche berücksichtigt.

Der Pflegegrad wird gemäß § 15 Abs. 1 und 2 SGB XI nach der Schwere der Beeinträchtigungen in sechs Modulen ermittelt, die den sechs Bereichen in § 14 Abs. 2 entsprechen. In jedem Modul sind als Kriterien die in Anlage 1 zum SGB XI dargestellten Kategorien vorgesehen, denen in Bezug auf die einzelnen Kriterien Einzelpunkte zugeordnet werden. Die jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten werden nach den in Anlage 2 zum SGB XI festgelegten Punktbereichen 0 bis 4 gegliedert. Jedem Punkt-bereich in einem Modul werden die in Anlage 2 festgelegten, gewichteten Punkte zugeordnet. Die Module werden unterschiedlich zwischen 10% und 40% gewichtet.

Zur Ermittlung des Pflegegrads sind gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI die Einzelpunkte in jedem Modul zu addieren und dem in Anlage 2 festgelegten Punktbereich sowie den sich daraus ergebenden gewichteten Punkten zuzuordnen. Den Modulen 2 und 3 wird der höchste gewichtete Punkt eines dieser Module zugeordnet. Die Module 7 und 8 (Haushaltsführung und außerhäusliche Aktivitäten) fließen nicht in die Ermittlung der Gesamtpunkte ein (§ 18 Abs. 5a SGB XI). Die gewichteten Punkte aller Module werden zu Gesamtpunkten addiert, auf deren Basis die pflegebedürftigen Personen in einen Pflegegrad einzuordnen sind:

1. ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1 (geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten),

2. ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2 (erhebliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten),

3. ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3 (schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten),

4. ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4 (schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten),

5. ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5 (schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung). Pflegebedürftige mit einem spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf und mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung können dem Pflegegrad 5 zugeordnet werden, auch wenn ihre Gesamtpunkte unter 90 liegen (§ 15 Abs. 4 S. 1 SGB XI).

Bei der Begutachtung werden gemäß § 15 Abs. 5 SGB XI auch Maßnahmen der Behandlungspflege berücksichtigt, wenn dieser Hilfebedarf regelmäßig und auf Dauer untrennbarer Bestandteil einer pflegerischen Maßnahme in den in § 14 Absatz 2 genannten sechs Bereichen ist oder mit einer solchen notwendig in einem unmittelbaren Zusammenhang steht.

1.

Die Pflegekassen beauftragen gemäß § 18 Abs. 1 SGB XI den MDK oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welcher Pflegegrad vorliegt.

Die Begutachtung durch den MDK am 3. Juni 2019 ist entgegen den Ausführungen des Klägers ordnungsgemäß erfolgt. Gemäß § 18 Abs. 3a Satz 1 SGB XI in der vom 1. Juni 2013 bis zum 30. September 2023 geltenden Fassung ist die Pflegekasse verpflichtet, dem Antragsteller mindestens 3 unabhängige Gutachter zur Auswahl zu benennen, soweit nach Abs. 1 unabhängige Gutachter mit der Prüfung beauftragt werden sollen (Nr. 1) oder wenn innerhalb von 20 Arbeitstagen ab Antragstellung keine Begutachtung erfolgt ist (Nr. 2). Gemäß § 18 Abs. 3a Satz 6 SGB XI gilt Satz 1 Nr. 2 nicht, wenn die Pflegekasse die Verzögerung nicht zu vertreten hat. Vorliegend ist der Auftrag beim MDK ausweislich des Gutachtens der Pflegefachkraft K. erst am 3. Mai 2019 eingegangen. Somit hat der MDK die Verzögerung nicht zu vertreten.

2.

Die Feststellung eines Pflegegrads unterliegt den Grundsätzen der objektiven Beweislast. Danach trägt derjenige die Folgen der Nichterweislichkeit einer Tatsache, der daraus ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil herleiten will (vgl. BSG, BSGE 6, S. 70, 72; BSGE 19, S. 52, 53). Dies ist für die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale eines Anspruchs auf Leistungen nach der sozialen Pflegeversicherung grundsätzlich der Versicherte. Hier trägt daher der Kläger die volle Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des streitigen Anspruchs auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2 vom 1. April bis zum 31. August 2019 vorgelegen haben.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe haben die Voraussetzungen für den Pflegegrad 2 in diesem Zeitraum nicht bestanden. Denn der Nachweis im Sinne des erforderlichen Vollbeweises, also der vollen richterlichen Überzeugung, ist hier nicht erbracht. Die Nichterweislichkeit der Anspruchsvoraussetzungen geht nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten des Klägers.

Beim Kläger sind in dem streitigen Zeitraum keine wesentlichen Defizite im Bereich der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten bei den in § 14 Absatz 2 SGB XI genannten Kriterien nachweisbar gewesen, die insgesamt zu mindestens 27 gewichteten Gesamtpunkten geführt hätten.

a.

Im Bereich der Mobilität (Modul 1) lag keine Einschränkung vor, da die körperlichen Funktionen nicht wesentlich beeinträchtigt waren. Der Kläger hat auch diesbezüglich keine Einwände erhoben.

b.

Auch im Bereich kognitive und kommunikative Fähigkeiten (Modul 2) sind zu Recht keine gewichteten Punkte ermittelt worden.

Die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sind (nahezu) unbeeinträchtigt erhalten und eine Einbuße der Selbstständigkeit nicht vorliegend, wenn die Fähigkeit des Erkennens, des Entscheidens oder des Steuerns in Situationen nahezu vollständig vorhanden ist. Größtenteils vorhanden ist die Fähigkeit, wenn sie nur überwiegend vorhanden ist und etwa Schwierigkeiten mit der Bewältigung höherer oder komplexerer Anforderungen bestehen (Begutachtungs-Richtlinien [BRi] F 4.2).

Diese Fähigkeiten waren (nahezu) unbeeinträchtigt erhalten. Der Kläger war vollständig personell/örtlich und zeitlich orientiert. Er war in der Lage, sein Alltagsleben selbst zu gestalten und der Umwelt seine elementaren Bedürfnisse mitzuteilen. Dies zeigt sich auch daran, dass der Kläger das Widerspruchsverfahren ohne Prozessbevollmächtigten führen und sich in seinem Widerspruch mit der Argumentation des MDK-Gutachtens vom 3. Juni 2019 zum Modul 3 auseinandersetzen konnte. Darüber hinaus war er in der Lage, seiner Auffassung nach relevante Unterlagen im Widerspruchsverfahren vorzulegen. Zudem lässt sich eine wesentliche Einschränkung im Bereich der kognitiven Fähigkeiten nicht mit dem Umstand in Einklang bringen, dass der Kläger selbstständig seine Finanz- und Behördenangelegenheiten regelt und seine Tagesgestaltung und Alltagsaktivitäten selbst festgelegt.

c.

Im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) sind zutreffend keine gewichteten Punkte ermittelt worden.

Erfasst werden nur Fälle, die eine personelle Unterstützung erforderlich machen. Entscheidend ist daher, inwieweit die Person ihr Verhalten ohne personelle Unterstützung steuern kann (BRi F 4.3.). Unter „Ängste" i.S.d. Moduls 3 werden ausgeprägte Ängste verstanden, die wiederkehrend sind und als bedrohlich erlebt werden. Die Person hat keine eigene Möglichkeit/Strategie zur Bewältigung und Überwindung der Angst. Die Angst führt zu erheblichen psychischen oder körperlichen Beschwerden, einem hohen Leidensdruck und Beeinträchtigungen in der Bewältigung des Alltags.

In den MDK-Gutachten vom 3. Juni und 24. November 2019 sowie vom 25. August 2020 waren insoweit keine Auffälligkeiten festgestellt worden. Es werden keine Auswirkungen auf die selbstständigen Fähigkeiten in den Modulen 1-6 beschrieben. Der Kläger teilte zwar Angst- und Panikattacken mit, allerdings nur mit einer Frequenz von einmal monatlich. Nach seinen eigenen Angaben in der Klagebegründungsschrift war er medikamentös eingestellt. Er hatte keinen personellen Interventionsbedarf. Dies hinderte ihn auch nicht, uneingeschränkt ohne personelle Unterstützung an Alltagsaktivitäten teilzunehmen.

Abgesehen davon, dass der vom Kläger vorgelegte Befundschein des Dipl.-Psych. R. vom 16. Juni 2014 stammt, ist aus der Tatsache, dass er sich dort vom 14. Mai 2013 bis zum 31. August 2018 in Behandlung befand, kein personeller Interventionsbedarf abzuleiten. Auch bei einer ängstlich depressiven Grundstimmung mit Auswirkung auf alle Lebensbereiche resultiert daraus inzident kein Hilfebedarf in den Modulen 1-6. Insoweit haben die Gutachterinnen des MDK zudem andere Feststellungen getroffen. Auch dem Befundbericht des Hausarztes R. vom 1. Dezember 2020 sind keine im Vergleich zu den MDK-Gutachterinnen abweichende Ausführungen zu entnehmen.

Aus dem Entlassungsbericht der Fachklinik für Orthopädie & Schmerztherapie Dr. M. in Bad L. über die medizinische Rehabilitation vom 9. bis 29. April 2019 ergibt sich nach einem durchgeführten psychologischen Konsil als Diagnose eine Anpassungsstörung. Auch daraus sind keine Schlussfolgerungen auf den Pflegezustand des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum ableitbar.

Desgleichen kann keine häufige Antriebsminderung aufgrund depressiver Stimmungslagen festgestellt werden.

Mangels eingeschränkter Selbstständigkeit bei psychischen Problemlagen ist bei dem Modul 3 kein Hilfebedarf gerechtfertigt.

Zudem spricht die Tatsache, dass bei der späteren Begutachtung des Klägers durch den MD am 17. April 2023 durch die Pflegefachkraft W. im Modul 2 und 3 ebenfalls ein Hilfebedarf verneint wurde und eine Bewertung mit 0 gewichteten Punkten erfolgte, für die Richtigkeit der Bewertung.

Im Übrigen ist nach den BRi bei der Begutachtung zu berücksichtigen, dass nicht die Schwere der Erkrankung oder Behinderung, sondern allein die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten Grundlage der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit sind. Daher begründen z.B. allein das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung allein noch nicht die Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI. Entscheidungen in einem anderen Sozialleistungsbereich über das Vorliegen einer Behinderung oder den Anspruch auf Leistung einer Rente sind ebenfalls kein Maßstab für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit. So sagt die beim Kläger festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. die Tatsache, dass er eine volle Erwerbsminderungsrente bezieht, oder auch der GdB von 60 nichts darüber aus, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI gegeben sind.

Jedenfalls ergeben sich aus dem Gutachten der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See vom 22. Januar 2020 keine Feststellungen, die den MDK-Gutachten entgegenstehende Bewertungen auf Fähigkeitsstörungen des Klägers in den Bereichen Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zuließen. Vielmehr wird in dem psychischen Befund lediglich eine verminderte Schwingungsfähigkeit und eine phasenweise Überforderung des Klägers mitgeteilt. Das Gutachten wurde mit der Zielsetzung erstattet, die qualitative und quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers für Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt festzustellen. Die Gutachterin E. hat zwar auf der Grundlage der Diagnosen einer Seelischen Minderbelastbarkeit bei wiederkehrender depressiver Störung und einer ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung in qualitativer Hinsicht Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das Konzentrations-, Reaktions-, Umstellungs- und Anpassungsvermögen sowie mit regelmäßigem Publikumsverkehr verneint. Daraus sind jedoch keine verlässlichen Aussagen bezüglich einer Einschränkung des Klägers im Modul 3 im streitgegenständlichen Zeitraum abzuleiten.

d.

Für das Modul 4 (Selbstversorgung) sind 20 gewichtete Punkte zutreffend ermittelt worden. Die Gutachterin K. des MDK beschrieb in dem Gutachten vom 3. Juni 2019 noch linksseitig leichte Einschränkungen nach einem Nervenengpasssyndrom des Nervus ulnaris des linken Ellenbogens im Jahr 2011, welches sie als Diagnose anführte. Auch teilte sie Einschränkungen linksseitig im Schultergelenk mit.

Denn die Gutachterin K. hat in ihrem Gutachten aufgrund eigener Beobachtung berichtet, dass der Nackengriff rechts vollständig ausführbar gewesen sei. Der Kläger habe sich mit der rechten Hand am rechten Nackenbereich gekratzt. Links sei der Nackengriff jedoch eingeschränkt und nur bis zum seitlichen Hals realisiert worden. Der Schürzenbundgriff sei rechts bis zum Kreuzbeinbereich, links bis zur Nierengegend geführt worden. Der Hand-Fußkontakt aus der Sitzposition sei rechts bis zu den Zehen möglich gewesen, links nur bis zum Knöchel.

Der Faustschluss sei rechts vollständig, links im Bereich des Zeigefingers leicht geöffnet gewesen. Der Kläger - Rechtshänder - könne Besteck/Becher/Tasse mit rechts halten und zum Mund führen. Mit links könne er kleine Gegenstände greifen und halten. Die grobe Kraft der linken Hand sei reduziert. Der Kläger könne keine Flaschen öffnen und bekomme zeitweise Medikamente nicht aus dem Blister. Er könne Knöpfe/Verschlüsse öffnen und schließen. Der Pinzettengriff sei beidseits möglich. Die Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand seien momentan taub.

In Anbetracht der nur geringen Einschränkungen linksseitig sind die Bewertungen nachvollziehbar, dass sich der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum überwiegend den vorderen Oberkörper und den Intimbereich waschen sowie Körperpflege im Bereich des Kopfes realisierten konnte. Er war zudem überwiegend selbstständig beim Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, beim An- und Auskleiden des Ober- und Unterkörpers. Auch konnte er überwiegend selbstständig seine Nahrung mundgerecht zubereiten und Getränken eingießen sowie die Toilette benutzen. Toilettengänge waren nach den Feststellungen der Gutachterin K. selbstständig möglich. Die Intimhygiene nach Wasserlassen/Stuhlgang sowie das Richtern von Kleidung erfolgte allein, auch nachts. Der Kläger benötige Hilfe bei der Nahrungszubereitung (Öffnen von Flaschen und Lebensmittelverpackungen wie Joghurt sowie Zerkleinern harter Lebensmittel).

Diese Bewertung mit 20 gewichteten Punkten aufgrund 9 Einzelpunkten entspricht exakt der späteren Bewertung durch die Pflegefachkraft W. im Gutachten vom 17. April 2023, die der Kläger nicht angegriffen hat.

Jedenfalls ergeben sich aus dem Gutachten von Dr. W. vom 21. Februar 2020 keine den Bewertungen der MDK-Gutachterin entgegenstehende Feststellungen. In dem Gutachten der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See vom 22. Januar 2020 wurde mitgeteilt: keine Beeinträchtigung der manuellen Geschicklichkeit, Spitzgriff ausführbar, Daumen-Finger-Opponierbarkeit beidseits gegeben, muskuläre Atrophie im Bereich des linken Oberarms, ansonsten keine rentenrelevanten muskulären Seitendifferenzen, normale Beschwielung der Hände. Mit diesen Ausführungen ist jedoch nicht nachgewiesen, dass der Kläger in dem streitgegenständlichen Zeitraum im Modul 4 ausgeprägtere Fähigkeitsstörungen aufgewiesen hätte, als mit den Feststellungen der MDK-Gutachterinnen belegt.

e.

Die Bewältigung von und der selbstständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (Modul 5) war ebenfalls nicht erkennbar beeinträchtigt. Auch hier ist zu bewerten, ob die Person die erforderliche jeweilige Aktivität praktisch durchführen kann oder ob sie der Hilfe durch andere Personen bedarf (BRi F 4.5).

Ein höherer Hilfebedarf durch Dritte als für das jeweils wöchentliche Bereitstellen der Medikamentenbox und der Bedarfsschmerzmedikation war hier nicht gegeben. Dafür war eine Bewertung mit 0 gewichteten Punkten gerechtfertigt.

Insoweit hat der Kläger in der Berufungsschrift auch keine Einwände gegen die Feststellungen der MDK-Gutachterinnen erhoben.

f.

In Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) lässt sich ebenfalls kein Hilfebedarf durch Dritte feststellen.

Der Kläger konnte seinen Tagesablauf ohne personelle Unterstützung durch Dritte nach seinen Gewohnheiten und Vorlieben einteilen und bewusst gestalten. Die zeitliche und örtliche Orientierung war uneingeschränkt vorhanden. Er ging verschiedenen Alltagsaktivitäten nach und benötigte dafür weder Erinnerungen noch Unterstützung.

Es gibt auch kein Hinweis darauf, dass der Kläger nicht in der Lage gewesen wäre, längere Zeitabschnitte überschauend über den Tag hinaus zu planen.

Die Interaktion mit Personen im direkten Kontakt und die Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds gelang ihm. Er konnte seine Bedürfnisse unmittelbar äußern. Denn dazu gehört auch die Fähigkeit, mit technischen Kommunikationsmitteln wie Telefon und brieflicher oder elektronischer Kommunikation umzugehen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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