L 10 KR 39/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 47 KR 1498/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 KR 39/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Der Kläger begehrt die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zu Lasten der beklagten Krankenkasse sowie Kostenerstattung für in der Vergangenheit erfolgte Selbstbeschaffungen.

 

Der Kläger (* 00.00.0000) ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Bei ihm wurden in der Vergangenheit eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS; F90.0 gemäß ICD-10-GM), eine Autismus-Spektrum-Störung (F64.5) sowie daneben u.a. Angst und depressive Störung gemischt (F41.2), eine Migräne ohne Aura (G43.0) und ein iatrogener Cannabisabusus (F12.1) diagnostiziert. Bei ihm sind ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen G. B und H festgestellt. Zudem bezieht er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

 

Seit ungefähr seinem 17. Lebensjahr konsumierte der Kläger u.a. Cannabis. Im Dezember 2014 erteilte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ihm erstmals eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG zum Erwerb von Medizinal-Cannabisblüten (zuletzt Bescheid vom 16.01.2017). Seitdem verschrieb ihm der Arzt A. Medizinal-Cannabisblüten auf privaten Betäubungsmittelrezepten. Über eine Zulassung als Vertragsarzt verfügt A. nicht.

 

Mit Schreiben vom 13.03.2017 beantragte der Kläger bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für eine Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 15.03.2017). Auf den hiergegen erhobenen Widerspruch holte die Beklagte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein und wies gestützt hierauf den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 26.10.2017). Nach Einschätzung des MDK sei nicht beurteilbar, ob bei der individuellen Symptomatik der ADHS eine schwerwiegende Erkrankung vorliege. Es stünde zudem eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung; diese erfolge fachpsychiatrisch unter Einbezug medikamentöser und nicht-medikamentöser multimedialer Maßnahmen, soweit im Einzelfall erforderlich. Bei dem Kläger erfolge jedoch seit über drei Jahren eine ausschließlich hausärztliche Behandlung. Außer dem legalen Konsum von Cannabis seit 2014 sei keine erkrankungsspezifische medikamentöse oder nichtmedikamentöse Behandlung ersichtlich. Der behandelnde Arzt habe nicht plausibel dargestellt, warum eine krankheitsspezifische, individuell angepasste multimodale Therapie nicht zur Anwendung kommen könne. Darüber hinaus sei es sinnvoll, die aktuelle ADHS-Symptomatik zu reevaluieren. Dies erfordere das vorherige Absetzen bzw die Entwöhnung von Cannabinoiden.

 

Der Kläger hat hiergegen am 23.11.2017 Klage zum Sozialgericht Düsseldorf erhoben.

 

Er hat behauptet, in der Vergangenheit bereits mit den üblichen medikamentösen Standardtherapien behandelt worden zu sein, diese Therapieversuche seien jedoch nicht wirksam und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden gewesen. Eine Verbesserung seiner Konzentrationsstörungen, Aggressivität, Hyperaktivität, innereren Unruhe, Reizüberflutung und Schlafstörungen habe er ausschließlich durch Cannabis erfahren, auch sei durch die Anwendung von Cannabisprodukten, die ADHS-Symptomatik gut kontrolliert. Die Therapie mit Cannabisprodukten solle daher fortgeführt werden. Bei einem ADHS im Erwachsenenalter sowie vorliegender Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG sehe er einen Anspruch auf Kostenübernahme für Medizinal-Cannabisblüten. Eine fachpsychiatrische Mitbehandlung habe von Januar bis zum 02.05.2014 stattgefunden, auch diese ohne Erfolg. Zudem befinde er sich in ergotherapeutischer Behandlung und führe ein Hirnleistungstraining/Neurofeedback durch; beide Therapien fänden jeweils einmal in der Woche statt, seien auf ihn zugeschnitten und auch auf die sozialen und emotionalen Defizite ausgerichtet. Einen freiwilligen Entzug habe er vom 31.08.2020 bis 02.11.2020 zu Hause durchgeführt, aufgrund schwerwiegender körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen (wie ständigen Schmerzschüben, Gewichtsverlust, fast vollständigem sozialem Rückzug) sei dieser nach Rücksprache mit der Ärztin Z. aber beendet worden.

 

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

 

den Bescheid der Beklagten vom 15.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.10.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten für die in der Vergangenheit selbst beschafften Medizinal-Cannabisblüten dem Grunde nach zu erstatten und ihn zukünftig mit solchen zu versorgen.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat den angefochtenen Bescheid verteidigt.

 

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Nervenheilkunde und Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie U.; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 04.05.2020 Bezug genommen.

 

Sodann hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.11.2021). Zwar sei bei dem Kläger vom Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen, denn die festgestellten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten dessen Lebensqualität auf Dauer nachhaltig. Es stünden jedoch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung. Nach dem Sachverständigengutachten stehe als allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung eine multimodale Therapie in einer Spezialambulanz bzw. -klinik zur Verfügung, welche die medikamentöse Therapie insbesondere um ein verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Konzept mit Psychoedukation und Training bestimmter sozialer und emotionaler Kompetenzen ergänze. Dieser Therapie, welche zum Einstieg eine stationäre, zumindest aber teilstationäre Behandlung erfordere, solle zunächst eine Entgiftung von Cannabis vorausgehen, um eine differenzialdiagnostische Einordnung der Symptomatik zu ermöglichen. Derartige Therapieoptionen seien bei dem Kläger bisher nicht zum Einsatz gekommen. Auch der behandelnde Arzt A. führe zwar aus, dass der Kläger „austherapiert“ sei, sein Befundbericht beziehe sich jedoch ausdrücklich nur auf medikamentöse Therapien. Im Übrigen habe der Kläger nicht nachgewiesen, dass die Therapiealternativen nicht zur Anwendung kommen könnten; die insoweit erforderliche begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes liege nicht vor. Dahinstehen könne, ob A. eine begründete Einschätzung abgegeben habe, da dieser jedenfalls kein Vertragsarzt sei. Im Übrigen habe zwar der Hausarzt R. in einer Auskunft gegenüber der Beklagten die Behandlung mit Cannabis ausdrücklich befürwortet. Soweit der Hausarzt darin unter nicht näher konkretisierter Angabe der bisherigen Medikation auf deren unzureichende Wirksamkeit und die Schwere der Nebenwirkungen verwiesen hat, reiche dies jedoch angesichts der Vielzahl der Therapieoptionen, insbesondere der bisher nicht ausgeschöpften (teil-)stationären multimodalen Behandlungen, nicht aus. Die Versorgung mit Cannabis sei danach auch nicht Ultima-ratio, weshalb keine geringeren Anforderungen an die begründete Einschätzung gestellt werden können.

 

Gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 14.12.2021 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner am 13.01.2022 eingelegten Berufung.

 

Er bestreitet, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung bei ihm hätte angewendet werden können. Entgegen der erstinstanzlich gehörten Sachverständigen bleibe festzuhalten, dass Grundlage einer multimodalen Therapie die medikamentöse Therapie sei; sämtliche medikamentösen Möglichkeiten seien für ihn aber ausgeschöpft. Die seinerzeit unter Beaufsichtigung von Frau Z. durchgeführte Entzugsmaßnahme sei einer Entgiftung unter stationären Bedingungen gleichzusetzen. Zuletzt hätten ihm auch der Hausarzt R. ebenso wie Frau Z. vereinzelt Cannabisblüten verordnet, dies jeweils auf Privatrezepten. Insbesondere Frau Z. sei zwar bereit, ihm entsprechende Verordnungen auch auf "Kassenrezept" zu verschreiben, dies allerdings erst, wenn die Kostenübernahme durch die Beklagte geklärt sei.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.10.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten für in der Vergangenheit selbst beschaffte Medizinal-Cannabisblüten in Höhe von mindestens 15.727,84 € zu erstatten und ihn zukünftig mit solchen zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

 

die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

 

Sie hält das angegriffene Urteil für rechtmäßig.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15.11.2021 ist zulässig, aber unbegründet.

 

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 15.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.10.2017 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und der Kläger nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (dazu 1 und 2). Aus diesem Grund scheidet auch ein Anspruch auf Kostenerstattung für in der Vergangenheit selbstbeschaffte Cannabispräparate aus (dazu 3).

 

1. Gemäß § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von u.a. getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (Nr. 1 Buchst. a) oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (Buchst. b), und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Nr. 2).

 

Dabei kann der Senat im Ergebnis dahinstehen lassen, welche Krankheiten bei dem Kläger gesichert vorliegen und welche davon schwerwiegend i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V sind (dazu BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R, Rn. 15 ff.). Insbesondere bedarf es in diesem Zusammenhang keiner weiteren medizinischen Abklärung zur eindeutigen differentialdiagnostischen Zuordnung der einzelnen Krankheitsbilder, wie sie die erstinstanzlich gehörte Sachverständige U. in den Raum gestellt hat. Denn in jedem Fall fehlt es an einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes gemäß § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst b SGB V. Eine solche ist erforderlich, weil vorliegend mit einer (teil-) stationären multimodalen Therapie in einer Spezialambulanz oder -klinik eine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht (dazu a). Die vom Kläger vorgelegten Atteste seiner behandelnden Ärzte erfüllen die Anforderungen an eine begründete Einschätzung jedoch sämtlich nicht (dazu b). Eine begründete Einschätzung ist auch angesichts des Krankheitszustandes des Klägers nicht entbehrlich (dazu c).

 

a) Dass vorliegend mit einer (teil-) stationären multimodalen Therapie in einer Spezialambulanz oder -klinik eine Standardbehandlung grundsätzlich verfügbar ist, steht aufgrund des Gutachtens der vom Sozialgericht gehörten Sachverständigen zur Überzeugung auch des Senats fest. Ob es zur Behandlung der Erkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Therapie überhaupt gibt, bestimmt sich dabei nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin (BSG, a.a.O. Rn. 23; zuletzt BSG, Urteil vom 20.03.2024 – B 1 KR 24/22 R, Rn. 14).

 

aa) Die vom Sozialgericht gehörte Sachverständige hat hierzu in ihrem schriftlichen Gutachten vom 04.05.2020 aufgrund persönlicher Untersuchung ebenso schlüssig wie nachvollziehbar dargelegt, dass bereits um die Symptomatik des Klägers – insbesondere das Verhältnis von ADHS und Autismus, daneben aber gerade auch die Auswirkungen des langjährigen Cannabiskonsums – wissenschaftlich eindeutig einordnen zu können, eine Entgiftung gerade vom Cannabis unter stationären Bedingungen notwendig sei. Bei der Komorbidität von ADHS und Autismus-Spektrum-Störung solle eine entsprechende Spezialambulanz oder -klinik aufgesucht werden, in der ein multimodales Behandlungskonzept mit medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungsmethoden zur Verfügung stehe.

 

bb) Dass es eine derartige Standardbehandlung gar nicht gäbe, behauptet auch der Kläger nicht. Zwar ist ihm zuzugeben, dass eine Standardtherapie nicht nur dann im Gesetzessinne nicht zur Verfügung steht, wenn es sie generell nicht gibt, sondern auch dann, wenn sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (BSG, Urteil vom 10.11.2022, a.a.O. Rn 22 m.w.N.). Auch hierzu behauptet der Kläger aber lediglich, dass eine Standardbehandlung wie die in Rede stehende in seinem Fall „aufgrund der autistischen Komorbidität […] kontraproduktiv“ sei; die Cannabisbehandlung könne nicht durch Psycho- oder Ergotherapie ersetzt werden, weil er nicht in der Lage sei, ohne eine Verbesserung der Konzentration und der Wahrnehmungsstörung diese Formen der Therapie sinnvoll zu nutzen. Eine Unverträglichkeit oder erhebliche gesundheitliche Risiken sind damit weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Warum und inwieweit eine stationäre Behandlung aufgrund der Autismuserkrankung kontraproduktiv sein soll, ergibt sich auch nicht aus dem insoweit in Bezug genommenen Attest des Hausarztes R. vom 18.05.2023, der eine entsprechende Behauptung („maximal kontraproduktiv“) ebenfalls ohne jede nähere Erläuterung aufstellt. Wiederum unstreitig ist zudem, dass eine (teil-) stationäre multimodale Therapie in einer Spezialambulanz oder -klinik als Standardtherapie bei dem Kläger in der Vergangenheit nie zur Anwendung gekommen ist. Etwas Anderes ergibt sich insbesondere auch nicht aus dem Attest R.s, der zwar behauptet, „die aktuell vorhandenen Standardtherapien [seien] erfolglos eingesetzt“ worden, hierzu aber allein medikamentöse sowie „[p]sychische funktionelle Behandlungen“, ein Hirnleistungstraining und ein Neurofeedback benennt, aber keine stationäre Behandlung wie die vorliegend in Rede stehende.

 

b) Das Vorbringen des Klägers betrifft damit in der Sache die Abwägung, die der behandelnde Vertragsarzt im Rahmen einer begründeten Einschätzung nach § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V zu treffen hat. Durch die notwendige gründliche Abwägung aller therapeutischen Alternativen zur Cannabismedikation soll verhindert werden, dass der Patient eine allgemein anerkannte, wirksame Behandlungsmethode nicht nutzt, er vermeidbaren Gesundheitsgefahren ausgesetzt wird und die Gemeinschaft der Beitragszahler nicht mit Kosten für eine unwirksame oder den Patienten gefährdende Therapie oder mit Mehrkosten gegenüber einer verfügbaren Standardtherapie belastet wird (dazu BSG, a.a.O. Rn. 31).

 

Eine den gesetzlichen Anforderungen genügende begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes liegt jedoch nicht vor.

 

aa) Die im Verwaltungs- und später im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Stellungnahmen und Atteste des behandelnden Arztes A., der dem Antragsteller nach eigener Auskunft (ausweislich etwa seines vom Sozialgericht eingeholten Befundberichts vom 30.04.2018) zuletzt Cannabisblüten auf privaten Betäubungsmittelrezepten und im Rahmen der Erlaubnis des BfArM verordnet hat, kommen dabei als begründete Stellungnahme i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V von vorneherein nicht in Betracht, weil A. kein Vertragsarzt ist (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.11.2018 – L 11 KR 3464/18 ER-B, juris Rn 17). Eine Anwendung der Vorschrift auf andere Ärzte, die nicht als Vertragsarzt zugelassen sind, scheidet nach dem klaren Gesetzeswortlaut aus.

 

bb) Soweit der Kläger – zuletzt auf Fristsetzung durch den Senat gemäß § 106a SGG (Verfügung vom 02.05.2023; der Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 15.05.2023) – daneben Atteste seines Hausarztes R. sowie der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Z. (vom 18.05.2023 bzw. 04.05.2023) vorgelegt hat, hat er hierzu zwar in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat behauptet, dass auch diese ihm jedenfalls zuletzt vereinzelt Cannabisblüten verordnet hätten. Selbst wenn die Genannten danach als behandelnde Vertragsärzte i.S.d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V in Betracht kämen, genügten auch deren Atteste den Anforderungen an eine begründete Einschätzung nach § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V aber nicht.

 

Dabei ist zu unterscheiden zwischen den der Abwägung zugrundeliegenden Tatsachen, die maßgeblich für die Frage sind, ob eine Standardtherapie zur Anwendung kommen kann, und der Abwägung selbst. Der Wortlaut des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V gibt bereits vor, dass die zu erwartenden oder bereits aufgetretenen Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden, allgemein anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen und der Krankheitszustand darzustellen sind. Dies ist dahin zu konkretisieren, dass der Krankheitszustand mit den bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte zu beschreiben ist. Hierzu gehört auch ein eventueller Suchtmittelgebrauch in der Vergangenheit sowie das Bestehen oder der Verdacht einer Suchtmittelabhängigkeit. Der Vertragsarzt muss die mit Cannabis zu behandelnde(n) Erkrankung(en), ihre Symptome und das angestrebte Behandlungsziel sowie die bereits angewendeten Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen benennen. Der Vertragsarzt kann dazu auch seine Patientendokumentation und die Befunde anderer behandelnder Ärzte der begründeten Einschätzung beifügen und auf diese verweisen. Das Behandlungsziel muss dabei entweder in einer Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome der Erkrankung bestehen (BSG, Urteil vom 10.11.2022, a.a.O. Rn 33; zuletzt BSG, Urteil vom 20.03.2024, a.a.O. Rn. 20).

 

Hieran fehlt es sowohl dem Attest R.s vom 18.05.2023 (dazu <1>) als auch dem von Frau Z. vom 04.05.2023 (dazu <2>).

 

(1) Das Attest R.s vom 18.05.2023 lässt insbesondere jegliche substantiierte Auseinandersetzung mit einer (teil-) stationären multimodalen Therapie in einer Spezialambulanz oder -klinik als Standardtherapie vermissen. Insoweit beschränkt sich das Attest vielmehr auf die apodiktische Feststellung, eine stationäre Behandlung erscheine [!] angesichts der autistischen Komorbidität seines Erachtens „maximal kontraproduktiv.“ Hat der Vertragsarzt in seiner begründeten Einschätzung grundsätzlich verfügbare Standardtherapien nicht aufgeführt und damit keiner Abwägung unterzogen, erschöpft sich die gerichtliche Überprüfung jedoch in der Feststellung, dass es weitere Standardtherapien gibt (BSG, Urteil vom 10.11.2022, a.a.O. Rn. 37). Ebenso fehlt jegliche Auseinandersetzung mit einem (möglichen) schädlichen Gebrauch von Cannabis, obwohl in den Akten ein (iatrogener) schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden (gem. ICD-10-GM F12.1) dokumentiert ist (so in dem vom Sozialgericht eingeholten Befundbericht Z. vom 07.03.2018). Zwar geht R. nunmehr, anders als in früheren Attesten und Befundberichten, zumindest auf die Komorbidität mit der Autismuserkrankung ein, beschränkt sich hier aber eben auf die bereits oben angesprochene Behauptung, angesichts der autistischen Komorbidität sei eine stationäre Behandlung „maximal kontraproduktiv“.

 

(2) Im Ergebnis nichts Anderes gilt für das Attest der Psychiaterin Z. vom 04.05.2023. Im Hinblick auf Behandlungsalternativen beschränkt auch diese sich auf die Behauptung, eine Behandlung mit Cannabispräparaten sei die einzige sinnvolle Therapiealternative mit guter Wirkung, guter Verträglichkeit und keinen Risiken. Auf die Möglichkeit der angesprochenen multimodalen stationären Therapie geht sie dagegen an keiner Stelle ein. Auch auf den schädlichen Gebrauch von Cannabinoiden, den sie – wie erwähnt – in der Vergangenheit selbst diagnostiziert hat, geht sie allenfalls beiläufig ein, wenn sie ausführt, „bis dato“ sei ebenfalls keine Toleranzentwicklung in der Behandlung mit Cannabis zu beobachten; eine solche wäre ein erster Hinweis auf eine beginnende Abhängigkeit. Jegliche weiteren Ausführungen hierzu fehlen allerdings, insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit ihrer früheren Diagnose.

 

(3) Wegen der bereits zuvor vorgelegten Atteste und Befundberichte nimmt der Senat ergänzend Bezug auf die Gründe seines Beschlusses vom 24.04.2023 (L 10 KR 23/23 ER). Der Kläger hat seitdem nichts vorgetragen, das geeignet wäre, die dortigen Erwägungen in Zweifel zu ziehen.

 

c) Auf eine begründete Einschätzung kann nicht verzichtet werden, auch nicht angesichts der Erkrankung des Klägers. Dies folgt schon aus Sinn und Zweck der begründeten Einschätzung. Denn mit der Regelung des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V wollte der Gesetzgeber die ärztliche Therapiefreiheit auch innerhalb der Vorgaben des Leistungsrechts der GKV stärken (BSG, a.a.O. Rn. 25; unter Verweis auf BT-Drs. 18/10902, 25). Die Abwägung des Vertragsarztes, ob eine verfügbare Standardtherapie zur Behandlung der Erkrankung angewendet werden kann oder ob Cannabis zur Anwendung kommen soll, ist der Überprüfung durch Krankenkassen und Gerichte weitgehend entzogen; insoweit besteht eine Einschätzungsprärogative des Vertragsarztes (BSG, a.a.O.). § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V stellt klar, dass es zwar auf die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes ankommt, ob Cannabis die verbleibende Behandlungsalternative ist; die Beachtlichkeit seiner Einschätzung ist aber an das Erfordernis einer von ihm zu erbringenden Begründung gebunden, die eine Prüfung ihrer objektiven Grundlagen ermöglicht (BSG, a.a.O. Rn. 28). Die Einschätzungsprärogative der Vertragsärztin bzw. des Vertragsarztes und das Erfordernis einer begründeten Einschätzung gehen mithin Hand in Hand. In der begründeten Einschätzung ist gerade die gründliche Abwägung niederzulegen, aufgrund derer die Vertragsärztin bzw. der Vertragsarzt die Therapieentscheidung für eine Verordnung von Cannabis getroffen hat.

 

Vor diesem Hintergrund ist für den Senat auch das Vorbringen des Klägers aus der mündlichen Verhandlung nicht nachvollziehbar, wonach insbesondere Frau Z. zwar grundsätzlich bereit sei, ihm Cannabisblüten auch „auf Kassenrezept“ zu verschreiben, dies aber nur, wenn die Kostenübernahme durch die Beklagte geklärt sei. Denn die begehrte Kostenübernahme setzt die Vorlage einer begründeten Einschätzung nach § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V zwingend voraus.

 

2. Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs.3a S. 6 und 7 SGB V. Ein solcher könnte ohnehin allein auf Kostenerstattung für tatsächlich nach Fristablauf selbst beschaffte Leistungen gehen (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R, Rn. 10 ff.). Die Genehmigungsfiktion ist aber nicht eingetreten, weil die Beklagte den Antrag des Klägers vom 13.03.2017 bereits mit dem Bescheid vom 15.03.2017 und damit innerhalb der Dreiwochenfrist des § 13 Abs. 3a S. 1 Var. 1 SGB V beschieden hat. Anhaltspunkte, dass dieser Bescheid dem Kläger erst nach Ablauf der Dreiwochenfrist zugegangen wäre, sind nicht ersichtlich. Denn in jedem Fall hat der Kläger gegen diesen Bescheid bereits am 30.03.2017 und damit ebenfalls noch innerhalb der Dreiwochenfrist Widerspruch erhoben.

 

3. Weil die Beklagte den Antrag auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten wie ausgeführt (dazu oben 1) nicht zu Unrecht abgelehnt hat, kann auch der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 Var. 2 SGB V für in der Vergangenheit selbst beschaffte Cannabispräparate i.H.v. 15.727,84 € nicht bestehen (zur Bezifferung des Anspruchs vgl. BSG, Urteil vom 28.01.1999 – B 3 KR 4/98, juris Rn. 27; Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 16/07 R, juris Rn. 12). Dass die Versorgung mit den begehrten Cannabisblüten unaufschiebbar i.S.d. § 13 Abs. 3 S. 1 Var. 1 SGB V gewesen wäre (zu den Anforderungen vgl. BSG, Urteil vom 24.04.2018 – B 1 KR 29/17 R, Rn. 22 m.w.N.), ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.

 

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.

 

5. Anlass, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.

 

Rechtskraft
Aus
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