L 1 U 1075/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 1717/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 1 U 1075/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. März 2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt in einem Überprüfungsverfahren die Gewährung einer (ggfs. gestützten) Verletztenrente wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls am 4. April 2001.

Der Kläger ist im Jahre 1956 geboren und wohnt im Inland.

Er hatte bereits am 28. September 1981 einen Arbeitsunfall im Zuständigkeitsbereich einer Rechtsvorgängerin der Berufsgenossenschaft (BG) Holz und Metall (BGHM) erlitten, bei dem er aus der Fahrerkabine eines Lkw gestürzt war und eine Schädelprellung erlitten hatte.

Weitere Unfälle erlitt er am 4. April 2001 und am 6. April 2001 in einer Beschäftigung im Zuständigkeitsbereich der beklagten Verwaltungs-BG (Beklagte). Bei dem ersten Vorfall gelangte nach seinen Angaben Staub in beide Augen, bei dem zweiten verletzte ein Metallteil (Befestigungshaken einer Lkw-Plane) das rechte Auge.

Am 9. April 2001 stellte sich der Kläger dem G1 vor. Dabei berichtete er lediglich von dem Vorfall am 4. April 2001 und nur von Staub im rechten Auge. Als Befund wurde notiert: „Rechtes Auge nicht verschmutzt, keine Konjunktivitis, Klage über Visusverschlechterung“. Er wurde an den K1 überwiesen. Bei der Untersuchung dort am 11. April 2001 wurden am rechten Auge ein Gesichtsfeldausfall, ein Pigment auf der Hornhaut-Rückfläche, eine Oberlidschwellung nasal und eine Paille mit chorioatrophischer Makula ohne Reflexe sowie eine Pigmentverschiebung diagnostiziert. Die Sehschärfe betrug mit Korrektur (cc) rechts 0,3 und links 1,0. Vom 11. bis 12. April 2001 wurde der Kläger stationär im Diakonissen-Krankenhauses K2 behandelt. Dort gab er einen Schlag gegen das rechte Auge an. T1 stellte eine leichte Ober- und Unterlidschwellung und eine leichte Bindehautreizung rechts Auges fest. Daneben bestanden eine sektorielle Linsen- und eine Glaskörpertrübung, die aber nicht durch eine frische Kontusion erklärbar seien, möglicherweise durch das Trauma 1981. Beeinträchtigungen am linken Auge lagen nicht vor. Der Visus betrug ohne Korrektur (sc) rechts 0,1 und links 0,8, links cc 1,0. Dieselben Ergebnisse hatte eine Messung im Uni-Klinikum H1 bei K3 am 31. Juli 2001 (Arztbrief vom 9. August 2001).

Die Beklagte erhob das Zusammenhangsgutachten von L1 vom 28. März 2002. Dort gab der Kläger an, der erste Unfall sei am „3. April 2001“ geschehen, nach der Staubeinwirkung seien beide Augen geschwollen gewesen, nach dem Abklingen der Schwellung habe er „rechts“ fast nichts mehr sehen können. L1 stellte eine herabgesetzte Sehschärfe rechts fest, die allerdings auf Entwicklungsanomalien in der Kindheit beruhe. Eine seit 1981 beschriebene Gesichtsfeldeinengung könne ebenfalls nicht durch den Unfall verursacht worden sein. Am linken Auge bestanden keine pathologischen Veränderungen.

Mit Bescheid vom 24. April 2002 und Widerspruchsbescheid vom 20. August 2002 erkannte die Beklagte den Vorfall vom 4. April 2001 als Arbeitsunfall an. Als Folgen stellte sie eine „ohne wesentliche Folgen ausgeheilte Sandverunreinigung des rechten Auges“ fest. Anspruch auf Verletztenrente bestehe nicht.

Hiergegen erhob der Kläger erstmals Klage zum Sozialgericht (SG) Karlsruhe (S 14 U 3228/02). Er legte bereits damals Befundberichte aus dem früheren Jugoslawien aus den 1970-er und 1980-er Jahren sowie ein Foto von sich beim Schießen vor, aus denen sich nach seiner Ansicht ergebe, dass vor den Unfällen keine Visusminderung vorgelegen habe.

Das SG erhob von Amts wegen das Gutachten vom 10. Oktober 2003 bei A1. Der Sachverständige stellte am rechten Auge einen fast vollständigen Visusverlust und am linken Auge einen Restvisus von 0,4 sc und 0,5 cc fest. Am rechten Auge habe nach den früheren Unterlagen eine Visusminderung („angeborene Schwachsichtigkeit“) auf 0,3 vorbestanden, die sich allerdings nicht durch die Staubeinwirkung am 4. April 2001, sondern allenfalls durch die Verletzung am 6. April 2001 habe vergrößern können. Die herabgesetzte Sehschwäche auf 0,5 am linken Auge sei als Aggravation zu werten. Aus den Unterlagen aus Jugoslawien ergäben sich keine verwertbaren Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung.

Gestützt auf dieses Gutachten wies das SG die Klage mit Urteil vom 10. März 2005 ab. Der Unfall vom 4. Juli 2001 habe keine dauerhaften Schäden hinterlassen, die einen Anspruch auf Verletztenrente begründen könnten.

Der Kläger legte Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) ein (L 10 U 1907/05). Er hielt an seinem Vortrag fest, keines der Augen sei vor den beiden Unfällen vorgeschädigt gewesen. Er habe bei der Untersuchung bei A1 auch nicht aggraviert. Er legte ärztliche Unterlagen in Bezug auf den Unfall vom 28. September 1981 vor, darunter das Attest von S1 vom 9. Juni 2005, wonach die Sehschärfen rechts und links am 8. und 26. Oktober 1981 bei 0,3 und 0,8 und am 30. März 1982 bei 0,5 und 0,6 gelegen hätten und von einer seit Kindheit bestehenden Blindheit daher keine Rede sein könne.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers erhob das LSG das Gutachten vom 19. Dezember 2006 bei L2. Dieser Sachverständige ließ die Visen durch ein objektives, mitarbeitsunabhängiges Verfahren („Ableitung visuell evozierter Potenziale mit Visusschätzung“) ermitteln. Es ergaben sich (sc) Restvisen von 0,7 rechts und 1,1 links. Unter Berücksichtigung der Messungenauigkeit dieses Verfahrens, so L2, betrage der Visus mindestens mehr als 0,35 rechts und mehr als 0,55 links. Zu diagnostizieren seien an beiden Augen Altersweitsichtigkeit sowie eine Hornhautverkrümmung und beginnender Grauer Star, rechts außerdem frühkindliche Anomalien (Bergmeister-Papille sowie eine persistierende Arteria hyaloidea), die für einen Großteil der Visusminderung verantwortlich seien. Der Unfall vom 4. April 2001 (Staubeinwirkung) habe an keinem Auge dauerhafte Schäden hinterlassen.

Gegen das Urteil des LSG vom 13. März 2008, mit dem die Berufung zurückgewiesen wurde, erhob der Kläger erstmals Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, die das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 23. Dezember 2008 (B 2 U 120/08 B) als unzulässig verwarf.

Mit Bescheid vom 20. Mai 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Oktober 2009 erkannte auch den Vorfall vom 6. April 2011 als Arbeitsunfall an. Er habe zu einer „ohne wesentliche Folgen ausgeheilten Prellung des rechten Auges“ geführt. Eine Rentengewährung lehnte sie auch insoweit anfangs ab. In dem anschließenden Klageverfahren (S 4 U 5384/09) erstattete R1 das Gutachten vom 6. April 2011. Er maß als Restvisen rechts 0,1 und links 0,7. Der Befund links sei unauffällig. Allerdings habe die Verletzung des rechten Auges am 6. April 2001 dauerhafte Schäden hinterlassen. Nach Erhalt dieses Gutachtens einigten sich die Beteiligten durch gerichtlichen Vergleich vom 20. September 2011 auf die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 21. Oktober 2006 unter Anerkennung einer „penetrierenden Verletzung des Augapfels rechts“ als Folge des Arbeitsunfalls vom 6. April 2001.

Sodann beantragte der Kläger bei der BGHM Rente wegen des Unfalls vom 28. September 1981. Er machte geltend, er leide seitdem Sehstörungen beidseits, Schwindel und Kopfschmerzen. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 8. März 2012 abgelehnt.

Im November 2011 beantragte der Kläger bei der Beklagten, auch die behauptete Sehminderung links - sowie Schmerzen an der rechten Hand, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle - als Folge des Unfalls vom 6. April 2001 anzuerkennen und die Rente zu erhöhen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. April 2012 und Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2012 ab. Sie führte unter anderem aus, der Vorfall vom 6. April 2001 habe das linke Auge nicht betroffen.

Im Januar 2019 beantragte der Kläger eine Erhöhung der Verletztenrente, da sich seine Sehschärfe an beiden Augen verschlechtert habe. Die Beklagte zog Befundberichte aus der Zeit nach 2011 bei und holte eine beratungsärztliche Stellungnahme von M1 ein. Sodann lehnte sie mit Bescheid vom 16. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2020 eine Rentenerhöhung ab. Seit dem letzten Bescheid vom 17. November 2011 sei am rechten Auge keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten. Am linken Auge sei schon keine Unfallfolge anerkannt, sodass die - eventuelle - Verschlimmerung dort ein nicht versicherter Nachschaden sei. Die hiergegen erhobene Klage wies das SG (S 8 U 477/20) mit Urteil vom 25. Februar 2021 ab, die dagegen erhobene Berufung (L 9 U 1216/26) das LSG zurück (Beschluss vom 16. Dezember 2022). Zu dem linken Auge führte auch das LSG aus, eine Schädigung bei dem Unfall am 4. April 2001 sei bislang nicht anerkannt. Der Kläger müsse insoweit die Beklagte veranlassen, eine entsprechende rechtsbehelfsfähige Entscheidung zu treffen.

Dementsprechend beantragte der Kläger am 3. Januar 2023 erneut eine höhere Verletztenrente und machte vor allem Schäden am linken Auge wegen des Unfalls vom 4. April 2001 geltend. Dass damals Staub in beide Augen gelangt sei, könne eine damalige Kollegin bezeugen. Bereits am 12. April 2001 habe sich dann ein Sehschärfenverlust auch links bemerkbar gemacht.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. März 2023 und Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2023 ab. Der Bescheid vom 24. April 2002 sei rechtmäßig ergangen. Es seien bereits drei Gutachten eingeholt worden, die einen Zusammenhang zwischen einer Visusminderung links und dem Unfall verneint hätten. Die benannte Zeugin müsse nicht gehört werden, weil sie bei dem Unfall nicht zugegen gewesen sei. Die vor und nach dem Unfall wechselnde Sehstärke links sei dokumentiert. Die medizinischen Einschätzungen seien einhellig.

Hiergegen hat der Kläger am 14. Juli 2023 Klage zum SG erhoben. Er hat vorgetragen, sein Sehvermögen sei vor den Unfällen nicht eingeschränkt gewesen. Hierzu hat er erneut Fotokopien deutscher Übersetzungen für - nachträglich erstellte - Unterlagen aus dem ehemaligen Jugoslawien vorgelegt (Bescheinigung vom 27. November 2001 über den 1978/1979 geleisteten Wehrdienst; Attest einer Augenklinik vom 12. November 2003 über eine Untersuchung am 19. Oktober 1994 mit einem Visus von 0,9 bis 1,0 beidseits). Ferner hat er ebenfalls erneut das Attest von S1 vom 9. Juni 2005 zur Akte gereicht und hierzu angegeben, die Sehminderung links nach dem Unfall vom 28. September 1981 sei bis zum 4. April 2001 wieder vollständig zurückgegangen. Später hat der Kläger noch das Attest von W1 und G2 vom 7. März 2019 vorgelegt (Visus rechts fast vollständig aufgehoben [„HBW“ = Handbewegungen], links 0,6 cc).

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. März 2023 abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht die Rücknahme des Bescheids vom 24. April 2002 und die Gewährung einer Verletztenrente abgelehnt. Bei Erlass jenes Bescheids hätten keine gesundheitlichen Folgen des Arbeitsunfalls vom 4. April 2002 vorgelegen, die zu einer - hier rentenberechtigenden - MdE von wenigstens 10 vH führen könnten. Die später festgestellten Beeinträchtigungen des rechten Auges hätten vorbestanden bzw. seien Folgen der Augenverletzung am 6. April 2001. Am linken Auge sei eine Beeinträchtigung nicht nachgewiesen. Es stehe nicht einmal fest, dass am 4. April 2001 Staub in beide Augen gelangt sei, die Angaben des Klägers hierzu seien widersprüchlich. Sofern man diesen Vortrag jedoch als wahr unterstelle, sei eine etwaige Sandverletzung folgenlos ausgeheilt. In keinem der unfallnah erstellten Arztberichte finde sich ein pathologischer Befund links, der Kläger habe damals auch keine Beschwerden angegeben. Der Visus links sei noch mindestens bis Juli 2001 unauffällig gewesen (Untersuchung bei K3). Entgegen der Behauptung des Klägers habe der Visus korrigiert auch am 12. April 2001 noch bei 1,0 gelegen. Ferner hätten die damals erhobenen Gutachten von L1, A1 und L2 an keinem der Augen Folgen des Vorfalls vom 4. April 2001 feststellen können.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 29. März 2024, eingegangen am 5. April 2024, Berufung erhoben.

Der Berichterstatter hat den Sach- und Streitstand mit dem Kläger erörtert. Auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung am 17. Mai 2024 wird verwiesen.

In der mündlichen Verhandlung am 1. Juli 2024 beantragt der Kläger,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. März 2023 und den Bescheid der Beklagten vom 9. März 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 24. April 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2002 zurückzunehmen, und zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 4. April 2001 eine Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Stellungnahme seiner damaligen Kollegin G. zu Protokoll gereicht.

Entscheidungsgründe

Die Berufung war auf Grund mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG) zurückzuweisen. Sie ist zwar statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage des Klägers zu Recht abgewiesen. Sie ist zwar als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG) statthaft und zulässig, jedoch nicht begründet. Die geltend gemachten Ansprüche stehen dem Kläger nicht zu. Deswegen ist auch der angefochtene Bescheid vom 9. März 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 2023 rechtmäßig ergangen.

Dies gilt zunächst für einen Anspruch aus § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf Rücknahme bzw. Abänderung des Bescheids vom 24. April 2002 mit dem Ziel der Anerkennung weiterer Folgen des Unfalls vom 4. April 2001.

Allerdings stände einem solchen Anspruch nicht die Bindungswirkung des Vergleichs vom 20. September 2011 in dem Verfahren S 4 U 5384/09 vor dem SG entgegen. Dabei kann die Frage offenbleiben, ob ein Ausführungsbescheid, der auf der Grundlage eines Vergleichs - das wäre hier allerdings der Bescheid vom 17. November 2011 - ergeht, überhaupt Gegenstand eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Abs. 1 SGB X sein kann (ablehnend Bayerisches LSG, Urteil vom 20. Juli 2011 – L 16 SB 141/08 –, Rn. 45, juris mit Hinweis auf § 46 Abs. 1 Halbsatz 2 SGB I) oder ob den Parteien eines öffentlich-rechtlichen Vergleichsvertrags (§ 54 Abs. 1 SGB X) nur die Anpassungsmöglichkeiten aus § 59 Abs. 1 SGB X (vgl. § 61 SGB X i.V.m. § 779 BGB) zur Verfügung stehen (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9. Juni 2011 – L 10 R 3494/08 –, Rn. 29, juris). Der Vergleich vom 20. September 2011 betraf nur die Folgen des Unfalls vom 6. April 2001, entfaltet also keine Wirkung für den Streitgegenstand des jetzigen Verfahrens.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der hier begründete bindende Anspruch auf Rücknahme auch bestandskräftiger (§ 77 SGG) Verwaltungsakte ist seinerseits zeitlich nicht befristet, auch wenn nicht gewährte Sozialleistungen nach einer solchen Rücknahme längstens für die vier Kalenderjahre vor dem Antrag auf Überprüfung oder dem Erlass des Überprüfungsbescheids nachgezahlt werden müssen (§ 44 Abs. 4 SGB X).

Die Beklagte hat bei Erlass des Bescheids vom 24. April 2002 keine Rechts- oder Ermittlungsfehler begangen. Auch aus heutiger Sicht hat der Unfall vom 4. April 2001 keine weiteren gesundheitlichen Folgen verursacht, die damals nicht anerkannt worden sind. Insbesondere liegen keine dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen am rechten oder linken Auge vor, die unter Umständen zu einem Anspruch auf Verletztenrente führen könnten.

Dabei unterstellt der Senat - wie schon das SG - als wahr, dass bei jenem Vorfall Staub in beide Augen des Klägers gelangt ist und auch das linke Auge gereizt war (Rötung, Schwellung, Tränenfluss), auch wenn die Ärzte, die ihn ab dem 9. April 2001 behandelten, nur am rechten Auge pathologische Veränderungen beschrieben haben. Wegen dieser Wahrunterstellung muss auch die vom Kläger benannte Kollegin nicht als Zeugin vernommen werden. Einen entsprechenden Beweisantrag hat der Kläger zuletzt auch nicht mehr gestellt.

Diese Staubeinwirkung hat jedoch in keinem der beiden Augen bleibende gesundheitliche Beeinträchtigungen hinterlassen.

Am linken Auge liegt bis heute überhaupt kein pathologischer Zustand vor, der auf jene Einwirkung zurückgeführt werden könnte.

Bereits bei den Behandlungen unmittelbar nach den beiden Unfällen konnten links gar keine Beeinträchtigungen festgestellt werden. B1 und G1 am 9. April 2001 konnten - als Internist bzw. Chirurg - an keinem der beiden Augen Beeinträchtigungen erkennen, weswegen sie den Kläger an K1 überwiesen. Dieser stellte Beeinträchtigungen - nur - am rechten Auge fest. Dabei hat er ausdrücklich auch das linke Auge untersucht, auch wenn der Kläger ausschließlich eine Reizung und eine Visusminderung am rechten Auge geklagt hatte. Dies ergibt sich daraus, dass er in seinem Bericht vom 11. April 2001 auch die Sehschärfe am linken Auge mitgeteilt hat, die unbeeinträchtigt war. Bei der Untersuchung des Visus hätten ihm auch andere pathologische Veränderungen links auffallen müssen.

Auch bei der anschließenden stationären Behandlung im Diakonissen-Krankenhaus R2 fanden sich keine Hinweise auf eine Schädigung des linken Auges. Der blinde Fleck links war regerecht in Lage und Größe, die Isopteren lagen regelgerecht altersentsprechend, der Augapfel war reizlos, die Hornhaut und die Linse klar, die Papille vital und zirkulär randscharf, die Makula unauffällig und die Netzhaut ohne therapiebedürftige Stellen. Entgegen den Ausführungen des Klägers zeigte sich dort auch keine (ggfs. beginnende) Visusminderung. Der Messung mit dem Ergebnis 0,8, auf die der Kläger regelmäßig hinweist, betraf den unkorrigierten Visus. Der korrigierte Wert betrug 1,0, wie auch zwei Tage zuvor bei K1 (vgl. zu allem S. 1 und 2 des Entlassungsberichts vom 30. April 2001). Die gleichen Werte zeigten sich auch noch bei den Untersuchungen im Juli 2001 im Universitätsklinikum H1 bei K4.

Auch aus den drei Gutachten, die in den Jahren nach den beiden Unfällen erhoben worden sind, ergeben sich keine Anhaltspunkte für Schädigungen des linken Auges. L1 hat im März 2002 am linken Auge gar keine Veränderungen festgestellt. Bei der Untersuchung bei A1 im Oktober 2003 wurde zwar links eine Sehschärfe von nur noch auf 0,5 gemessen, allerdings stufte der Sachverständige dieses Ergebnis als Aggravation ein, weil keine pathologischen Befunde vorlagen, die es erklären konnten. Dass diese Annahme nicht falsch war bzw. das Messergebnis keine dauerhafte Minderung des Visus ergeben konnte, wurde später bei der Begutachtung durch L2 im Herbst 2006 bestätigt. Die dort durchgeführten - objektiven - Untersuchungen ergaben einen Visus von 1,1 links. Zwar hat L2 wegen der Besonderheiten des Messverfahrens nur einen „Mindestvisus“ von 0,55 als nachgewiesen angenommen. Gleichwohl zeigen diese Ergebnisse, dass es nicht zu einer gravierenden Verschlechterung gekommen war. Auch in der Zeit seitdem hat sich der Visus des Klägers nicht verschlechtert. Aus dem Attest von W1 und G2 vom 7. März 2019, das der Kläger in diesem Verfahren selbst vorgelegt hat, ergibt sich ein Visus links von 0,6 cc.

Für die Beurteilung des Visus am linken Auge ist nicht relevant, welche Messergebnisse aus der Zeit vor April 2001 vorliegen. Aus den Untersuchungen bei K1, im Diakonissen-Krankenhaus und auch noch im Universitätsklinikum H1 ergibt sich, dass der Visus auch nach dem Unfall noch bei 1,0 lag, also nicht beeinträchtigt war. Sofern tatsächlich in den Monaten nach dem Unfall vom 28. September 1981 deutlich niedrigere Werte vorlagen (vgl. die Aufstellung in dem Attest von S1 vom 9. Juni 2005), dann trifft die Ausführung des Klägers zu, dass sich diese Verminderung der Sehschärfe bis zu den beiden Unfällen im April 2001 zurückgebildet hatte. Ob die Minderung der Sehschärfe, die damals gemessen wurde, anlagebedingt war oder auf den Unfall vom 28. September 1981 beruhte, ist ebenfalls unerheblich.

Am rechten Auge hat der Unfall vom 4. April 2001 ebenfalls keine dauerhaften Schäden hinterlassen. Hier wurden zwar bei den Untersuchungen ab dem 9. April (konkret erstmals bei K1 am 11. April) Beeinträchtigungen festgestellt. Diese sind jedoch dem Unfall vom 6. April 2001 zuzuordnen, bei dem der Kläger eine penetrierende Augenverletzung durch ein Metallteil erlitten hatte. Dies haben die Beteiligten im dem Vergleich vom 20. September 2011 festgelegt, weswegen dem Kläger insoweit eine laufende Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH gewährt wird. Auch hier kann zwar als wahr unterstellt werden, dass bereits am 4. April Staub in das Auge gelangt war und ggfs. auch schon an diesem Tag - also vor dem zweiten Unfall - Rötungen oder Reizungen vorlagen. Aber die Folgen dieser Staubeinwirkung sind durch die penetrierende Verletzung am 6. April 2001 überlagert worden. Sofern sie bleibende Auswirkungen gehabt haben sollten - eine Visusminderung rechts bereits am 4. April lässt sich nicht mehr nachweisen, auch nicht durch die Vernehmung der benannten Zeugin -, können diese nach den Verletzungen zwei Tage später nicht mehr abgegrenzt oder beschrieben werden. Hinzu kommt, dass auch hinsichtlich des rechten Auges die Gutachter L1, A1 und L2 keine Folgen der Staubeinwirkung am 4. April gesehen, sondern insoweit ausschließlich den Unfall zwei Tage später angeschuldigt haben. Ihre Ausführungen sind auch nachvollziehbar. Generell ist es medizinisch nicht nachvollziehbar, wieso eine bloße Staubeinwirkung in ein Auge, die keine bleibenden Veränderungen hinterlässt, ggfs. nach längerer Zeit zu einer Visusminderung führen sollte. Anerkannt ist insoweit nur, dass Schleifkörner oder Metallsplitter zu einer Abschürfung der Hornhaut führen können, bei Hinzutreten einer Infektion auch zu Narbenbildungen und Hornhauttrübungen, und dass daraus ggfs. eine Beeinträchtigung der Sehschärfe folgen kann (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 292). Solche Schädigungen der Hornhaut in Folge der Staubeinwirkung am 4. April 2001 lagen bei dem Kläger jedoch nicht vor bzw. konnten nach der Verletzung zwei Tage später nicht mehr festgestellt werden. Auf diesen Punkt hatte der Senat bereits in dem Beschluss vom 2. Februar 2024 in dem PKH-Beschwerdeverfahren des Klägers hingewiesen.

Auch der geltend gemachte Anspruch auf eine weitere Verletztenrente aus § 56 Abs. 1 SGB VII besteht nicht. Zwar setzt ein solcher Anspruch im Falle des Klägers nach § 56 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 nur eine MdE um 10 vH voraus, weil bereits eine weitere Rente bezogen wird („Stützrente“). Jedoch hat der Unfall vom 4. April 2001 nur zu einer vorübergehenden Staubeinwirkung auf die Augen geführt, aber keine dauerhaften Gesundheitsschäden hinterlassen. Daher liegt insoweit keine MdE vor. Dies hatten auch in den Jahren nach den Unfällen die Sachverständigen L1, A1 und L2 so gesehen. Soweit der Kläger auf das Gutachten von R1 vom 6. April 2011 verweist, lassen sich hieraus keine für dieses Verfahren verwertbaren Erwägungen entnehmen, da der Gutachtensauftrag allein die Folgen des Arbeitsunfalls vom 6. April 2011 betraf.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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