L 6 SB 160/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 21 SB 1043/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SB 160/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 04.04.2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 30.

 

Der 0000 geborene Kläger leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung (Asperger-Syndrom). Nach Erwerb seines Hauptschulabschlusses absolvierte er in den Jahren 2019 bis 2022 eine Ausbildung zum Zimmerer. Anschließend besuchte er die Meisterschule in I., wo er ein Zimmer bei einem älteren Ehepaar bewohnte. Seit Abschluss der Meisterschule wohnt er wieder im Haushalt seiner Eltern. Derzeit ist er arbeitsuchend und bezieht Arbeitslosengeld.

 

Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin stellte bei dem Kläger zunächst mit Bescheid vom 19.04.2010 einen GdB von 50 fest (Erstantrag vom 15.12.2009). Den hiergegen erhobenen Widerspruch begründeten seine Eltern damit, dass er hauptsächlich im psychosozialen Bereich und im Bereich der Wahrnehmung Einschränkungen habe. Diese erforderten sowohl ihre ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung als auch Betreuung und Anleitung in zahlreichen Belangen des täglichen Lebens. Insbesondere in neuen Situationen werde der Kläger fortlaufend unsicher und ängstlich sowie in seiner Urteilsfähigkeit stark beeinträchtigt. Er habe dann kein Handlungsmuster, auf das er zurückgreifen könne. Er könne Mimik, Gestik, Körpersprache und andere Signale nur eingeschränkt wahrnehmen und interpretieren. Außerhalb der Familie bewege er sich ausschließlich in geschützten Gruppen. Er habe kein Gefahrenbewusstsein und könne seinen Schulweg nicht alleine bewältigen. Selbst in Begleitung bringe er sich und andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr. Im Umgang mit anderen Menschen benötige er permanente Hilfestellung und Anleitung. Seine Kleidung müsse täglich herausgelegt werden, beim Anziehen benötige er Anleitung. Er sei etwa nicht in der Lage, eine Schleife zu binden und könne nicht alleine duschen oder baden, weil er sonst Panik bekomme. Er könne sich nicht die Haare waschen und müsse auch sonst beim Waschen und Zähneputzen angeleitet werden. Zudem müsse er mehrmals am Tag daran erinnert werden, zur Toilette zu gehen. Er könne nicht mit Messer und Gabel essen oder sich ein Brot schmieren. Er vergesse auch, ausreichend zu trinken.

 

Daraufhin stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin nach Beiziehung einer gutachtlichen Stellungnahme der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Y. vom 15.09.2010 mit Teilabhilfebescheid vom 21.09.2010 ab Januar 2005 einen GdB von 80 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen B, G und H fest.

 

Im Jahr 2014 leitete der Beklagte, in dessen Zuständigkeitsbereich der Kläger mit seiner Familie zwischenzeitlich verzogen war, ein Nachprüfungsverfahren ein. Im Dezember 2014 übersandte die Mutter des Klägers das von dem Beklagten zur Verfügung gestellte Formular zur Nachprüfung sowie u. a. die von der privaten Pflegeversicherung in Auftrag gegebenen Pflegegutachten aus den Jahren 2012 und 2014, in denen das Vorliegen der Voraussetzungen für die Pflegestufe I bei dem Kläger festgestellt worden war. Mit Schreiben vom 29.01.2015 teilte der Beklagte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme mit, dass es bei der bisherigen Feststellung verbleibe.

 

Im Januar 2020 leitete der Beklagte ein weiteres Nachprüfungsverfahren ein. Ergänzend zu den Angaben in dem Formular zur Nachprüfung führte die Mutter des Klägers in diesem Zusammenhang aus, in Bezug auf die Integration des Klägers in das gesellschaftliche Leben habe sich nicht viel verändert. Sein Schulalltag sei aufgrund fehlender Sozialkompetenz und mangelnder Fähigkeit, seinen Alltag zu organisieren, stark eingeschränkt. Dazu komme die eingeschränkte Mimik und die Unfähigkeit, in der Mimik anderer deren Gefühle zu erkennen. Er habe bis Juli 2019, ab der Wiederholung der fünften Klasse, eine Inklusionsklasse des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in S. besucht. Trotz dieser besonderen Beschulung sei der Schulbesuch jedoch durch permanente Konflikte mit anderen Schülern und Lehrern geprägt gewesen. Er habe bis zuletzt keinen Anschluss in der Schule gehabt. Nach der zehnten Klasse sei er mit einem Hauptschulabschluss vom Gymnasium abgegangen, weil die nicht lösbaren Konflikte für ihn unerträglich gewesen seien. Im August 2019 habe er eine Ausbildung zum Zimmerer begonnen. Es falle ihm weiterhin schwer Kontakt zu den Kollegen oder den anderen beiden Lehrlingen aufzubauen. Er habe weiterhin Probleme mit der Organisation. Er sei nicht in der Lage, im Blick zu behalten, wann er Berufsschule habe. Er benötige Unterstützung bei der Organisation des Schulalltags und viele Pausen. Sowohl nach einem Schultag als auch nach der Arbeit im Betrieb müsse er sich meist bis zum Abendessen von den vielen Reizen erholen und ausruhen. Er sei oft nicht in der Lage, einen kompletten Schultag zu schaffen, und habe während des Unterrichts so starke Kopf- oder Bauchschmerzen bekommen, dass er abgebrochen habe. Eine ärztliche Abklärung habe wiederholt ergeben, dass diese Beschwerden psychosomatisch seien. Hierdurch entstünden Folgeprobleme. Er nehme wegen seiner Reizfilterschwäche und wegen seiner eingeschränkten Sozialkompetenz an keinen Partys oder sonstigen lauten Veranstaltungen teil. Sein derzeitiger Kontakt beschränke sich auf zwei Freunde, mit denen er sich zu Hause treffe und Computerspiele spiele. Für Vereinssport fehle ihm die nötige Sozialkompetenz und Selbständigkeit. Kleidung werde im Online-Handel gekauft. Einkaufszentren oder Innenstädte seien für ihn zu unübersichtlich. Bei Arztbesuchen sei es ihm oft nicht möglich, sein Leiden so vorzutragen, dass er verstanden und ernstgenommen werde. Er habe über ein Jahr dafür gebraucht, in die örtliche Fahrschule zu gehen und die nötigen Formulare für die Anmeldung zu besorgen. Er sei nur mit Hilfe in der Lage, selbstständig zum Betrieb oder zur Berufsschule zu fahren. Im ÖPNV benötigte er sehr genaue Angaben und sei auf pünktliche Verkehrsmittel angewiesen. Sobald eine S-Bahn oder ein Bus ausfalle oder sich verspäte, sei er hilflos und brauche genaue telefonische Anweisungen, wie er nun weiterfahren solle. Auch im häuslichen Leben sei er eingeschränkt und benötige viel Unterstützung. Er müsse etwa physisch geweckt werden und vergesse zu frühstücken. Das Essen für die Schule bzw. den Betrieb müsse ihm zubereitet werden. Auch im häuslichen Umfeld komme es immer wieder zu Konflikten, weil er sich nicht adäquat mitteilen und die Mimik der anderen Familienmitglieder nicht erkennen könne.

 

Nach Aufforderung des Beklagten übersandte die Mutter das Schulabgangszeugnis des Klägers nach der Klasse zehn vom 00.00.0000 und teilte mit, dass er sich aktuell nicht in ärztlicher Behandlung befinde. Er sei zwischenzeitlich von der Pflegeversicherung von der Pflegestufe I in den Pfleggrad 3 überführt worden.

 

Ausgehend von einer gutachtlichen Einschätzung des Privatdozenten und Arztes T. vom 06.08.2020 hörte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 19.08.2020 zu einer beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 30 und der Entziehung der Merkzeichen B, G und H an. Die Beeinträchtigung „Autismus“ habe sich gebessert. Er habe den Hauptschulabschluss erworben und nunmehr eine Lehre als Zimmerer begonnen. Eine ärztliche Behandlung finde nicht statt, aktuelle Befundunterlagen lägen nicht vor. Daher sei von einer weitgehenden Besserung auszugehen.

 

Mit Bescheid vom 23.09.2020 hob der Beklagte die bisherige Festsetzung (Bescheid vom 21.09.2010) teilweise auf und setzte den GdB auf 30 herab. Zudem stellte er fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B und H nicht mehr vorlägen. Der Grad der Behinderung sei nun niedriger zu bewerten. Die Auswirkungen der Beeinträchtigung „Autismus“ hätten sich gebessert. Merkzeichen stünden ihm nicht mehr zu, weil sein GdB niedriger bewertet worden sei und nicht mehr wenigstens 50 betrage. Ein Zugangsnachweis für diesen Bescheid liegt dem Beklagten nicht vor.

 

Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 26.10.2020 begründete der (anwaltlich vertretene) Kläger damit, dass sich hinsichtlich des gesundheitlichen Zustandes keinerlei Veränderung ergeben habe. Er sei inzwischen lediglich volljährig geworden. Von dem Beklagten sei darzulegen, wie er zu der Annahme gelange, dass er um einen GdB von 50 gesundet sei und die Voraussetzungen der Merkzeichen nicht mehr vorlägen.

 

Auf Anraten des beratenden Arztes U. veranlasste der Beklagte im Februar 2021 zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes die persönliche Untersuchung des Klägers durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie G.. Dieser übersandte unter Hinweis darauf, dass der Kläger eine bereits anberaumte Untersuchung mit der Begründung abgesagt habe, dass er nur Termine nach 17 Uhr wahrnehmen könne, die Akte zurück. Auf schriftliche Nachfrage bei dem Kläger, ob er grundsätzlich bereit sei, sich einer versorgungsärztlichen Untersuchung zu unterziehen (Schreiben vom 25.03.2021), erfolgte keine Reaktion.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.05.2021 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch zurück. Der Kläger sei der Bitte, sich ärztlich begutachten zu lassen, nicht nachgekommen. Daher habe der Herabsetzungsbescheid nur anhand der vorliegenden Akten überprüft werden können. Danach sei die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.

 

Am 23.06.2021 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Köln erhoben. Keinesfalls verweigere er eine Begutachtung. G. habe die Bitte der Mutter, die Begutachtung auf einen Nachmittag zu verschieben, abgelehnt. Der Kläger habe sich tagsüber entweder in der Berufsschule oder in der Ausbildungsstätte aufgehalten. Er leide an einer starken Form des Autismus. Autismus könne sich nicht bessern.

 

Der Kläger hat in der sinngemäßen Fassung seines Begehrens durch das SG beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 zu verpflichten, den Grad der Behinderung auf 80 zu belassen bzw. ihm diesen zu zuerkennen und ihm auch weiterhin die Merkzeichen G, B und H zuzuerkennen.

 

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

Er hat im Wesentlichen auf den aus seiner Sicht zutreffenden angefochtenen Bescheid verwiesen.

 

Das SG hat zunächst einen Befundbericht eingeholt bei der Ärztin für Allgemeinmedizin F. vom 22.09.2021. Es hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie L. vom 29.12.2022. Dieser hat in seinem Gutachten nach entsprechender Befragung und Untersuchung des Klägers am 14.11.2022 (im Beisein der Mutter) ausgeführt, dass bei dem Kläger diagnostisch ein Asperger-Syndrom im Sinne einer Autismus-Spektrum-Störung vorliege. An verschiedenen Stellen seien Schwierigkeiten in der Interaktion und Kommunikation deutlich. Das Hineinversetzen in andere Personen oder das Erleben der inneren Zustände anderer Personen sei erheblich eingeschränkt und gelinge auch bei den engsten Bezugspersonen nicht ohne Anstrengung. Das Interesse an anderen Menschen sei reduziert. Private Kontakte könnten nur zu sehr wenigen Freunden zugleich aufrechterhalten bleiben. Die soziale Teilhabe sei eingeschränkt. Die diagnostisch ebenfalls relevanten repetitiven und stereotypen Verhaltensweisen stünden derzeit im Hintergrund und führten nicht zu einer substantiellen Funktionsstörung. Seit September 2020 lägen leichte soziale Anpassungsstörungen vor. Die Integration in das allgemeine soziale Leben im Sinne der gesellschaftlichen oder sozialen Teilhabe sei durch die sozialen Funktionsstörungen beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigung erreiche aber nicht das Ausmaß mittlerer sozialer Anpassungsstörungen. Der GdB sei mit 30 einzuschätzen. Im Vergleich zu dem ärztlichen Gutachten vom 15.09.2010, dem der Bescheid vom 21.09.2010 entsprochen habe, sei heute eine erhebliche Besserung im Sinne eines erfreulichen Verlaufs der Autismus-Spektrum-Störung festzustellen. Unterstützung durch Arbeitstrainer oder Integrationshelfer analog der damaligen Schulbegleitung seien nicht erforderlich. Der Kläger habe ohne Unterstützung eine Berufstätigkeit aufgenommen, eine Berufsausbildung abgeschlossen und bereite sich auf eine Meisterschule in seinem Handwerk vor. In geringem Umfang sei es ihm möglich, Freundschaften zu pflegen. Eine Partnerschaft zusammen mit wenigen Freundschaften könne nicht geführt werden. Daraus resultierten Einschränkungen in der gesellschaftlichen Teilhabe im Sinne leichter sozialer Anpassungsstörungen.

 

Der Kläger hat dagegen eingewandt, dass eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung nicht zu einer lediglich leichten Anpassungsstörung führen könne. Es fehle das Vermögen, mit anderen Menschen sozialadäquat umzugehen, insbesondere eine normale Beziehung (partnerschaftlicher oder freundschaftlicher Natur) einzugehen. Der GdB betrage zumindest noch 50.

 

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 04.04.2023 die Klage abgewiesen. Bei dem Kläger sei im Vergleich zum Bescheid vom 21.09.2010 eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen im Sinne einer Besserung eingetreten. Die Funktionsstörungen bedingten jetzt einen GdB von 30. Nach Teil B Ziffer 3.5.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) gemäß der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) betrage der GdB bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten 30 bis 40, mit mittleren Anpassungsschwierigkeiten 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis100. Derzeit lägen bei dem Kläger nur leichte soziale Anpassungsstörungen vor. Zur Begründung hat sich das SG im Wesentlichen die Ausführungen des Sachverständigen zu eigen gemacht. Aus den Einwänden des Klägers gegen das Gutachten ergebe sich keine andere Beurteilung. Denn diese beachteten die dezidierten Vorgaben nach Teil B Ziffer 3.5.2 VMG für die Bewertung von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (wie Asperger-Syndrom u. a.) nicht. Grundsätzlich sei im Schwerbehindertenrecht auch nicht die Gesundheitsstörung als solche zu bewerten, sondern die sich hieraus ergebenden funktionellen Ausfälle bzw. Einschränkungen in Bezug auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Bei dem Kläger sei die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zweifellos beeinträchtigt, aber nur in leichterem Umfang, weil seine soziale Integration inzwischen ohne umfassende Unterstützung durch Dritte (Integrationshelfer o. ä.) möglich sei. Auch lägen die Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen G, B und H nicht mehr vor, weil bei dem Kläger bereits kein GdB von mindestens 50 (Schwerbehinderteneigenschaft) mehr feststehe.

 

Gegen den ihm am 04.05.2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 30.05.2023 Berufung eingelegt. Eine wesentliche Besserung sei auch nach dem Gutachten des L. nicht belegt. Das Sachverständigengutachten lasse wesentliche Elemente der Anpassungsstörung aufgrund des Asperger-Syndroms außer Acht. Zudem differenziere es nicht zwischen den privaten, beruflichen und sozialen Bereichen, in denen der Kläger umfassend beeinträchtigt sei. Hinzu kämen bisher nicht berücksichtigte psychische Beeinträchtigungen, die nicht mit den Auswirkungen des Asperger-Syndroms zusammenhingen, mit diesem aber in steigender Wechselwirkung stünden. Er habe jahrelang auf einer Warteliste für eine Autismus-Therapie gestanden und nie einen Platz bekommen. Er habe einen IQ von über 120. Ohne seine Behinderung hätte er ohne weiteres Abitur machen und studieren können. Der erreichte Hauptschulabschluss sei insofern keinesfalls als Erfolg zu sehen. Die von dem Sachverständigen wiedergegebene Lebensgeschichte sei teilweise nicht korrekt. Er sei frustriert von der Schule abgegangen. Die Lehrstelle zu der Ausbildung zum Zimmerer habe er über die Kontakte von Nachbarn erhalten. Bei dem Vorstellungsgespräch habe seine Mutter ihn begleitet. In der Schule und im Betrieb sei er weiterhin isoliert gewesen. Nachdem ihm gekündigt worden sei, hätten seine Eltern dafür Sorge getragen, dass er die Ausbildung auch ohne Tätigkeit in einem Betrieb habe beenden können. Alleine sei er zu derartigen Schritten nicht in der Lage. Die Familie habe ihn bei der Ausbildung unterstützt. Alleine hätte er die Ausbildung nicht geschafft. Auch für die Meisterschule in I. habe er umfassende Unterstützung erhalten, die einer Hilfestellung durch einen sozialen Integrationshelfer zumindest gleichkomme. Seine Eltern hätten mit ihm ein Zimmer bei einem älteren Ehepaar ausgesucht, so dass er jederzeit dort einen Ansprechpartner vor Ort gehabt habe. Er sei am Wochenende mit Essen versorgt worden, sodass er insoweit nur zwei Tage selbst habe überbrücken müssen. Die Wäsche habe er jedes Wochenende freitags mitgebracht. Seine Eltern und die ältere Schwester würden die Rolle einer Eingliederungshilfe übernehmen. Auch würden seine Eltern weiterhin mit ihm Kleidung kaufen gehen. Er ertrage viele Stoffe nicht an seiner Haut. Ein Erwachsenwerden sei mit dieser Funktionsstörung nicht möglich. Er müsse jetzt eine geeignete Arbeitsstelle finden. Auch hierbei sei er wieder auf die familiäre Unterstützung angewiesen. Er sei auch nicht in der Lage, alleine in einer Wohnung zu leben. Die Führung eines eigenen Haushalts sei undenkbar. Eine Liebesbeziehung sei ihm zu komplex. Es sei unakzeptabel, wenn die erheblichen Beeinträchtigungen nur aufgrund der fehlenden Eingliederungshilfe nicht anerkannt würden. Dies blende die tatsächlichen Probleme aus und ignoriere die massive Unterstützung durch die Familie. Auch dass er eine Regelschule besucht habe, sei kein Indiz dafür, dass er nicht erheblich beeinträchtigt sei. In der Pubertät habe er die Hilfe seiner Eltern abgelehnt und während der Ausbildung diese wieder angenommen. Aktuell benötige er Hilfe in allen Lebensbereichen, weil seine Einschränkungen erheblich seien.

 

In der mündlichen Verhandlung am 22.02.2024 hat der Beklagte den Bescheid vom 23.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 dahingehend abgeändert, dass die Herabsetzung erst mit dem 26.10.2020 wirksam wird. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen.

 

Nach Beschränkung seines Berufungsbegehrens auf die Herabsetzung des GdB beantragt der Kläger,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 04.04.2023 zu ändern und den Bescheid vom 23.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 in Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 22.02.2024 aufzuheben, soweit darin der GdB von 80 auf weniger als 50 herabgesetzt wird.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er verweist zur Begründung auf die Ausführungen in dem angefochtenen Gerichtsbescheid.

 

In einem Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 19.10.2023 hat der Kläger erklärt, sein Vorgesetzter bzw. Ausbilder habe ihm im Februar 2022 gekündigt. Hintergrund sei seine Nachbarschaftshilfe bei Dacharbeiten gewesen. Der Umgang mit Problemen falle ihm schwer. Die Meisterschule habe er in Vollzeit besucht. Dort habe er sich gut zurechtgefunden. Zu den Lerngruppen und Freundeskreisen habe er jedoch nicht dazugehört. Er habe aber nichts dagegen gehabt, weil er am besten alleine lerne. Die Pausen alleine verbracht zu haben, habe ihn auch nicht gestört. Er verspüre einen inneren Druck, wenn der Lärm nicht gleichbleibend sei. Grundsätzlich könne er öffentliche Verkehrsmittel nutzen, er vermeide diese jedoch so gut es gehe. In Stresssituationen falle es ihm schwer, zum richtigen Gleis zu kommen. Er sei aber zu keinem Zeitpunkt gestrandet. Er ekle sich vor den Sitzen und den dortigen Keimen. Er sei auch zur Meisterschule mit dem Auto gefahren.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

A) Die mangels einer Berufungsbeschränkung aus § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach § 143 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

 

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 04.04.2023 der Anspruch des Klägers auf Aufhebung des Herabsetzungsbescheides vom 23.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 und des Teilanerkenntnisses vom 22.02.2024 (§ 95 SGG), soweit der GdB von 80 auf unter 50 herabgesetzt wird. Sein Begehren bezüglich der Entziehung der Merkzeichen G, B und H verfolgt der Kläger nicht mehr weiter.

 

II. Die nach § 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Var. SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Anfechtungsklage – der erstinstanzlich unzutreffend formulierte Verpflichtungsantrag war zu korrigieren – gegen die Herabsetzung des GdB auf unter 50, deren Erfolg die ursprüngliche Festsetzung des GdB insoweit wiederaufleben ließe, ist unbegründet.

 

Der Kläger ist durch den Bescheid vom 23.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 und des Teilanerkenntnisses vom 22.02.2024 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil der angefochtene Bescheid nach dem Teilanerkenntnis des Beklagten rechtmäßig ist.

 

Der Beklagte hat den GdB des Klägers auf der Grundlage der maßgeblichen Verhältnisse bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 20.05.2021 zu Recht auf 30 herabgesetzt. Die ursprüngliche, sich aus der rückwirkenden Aufhebung ergebende teilweise Rechtswidrigkeit des Herabsetzungsbescheides hat er durch sein Teilanerkenntnis beseitigt (dazu näher unter 3. a)).

 

1. Rechtsgrundlage für die Herabsetzung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

 

2. Formellen Bedenken begegnet die angefochtene Entscheidung nicht, da der örtlich und sachlich zuständige Beklagte den Kläger vorab ordnungsgemäß angehört und seinen Bescheid ausreichend begründet hat (§ 24 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 SGB X).

 

Dass der Kläger während des Klageverfahrens nach I. verzogen war, ist verfahrensrechtlich nicht von Bedeutung. Dies gilt zum einen deshalb, weil in dem hier vorliegenden Fall einer Anfechtungsklage ein Zuständigkeitswechsel unbeachtlich ist (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 05.07.2007, B 9/9a SB 2/06 R, juris Rn. 14). Zum anderen wohnt der Kläger jedenfalls inzwischen wieder in seinem Elternhaus und damit im Zuständigkeitsbereich des Beklagten, so dass ein etwaiger Zuständigkeitswechsel überholt wäre.

 

3. Die materiellen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X waren in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung insoweit erfüllt, als eine Herabsetzung für die Zukunft verfügt wurde.

 

a) Soweit der Bescheid auch eine Herabsetzung für die Vergangenheit, d. h. für die Zeit vom 23.09.2020 bis zur Bekanntgabe und damit dem Wirksamwerden der Herabsetzungsentscheidung, vorsah, lagen die materiellen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht vor. Denn die Regelung erlaubt lediglich eine Aufhebung für die Zukunft (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 31). Der Beklagte hat diese Teilrechtswidrigkeit allerdings durch sein Teilanerkenntnis vom 22.02.2024, welches der Kläger angenommen hat, behoben, weil der Bescheid vom 23.09.2020 jedenfalls am 26.10.2020 – dem Tag der Einlegung des Widerspruches – bereits bekannt gegeben war.

 

Die (Teil-)Rechtswidrigkeit der Aufhebung für die Vergangenheit steht der Rechtmäßigkeit und damit dem Fortbestand der Herabsetzungsentscheidung für die Zukunft nicht entgegen. Denn der Herabsetzungsbescheid vom 23.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 ist nach seinem Inhalt teilbar (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 23 ff.). Ein Verwaltungsakt kann dann teilweise aufgehoben werden, wenn ein (aufzuhebender) Teil der durch ihn getroffenen (Gesamt-)Regelung in einer Weise tatsächlich und rechtlich abgetrennt werden kann, welche die verbleibende(n) (Teil-)Regelung(en) für sich allein genommen logisch sinnvoll und rechtmäßig fortbestehen lässt (lassen). So ist es zumindest dann, wenn die erlassende Behörde den verbleibenden Verwaltungsakt von vornherein ohne den gesondert aufgehobenen Teil rechtmäßig hätte erlassen können und dürfen, wenn also von Anfang an eine Vergünstigung oder ein Eingriff auch in geringerer Höhe oder Dauer möglich (gewesen) wäre (BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 26 m. w. N.). Das ist hier der Fall. Der Bescheid enthält die Feststellung, dass der GdB 30 (statt 80) betrage, und die weitere auszulegende Bestimmung, dass die Entscheidung ab dem 23.09.2020 gelten soll, als zwei verschiedene Verfügungssätze. Der Herabsetzungsbescheid ist teilbar, weil der Zusammenhang zwischen den Verfügungssätzen logisch und rechtlich auflösbar ist. Der Restverwaltungsakt, der nach Teilaufhebung für die Absenkung des GdB verbleibt, kann für sich genommen rechtmäßig bestehen bleiben (BSG, Urteil vom 16.12.2021, B 9 SB 6/19 R, juris Rn. 31).

 

b) Die angefochtene Entscheidung ist im Übrigen, d. h. mit Blick auf die Herabsetzung für die Zukunft (ab dem 27.10.2020), rechtmäßig.

 

aa) Bei der Feststellung des GdB von 80 im Bescheid vom 21.09.2010 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung i. S. v. § 48 SGB X. Aus dem insofern maßgeblichen Verfügungssatz ergibt sich die unbefristete Feststellung eines GdB von 80 ab Januar 2005.

 

bb) Die tatsächlichen Umstände, die Grundlage für die Feststellung des GdB von 80 gewesen sind, haben sich entgegen der Auffassung des Klägers wesentlich geändert. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Ziffer 7a Satz 1 VMG und etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 26; BSG, Urteil vom 11.11.2004, B 9 SB 1/03 R, juris Rn. 12 m. w. N.).

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) in der seit dem 01.01.2018 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX).

 

Dabei sind für die Bewertung der festgestellten Gesundheitsstörungen seit dem 01.01.2009 ausschließlich die zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG erlassene VersMedV vom 10.12.2008 (Bundesgesetzblatt I 2008, S. 2412) sowie die Anlage zu § 2 VersMedV, die VMG heranzuziehen, welche an die Stelle der bis zum 31.12.2008 maßgeblichen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) getreten sind und gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX gelten, soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist.

 

Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist dabei in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 09.12.2010, B 9 SB 35/10 B, juris Rn. 5 m. w. N.; BSG, Urteil vom 27.10.2022, B 9 SB 4/2, juris Rn. 21 m. w. N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009, B 9 SB 4/08 R, juris Rn. 18 m. w. N.). Außerdem sind nach Teil A Ziffer 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil vom 02.12.2010, B 9 SB 4/10 R, juris Rn. 25; vgl. zum Ganzen auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.06.2012, L 13 SB 127/11, juris Rn. 42 ff., und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013, B 9 SB 69/12 B, juris Rn. 8 ff.).

 

Maßgebender Beurteilungs-/Vergleichszeitraum der Rechtmäßigkeit der GdB-Herabsetzung ist hier die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 54 Rn. 33 m. w. N.; BSG, Urteil vom 15.06.2023, B 9 SB 2/22 R; Urteil vom Urteil vom 27.10.2022, B 9 SB 1/20 R; Urteil vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96; Urteil vom 12.11.1996, 9 RVs 5/95; Beschluss vom 11.05.2021, B 9 SB 65/20 B) im Vergleich zu der Sach- und Rechtslage bei Erlass des Bescheides vom 21.09.2010. Das Schreiben vom 29.01.2015 traf in dieser Hinsicht keine erneute Regelung und kommt daher nicht als Anknüpfungspunkt in Betracht.

 

Die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers haben sich in diesem Zeitraum wesentlich gebessert. Sie rechtfertigten nur noch einen Gesamt-GdB von 30. Dabei ist im Ausgangspunkt der Vollständigkeit halber festzuhalten, dass keinerlei Anhaltspunkte dafür aus den Akten erkennbar sind, geschweige denn vorgetragen wurden, dass sein Gesundheitszustand im Jahr 2010 die Feststellung eines GdB von 80 nicht gerechtfertigt hätte und damit ggf. eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung nach § 45 SGB X zu erfolgen hätte.

 

(1) Die Beeinträchtigungen des Klägers mit Blick auf das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche sind (bezogen auf Mai 2021) mit einem GdB von 30 zu bewerten.

 

Nach Teil B Ziffer 3.5.1 VMG sind tief greifende Entwicklungsstörungen (insbesondere frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Asperger-Syndrom) ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 10 bis 20, mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 30 bis 40, mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 80 bis 100 zu bewerten.

 

Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen nach Teil B Ziffer 3.5.1 VMG insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie z. B. Regel-Kindergarten, Regel-Schule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (z. B. durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (z. B. einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.

 

Bei dem Kläger liegt eine tief greifende Entwicklungsstörung mit Anpassungsschwierigkeiten vor. Das Ausmaß der Anpassungsschwierigkeiten hat sich jedoch zwischenzeitlich deutlich gebessert. Denn während der Kläger noch im Jahr 2010 nahezu kein Gefahrenbewusstsein sowie massive Orientierungsprobleme hatte, der ständigen Überwachung sowie bei vielen Verrichtungen mindestens der Anleitung bedurfte und außerdem in der Schule von einer Schulbegleitung unterstützt wurde, lagen im Zeitpunkt der hier maßgeblichen Behördenentscheidung keine solchen Schwierigkeiten mehr vor. So ist es dem Kläger zwischenzeitlich gelungen, eine Ausbildung zum Zimmerer erfolgreich zu absolvieren und (nach dem hier maßgebenden Zeitpunkt) die Meisterschule zu besuchen. Er fährt ohne Begleitung Auto, hat während des Besuchs der Meisterschule alleine in I. gelebt und kann – wenn auch eingeschränkt – außerfamiliär Freundschaften pflegen. Er ist grundsätzlich in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Eine tatsächliche Nutzung erfolgt nach seinen Angaben lediglich aus hygienischen Gründen nicht bzw. kaum. Er bedarf auch nicht der umfassenden Unterstützung im Sinne einer mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeit. Denn anders als noch zur Schulzeit, in der er – zumindest im Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung im Jahr 2010 – für den Besuch der Schule offensichtlich durchgehend der Begleitung eines Integrationshelfers bedurfte, war er zur Absolvierung seiner Ausbildung und zur anschließend erfolgten Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung nicht auf einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe angewiesen. Dass seine Eltern und Schwester ihn gleichwohl insbesondere bei der Organisation unterstützt haben, rechtfertigt nicht die Annahme von mittleren oder sogar schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Entscheidend ist, dass ihm die Teilnahme sowohl im Betrieb als auch an der Berufsschule und anschließend die Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung möglich war, ohne dass er – wie noch als Kind – der durchgehenden Begleitung und umfassenden Unterstützung bedurfte.

 

Die im Berufungsverfahren erhobenen Einwände beziehen sich im Wesentlichen auf die Schulzeit des Klägers und damit auf die Zeit vor der im Jahr 2021 erfolgten Herabsetzung. Sie führen daher zu keiner anderweitigen Bewertung. Ungeachtet dessen ergibt sich aus den Ausführungen des Klägers selbst eine Besserung im o. g. Sinne. So hat er im Rahmen der Berufungsbegründung vortragen lassen, dass es für ihn in der Berufsschule erträglicher gewesen wäre, weil es ruhiger und fokussierter zugegangen sei. Zudem wäre er im Ausbildungsbetrieb, ohne integriert gewesen zu sein, anerkannt gewesen. Hierzu passt die im Erörterungstermin getätigte Angabe, dass es ihm nichts ausmache, alleine zu sein. Dass er gleichwohl während der Ausbildung und auch (nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt) während des Besuchs der Meisterschule von seiner Familie unterstützt worden ist, rechtfertigt gerade die Annahme einer leichten sozialen Anpassungsschwierigkeit. Nichts anderes ergibt sich aus dem Umstand, dass dem Kläger während der Ausbildung gekündigt worden war. Denn diese erfolgte nach der Einschätzung des Klägers selbst wegen einer geleisteten Nachbarschaftshilfe und damit ungeachtet der bei ihm vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

 

Zwar ist für leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten ein Bewertungsrahmen von 30 bis 40 vorgesehen. Der Ausschöpfung des Bewertungsrahmens bedarf es vorliegend jedoch nicht. Hier ist zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Lage war, seine im Jahr 2019 begonnene Ausbildung als Zimmerer ohne besondere Förderung, aber durch familiäre Unterstützung (nur) im häuslichen Umfeld erfolgreich zu absolvieren und anschließend eine Vollzeitbeschäftigung aufzunehmen. Auch die vorgetragenen familiären Unterstützungsleistungen – wie beispielsweise das physische Aufwecken oder Unterstützungsleistungen im hauswirtschaftlichen Bereich (etwa Wäschepflege u. ä.) – sieht der Senat zumindest teilweise noch als altersentsprechend bzw. jedenfalls allgemein nicht unüblich an, sodass sich auch hieraus eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens nicht ableiten lässt.

 

Im Übrigen deckt sich die Bewertung der Einschränkungen des Klägers mit einem GdB von 30 auch mit der Einschätzung des Sachverständigen L., der gerichtsbekannt seit Jahren eine Spezialsprechstunde für Autismus im Erwachsenenalter anbietet und aufgrund dessen über eine besondere Sachkunde auf diesem Gebiet insbesondere im Hinblick auf den Vergleich des Grades von sozialen Anpassungsschwierigkeiten von Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung verfügt. Die von der Klägerseite geäußerte Kritik an der Begutachtung durch L. und damit an der Überzeugungskraft seiner Beurteilung vermag der Senat nicht zu teilen. Die Anamneseerhebung erfolgte unter Heranziehung bzw. im Beisein der Mutter und war sehr ausführlich. Eine verzerrte oder in relevanter Weise unvollständige Darstellung der Lebensumstände des Klägers durch den Sachverständigen, etwa mit Blick auf die Schulzeit oder die Erlangung der Lehrstelle, kann der Senat bei Gegenüberstellung der Ausführungen des Sachverständigen mit dem Klage-/Berufungsvorbringen nicht erkennen. Außerdem hat der Sachverständige auch die von ihm erkannten Defizite des Klägers eindeutig benannt und überzeugend in seine Gesamtwürdigung eingestellt, sodass der Senat – wie auch das SG – keine Bedenken hat, das Gutachten wesentlich für seine Entscheidungsfindung heranzuziehen.

 

Schließlich spricht auch ein Quervergleich etwa mit Teil B Ziffer 3.7 VMG (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen) dafür, hier eher im unteren Bereich des Bewertungsrahmens von 30-40 zu verbleiben. Denn nach der vorbenannten Ziffer muss bereits eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypchondrische oder phobische Störung) vorliegen, um überhaupt in den Bereich eines GdB von 30 zu gelangen. Der Kläger dürfte zwar durchaus vergleichbar eingeschränkt sein. Dies angesichts seiner dargestellten Ressourcen und sozialen Interaktionsmöglichkeiten aber eben nur im eher unteren Bereich.

 

(2) Weitere GdB-relevante und damit berücksichtigungswürdige Gesundheitsstörungen liegen nicht vor.

 

B) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 Abs. 1 Satz 1, 183 SGG und berücksichtigt das nahezu vollständige Unterliegen des Klägers.

 

C) Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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