L 13 SB 37/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 30 SB 1344/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 SB 37/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28.12.2022 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur Beweiserhebung und Entscheidung nach Maßgabe der nachstehenden unter III dargelegten Vorgaben an das Sozialgericht Gelsenkirchen zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB). Der 0000 in Marokko geborene Kläger, der nur gebrochen Deutsch spricht, erlitt 2012 einen von der Berufsgenossenschaft (BG) anerkannten Arbeitsunfall, und macht seitdem auch gegenüber der Beklagten Hörprobleme sowie Kopfschmerzen geltend.

 

Schon mit Bescheid vom 09.05.2014 hatte die Beklagte bei dem Kläger ab dem 13.02.2014 einen Gesamt-GdB von 30 festgestellt. Die Einzel-GdB wurden dabei mit „20 für Depressionen, Kopfschmerzen und Schwindel“ sowie „20 für Hörminderung, Hörgeräte beidseits“ angegeben. Zugrunde lagen der damaligen Entscheidung eine Auswertung von Befundberichten und der Akten der BG. Hinsichtlich der Kommunikation mit dem Kläger war dabei in dem ersten von der BG eingeholten Gutachten die damalige Ehefrau des Klägers als „Dolmetscherin“ vermerkt, im zweiten Gutachten der BG finden sich dazu keine Angaben. In dem zweiten berufsgenossenschaftlichen HNO-Gutachten aus dem Jahr 2017 heißt es in der Zusammenfassung:

 

„Der nunmehr N01-jähjrige Herr P. arbeitete von 1994 bis heute als Gleisbauer unter beruflichen Lärmpegeln, die geeignet sind, eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit zu verursachen. Schon im Vorgutachten aus dem Jahr 2013 wurde eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit festgestellt. Außerberufliche Lärmeinwirkungen auf das Hörvermögen hatten sich weder damals noch heute feststellen lassen. Es besteht jedoch der Zustand nach einer Kopfverletzung mit vermutlich Gehörgangsfraktur beidseits durch Stoßwirkung auf das Kinn mit Blutung aus beiden Gehörgängen und kurzer Bewusstlosigkeit. Seitdem habe sowohl die Schwerhörigkeit zugenommen als auch das Ohrgeräusch. Inzwischen bestehe ein wesentlich belästigendes Ohrgeräusch. Über Gleichgewichtsstörungen wird nicht geklagt.

 

Bei der heutigen Untersuchung stellen sich sämtliche Befunde im Normbereich dar, insbesondere im Bereich der Ohren auch der Gehörgänge). Bei der Tympanometrie zeigen sich deutliche Unterdrücke in beiden Mittelohren. Bei der Tonschwellenaudiometrie findet sich beidseits eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit.

 

In der Sprachaudiometrie hingegen findest sich beidseits ein noch normales Hörvermögen. Diese Diskrepanz lässt sich nur erklären durch eine zu schlechte Angabe bei der Tonschwellenaudiometrie im Sinne einer Verdeutlichungstendenz (Aggravation). Bei der Sprachaudiometrie handelt es sich um einen Leistungstest. Durch Raten oder Tricksen ist ein derart gutes Hörvermögen während der Sprachaudiometrie nicht möglich. Hingegen ist eine deutlich schlechtere Angabe bei der Tonschwellenaudiometrie durchaus möglich. Das Ergebnis der Tonschwellenaudiometrie passt auch nicht zu den bisherigen Tonschwellenaudiogrammen, auch nicht zur Entwicklung der bisherigen Tonschwellenaudiogramme. Insbesondere gilt dies für die Hörverluste im Bereich der tiefen Frequenzen und zum Teil für die Hörverluste im Bereich der mittleren Frequenzen. Somit muss der Gutachter sich bei der Bemessung des Ausmaßes der Schwerhörigkeit mehr auf das Sprachaudiogramm stützen als auf das Tonschwellenaudiogramm.

 

Die computergestützte Ermittlung der frühen akustisch induzierten Potenziale (BERA) war wegen einer großen Zahl von Artefakten nicht auswertbar.

 

Aufgrund der Aktenlage, der Vorgeschichte und der nachgewiesenen ausreichenden beruflichen Lärmbelastung wird das Ausmaß der beidseitigen Lärmschwerhörigkeit nach dem Ergebnis der Sprachaudiometrie bemessen. Nur dieses Ausmaß wird als durch berufsbedingten Lärm entstanden eingeschätzt.

 

Nach der Tabelle von Feldmann resultiert aus der knapp beginnenden berufsbedingten Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits eine Minderung der Erwerbsfähigkeit, die auf unter 10 % (unter 10 Prozent) geschätzt wird.

 

Daneben besteht ein deutlich schlechteres Hörvermögen im Tonschwellenaudiogramm. Dieses wird als nicht durch berufsbedingten Lärm entstanden eingeschätzt.

 

Daneben besteht inzwischen ein deutlich belästigendes Ohrgeräusch, das im Anschluss an den Verkehrsunfall etwa im Jahr 2013 entstanden sei. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass es sich um einen Berufsunfall (Wegeunfall) handelt. Somit gehe ich davon aus, dass die Folgen des Unfalles nicht als Berufskrankheit zu berücksichtigen sind.

 

Der Verbleib im Beruf und damit in der beruflichen Lärmarbeit ist auch weiterhin nicht zu beanstanden; allerdings ist auf konsequenten individuellen Gehörschutz dringend zu achten.“

 

Ferner ist in den Akten der BG ein Schreiben der privaten Unfallversicherung enthalten, aus dem sich ergibt, dass dort anlässlich der beruflichen Verletzung des Klägers ebenfalls ein Leistungsfall geprüft wurde. Die Akten der privaten Unfallversicherung des Klägers wurden von der Beklagten allerdings nicht beigezogen.

 

Vielmehr holte die Beklagte damals ein eigenes HNO-ärztliches Gutachten über den Kläger ein. In diesem Gutachten – das ebenfalls ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers erstattet wurde – hieß es zusammenfassend:

 

„Ohren: Trommelfelle beiderseits intakt. Gehörgänge mittelweit von gesunder Haut ausgekleidet.

Nasenrachenraum: postrhinoskopisch frei

Nase: Septumdeviation nach links, Schleimhäute unauffällig.

Mundrachen: Rachenring reizlos, Tonsilien klein

Larynx: anatomisch und funktionell intakt

Stimmgabelprüfung: 8a = 440 hz): der Ton wird bei der Hörprüfung nach Weber mittig lokalisiert, bei der Hörprüfung nach Rinne beidseits vor dem Ohr lauter gehört als über die Knochenleitung.

Tonschwellenaudiogramm: rechts 500 Hz 25 d B, 1000 Hz 25 d B, 2000 Hz 60 d B, 3000 Hz 75 d B, 4000 Hz 75 d B, 6000 Hz 90 d B,  links 500 Hz 25 d B, 1000 Hz 30 d B, 2000 Hz 50 d B, 3000 Hz 65 d B,  4000 Hz 70 d B, 6000 Hz 80 d B

Impedanzmessung, Tympanogramm: Beidseits besteht ein normal bewegliches Trommelfell wobei das Compliancemaximum leicht ins Negative verschoben ist. Die Stapediusreflexschwelle liegt wie folgt: rechts 1000 Hz 105 Db; bei 500 und 4000 Hz kein Reflex auslösbar, links bei 1000 Hz 105 d B, 500, 2000 und 4000 Hz kein Reflex auslösbar.

 

Sprachaudiogramm: Die Verständlichkeit für einsilbige Wörter beträgt rechts bei 60 d B 30 %, bei 80 und 100 d B 80 %, links bei 65 d B 40 %, bei 80 d B 70 % und bei 100 d B 75 % Der Hörverlust für Sprache entsprechend dem 50-%igen Verständnis für Zahlen liegt rechts bei 20 und links bei 18 d B. Das Gesamtwortverstehen liegt rechts bei 190 links bei 185. Für das gewichtete Gesamtwortverständnis ergibt sich rechts ein Wert von 165 und links von 167,5. Der prozentuale Hörverlust, ermittelt aus dem gewichteten Gesamtwortverstehen und dem Hörverlust für Zahlen nach den Tabellen von Benninghaus und Röser (1973) beträgt bds. 40 %.

Beurteilung der Hörprüfung:und Zusammenfassung:

Bds. liegt eine Schallempfindungsschwerhörigkeit vor allem im Hochtonbereich vor. In Verbindung mit den Ergebnissen des Sprachaudiogramms zeigt sich bds. eine gering- bis mittelgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit. Aufgrund dieser Hörminderung resultiert eine GdB von 20. Es zeigt sich keine Veränderung zur gutachterlichen Stellungnahme vom 3.5.2014.“

 

Vor diesem aktenkundigen Hintergrund beantragte der Kläger am 18.12.2019 mit dem hier streitgegenständlichen Antrag die Feststellung eines höheren GdB als 30. Er trug vor, er habe ständige starke Kopfschmerzen nach einem Unfall mit Kopfprellung im Jahr 2012, ferner bestehe bei ihm eine Hörminderung und eine Sehminderung. Er habe zudem Asthma mit Atemnot bei Belastung und Knieprobleme links.

 

Die Beklagte zog Behandlungs- und Befundberichte des Arztes für Allgemeinmedizin U., des Augenarztes V., der Ärztin für Innere Medizin/ Lungen- und Bronchialheilkunde Q., des Arztes für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde J. sowie des Durchgangsarztes Z. bei.

 

Der beratende Arzt der Beklagten kam darauf gestützt zu dem Ergebnis, dass nunmehr ein Einzel-GdB 20 für Depression, Kopfschmerz und Schwindel, ein Einzel-GdB 30 für Hörminderung, ein Einzel-GdB 10 für Kniegelenksverschleiß und ein Einzel-GdB 10 für Funktionsstörung der Wirbelsäule festzustellen seien. Insgesamt ergebe sich daraus ein Gesamt-GdB 40.

 

Die Beklagte folgte dieser Stellungnahme und stellte mit Bescheid vom 04.05.2020 ab dem 18.12.2019 für den Kläger einen GdB von 40 fest.

 

Hiergegen erhob der Kläger anwaltlich vertreten Widerspruch mit der Begründung, die Einzel-GdB seien zu niedrig bewertet worden. Ergänzend reichte er dazu Kurzarztbriefe der Ärztin für Neurologie X. ein. Diese ging beim Kläger von einem chronischen Spannungskopfschmerz aus.

 

Die Beklagte forderte von dem Arzt für Allgemeinmedizin U. einen weiteren Behandlungs- und Befundbericht an. Der Widerspruch des Klägers wurde sodann - gestützt auf die Aktenlage - von der Bezirksregierung Münster als zuständiger Widerspruchsbehörde mit Widerspruchsbescheid vom 28.10.2020 zurückgewiesen.

 

Hiergegen erhob der Kläger am 02.12.2020 Klage beim Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen.

 

Er hat vorgetragen, dass der Gesamt-GdB zu niedrig festgestellt worden sei. Außerdem seien sein chronischer Spannungskopfschmerz und Erschöpfungsdepressionen nicht festgestellt worden.

 

Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

 

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2020 zu verpflichten, bei ihm einen Grad der Behinderung von wenigstens 60 anzuerkennen.

 

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

 

                                               die Klage abzuweisen.

 

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung von Behandlungs- und Befundberichten des Arztes für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde J. und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie C.. Die den Ärzten vom SG gestellten Fragen lauteten:

 

„1. Welche Befunde haben Sie bei d. Kl. seit Dezember 2019 erhoben?

2. Welche Medikamente haben Sie verordnet?

3. Bitte geben Sie den prozentualen Hörverlust des Kl. je Ohr an und fügen die von Ihnen erstellten Audiogramme bei.

4. Haben Sie bei d. Kl. Tinnitus festgestellt?

Falls ja: Hat dieser zu nennenswerten psychischen Begleiterscheinungen oder Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit geführt? Ggf. welcher Art?

5. Haben Sie bei d. Kl. Gleichgewichtsstörungen festgestellt?

Falls ja: Bitte nehmen Sie konkret dazu Stellung, bei welcher Art der Belastung (siehe Belastungsstufen unter a) welche Art der Gleichgewichtsstörung auftritt (siehe Arten der Gleichgewichtsstörung unter b).

a)

aa) alltägliche Belastungen (z.B. Gehen, Bücken, Aufrichten, Kopfdrehungen, leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung)

bb) höhere Belastungen (z.B. Heben von Lasten, Gehen im Dunkeln, abrupte Körperbewegungen) außergewöhnliche Belastungen (z.B. Stehen und Gehen auf Gerüsten, sportliche Übungen mit raschen Körperbewegungen)

b)

aa) Gefühl der Unsicherheit oder

bb) eine leichte Unsicherheit und geringe Schwindelerscheinungen (Schwanken, Stolpern, Ausfallschritte) oder eine stärkere Unsicherheit mit Schwindelerscheinungen (Fallneigung, Ziehen nach einer Seite) oder

dd) heftiger Schwindel und erhebliche Unsicherheit mit teilweiser Erforderlichkeit einer Gehhilfe

c) Haben Sie nennenswerte Abweichungen bei den Geh- und Steh versuchen festgestellt? Falls ja: Handelt es sich um leichte oder deutliche Abweichungen? Auf welcher Belastungsstufe treten die Abweichungen auf?

d) Haben Sie apparative neurologische Untersuchungsbefunde erhoben? Falls ja, liegen hier Normabweichungen vor?

 

6. Als Behinderungen (Funktionsbeeinträchtigungen von Dauer) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), vormals Schwerbehindertengesetz hat der ärztliche Berater des Versorgungsamtes bereits Feststellungen getroffen (siehe anliegende Kopie der gutachterlichen Stellungnahme von L. vom 17.10.2020.

 

Stimmen Sie dieser Beurteilung zu und sind nach Ihrer Auffassung alle Behinderungen d. Kl. auf Ihrem Fachgebiet erfasst? Wenn nicht, wie begründen Sie Ihre abweichende Auffassung konkret nach den von Ihnen erhobenen Befunden unter Berücksichtigung der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und der Anlage dazu?“

 

Die Antwort von C. zu der entsprechenden Frage 4 lautete:

 

„Es bestehen leicht depressive Persönlichkeitszüge, das Vollbild einer depressiven Episode ist nicht erfüllt.“

 

und zu Frage 6:

 

„Es liegen tägliche pulsierende Kopfschmerzen vom Spannungstyp vor, die den Patienten deutlich beeinträchtigen. Die Behinderungen auf meinem Fachgebiet sind ausreichend erfasst.“

 

Die Antworten von J. zu Frage 4 lautete:

 

„Bzgl. der Tinnitussymptomatik – s. Diagnose 1 oben. Weitere Aussagen zu der Tinnitussymptomatik können nicht erfolgen, da eine weiterführende Anamnese nicht erhoben wurde.“

 

Und zu Frage 6:

 

„Der Beurteilung in der gutachterlichen Stellungnahme von L. vom 17.10.20 stimme ich bzgl. des HNO Gebietes für Hörbehinderung (u. Tinnitus) mit einem Einzel-GdB von 30 % zu. Grundsätzlich könnte der Tinnitus je nach Belastung auch mit einer Einzel MdE von 10 % bewertet werden. Weiterführende anamnestische Angaben (s. zu 4) liegen aber nicht vor.“

 

Außerdem wurden durch das SG von dem Kläger Migränetagebücher angefordert. Weiterhin übersandte der Kläger einen Entlassungsbrief aus der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Ev. Krankenhaus S. vom 05.09.2021.

 

Die Beklagte hat dazu – ärztlich beraten – ausgeführt

 

„Mit Bescheid vom 7.6.2019 wurde ein Ges-GdB von 30 bei folgenden Leiden festgestellt.

 

1. Depression, Kopfschmerzen, Schwindel                              GdB 20

2. Hörminderung                                                                                                                           GdB 20

3. Kniegelenksverschleiß                                                                                                GdB 10

4. Funktionsstörung der Wirbelsäule                                                     GdB 10

 

Ein Änderungsantrag erfolgte in 12/2019.

Relevante Befunde zum Änderungsantrag:

 

Dem Medikamentenplan ist eine antidepressive Medikation zu entnehmen, keine spezifische Kopfschmerzmedikation.

 

Befund Dr. U. 1/2020:

Mitgeteilt wird ein chronischer Spannungskopfschmerz ohne nähere Angaben zu Häufigkeit, Stärke, Medikation …

 

Nach dem Befund des Augenarztes V. bedingt die korrigierte Sehminderung einen GdB kleiner 10.

 

HNO-Befund J. 2/2020: Nach Auswertung der Audiogramme – bevorzugt des Sprachaudiogramms – GdB 20.

Unter Mitberücksichtigung des Tinnitus ist ein GdB von 30 vertretbar.

 

Befunde zum Widerspruch:

 

Klinik Neurologie S. 12/2018:

Diagnostiziert wurde ein chronischer Spannungskopfschmerz. Es bestand eine Bedarfsmedikation mit Tropfen 2-3x/Woche (Novalgin).

 

Es liegt im Klageverfahren ein aktuelleres Audiogramm (J.) aus 2020 vor. Es ergibt sich kein höherer GdB (s.o.).

 

Weiterhin liegt ein ergänzender Befund des Neurologen C. vor. Demnach leidet Herr B. unter täglichen Spannungskopfschmerzen ohne vegetative Begleitsymptomatik. Es findet sich kein pathologisches organisches Korrelat. Mehrere medikamentöse Therapieversuche führten laut Herrn B. nicht zu einer Besserung. Es wird im Bedarfsfall (bei „starken Kopfschmerzen“) mit Novalgin-Tropfen behandelt. Es findet sich keine Angabe, wie oft Herr B. zur Zeit tatsächlich diese Bedarfsmedikation nimmt. Nach Angabe des Neurologen liegt eine leichte depressive Störung vor. Relevante Gleichgewichtsstörungen wurden nicht festgestellt.

 

Es wird jetzt ein Kopfschmerztagebuch für das Jahr 2021 vorgelegt. Es gibt dort Tage mit ein- bis dreimal tgl. auftretenden Kopfschmerzen, jedoch auch schmerzfreie Tage. Der festgestellte Spannungskopfschmerz, der mit Metimazol (Novalgin) gut behandelt wird, ist in seiner Intensität geringer als eine echte Migräne oder ein Clusterkopfschmerz, die eine deutlich stärkere analgetische Therapie erfodern. Nach VersmedV V4 Kapitel 2.3 käme bei einer Analogbewertung zur Migräne ein Einzel-GdB von 20 in Frage. Dies wurde auch vom behandelnden Neurologen und Psychiater O. bestätigt. Das Kopfschmerztagebuch führt hier zu keiner Änderung.

 

Nachgereicht wird ein Krankenhausentlassungsbericht aus der Chirurgischen Abteilung des EVK S. vom 02.09. – 05.09.2021 über den Verlust einer Gallenblase, bei Gallensteinleiden und dadurch verursachter Bauchspeicheldrüsenentzündung. Ein weiterer Entlassbrief aus der Inneren Abteilung des EVK S. vom 15.12. – 23.12.2021 beschreibt die Stent-Einlage in den Bauchspeicheldrüsengang und die Entfernung einer eitrigen Zyste der Bauchspeicheldrüse. Es handelt sich hierbei um curativ durchgeführte Maßnahmen, die vorübergehender Natur sind und mit einem Einzel-GdB unter 10 zu bewerten sind.

 

Es bleibt also bei der eingangs genannten Beurteilung:

 

1.) Depression, Kopfschmerzen, Schwindel                             Einzel-GdB 20

2.) Hörminderung, Ohrgeräusche                                                           Einzel-GdB 30

3.) Kniegelenksverschleiß                                                                                   Einzel-GdB 10

4.) Funktionsstörung der Wirbelsäule                                                    Einzel-GdB 10

Gesamt.GdB 40“

 

Das SG hat die Klage hierauf gestützt durch Gerichtsbescheid vom 28.12.2022 als unbegründet abgewiesen und dazu ausgeführt:

 

„Die Kammer konnte die Streitsache durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Abs. 1 SGG entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Beteiligten auf diese Entscheidungsmöglichkeit hingewiesen worden sind. Ihr Einverständnis dazu war nicht erforderlich.

 

Die fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

 

Der Kläger wird durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 28.10.2020 nicht gemäß § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da diese Bescheide rechtmäßig sind.

 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung eines höheren GdB als 40.

 

Nach § 152 des Sozialgesetzbuchs – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt (§ 152 Abs. 1 Satz 5, 6 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 152 Abs. 3 Satz 3 SGB IX). Grundlage der Entscheidung nach § 152 Abs. 1 SGB IX ist die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV).

 

Bei der Feststellung des Gesamt-GdB nach Teil A Nr. 3 VersMedV ist in der Regel von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Anschließend ist im Hinblick auf alle weiteren Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Behinderungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Nach Teil A Nr. 3 d (ee) VersMedV führen zusätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsbehinderungen nebeneinanderstehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

 

Die Einzel-GdB und der Gesamt-GdB sind von der Beklagten korrekt erfasst worden. Dies wird von allen behandelnden Ärzten bestätigt. Sie hielten übereinstimmend alle Funktionsbeeinträchtigten für korrekt erfasst. Daraus ist zu schließen, dass auch der Gesamt-GdB 40 in der richtigen Höhe festgestellt wurde. Dies gilt insbesondere auch für den Einzel-GdB 20 für die täglich auftretenden Kopfschmerzen. Diese werden mit Metamizol (Novalgin) gut behandelt und sind in ihrer Intensität geringer als die einer echten Migräne oder eines Clusterkopfschmerzes. Bei einer Analogbewertung nach B 2.3 VersMedV käme für eine Migräne bei mittelgradiger Verlaufsform ebenfalls nur ein Einzel-GdB von 20 in Betracht. Nach den vom Kläger eingereichten Krankenhausberichten der Chirurgischen Abteilung des Ev. Krankenhauses S. von September 2021 über den Verlust einer Gallenblase bei Gallensteinleiden und Bauchspeicheldrüsenentzündung ist hierfür nach B 10.3 VersMedV kein GdB zu veranschlagen, da dadurch keine dauerhaft verbleibenden Funktionsbeeinträchtigungen bestehen.

 

Da bereits die behandelnden Ärzte ausdrücklich der Bewertung der Beklagten zustimmten, war eine weitere Beweiserhebung von Amts wegen nicht erforderlich.“

 

Gegen diesen Gerichtsbescheid richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers.

 

Das erkennende Gericht hat (auch) dieses Verfahren in seine generellen Ermittlungen zu den Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) einbezogen. In diesen Musterverfahren ist gemäß § 106 Absatz 2 Nr 4 SGG die Beauftragung einer interdisziplinären Gruppe von rund 25 Sachverständigen zu den Maßstäben für Gutachten nach der oben genannten Versorgungsmedizinverordnung erfolgt.

 

Rechtlicher Hintergrund dieser Ermittlungen ist, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach den rechtlichen Vorgaben der §§ 103, 106 SGG zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet sind und dabei nach der Rechtsprechung des BSG und des BVerfG auch generelle Fragen bzw. Erfahrungssätze nach dem aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft ermitteln, bewerten und feststellen müssen, soweit diese entscheidungserheblich sind (vgl. zuletzt BSG Urteil vom 28.6.2022 – B  2 U 9/20 R- sowie Bundesverfassungsgericht  - BVerfG - Entscheidungen vom 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 - BvR 595/14 -). Von solchen Ermittlungen dürfen die Sozialgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG auch aus Kostengründen nicht absehen (vgl. BVerfG amtliche Entscheidungssammlung – Band 50, 32).

 

Tatsächlicher Hintergrund dieser Ermittlungen ist der Umstand, dass in jüngerer Zeit zunehmend offenbar wird, wie stark die Gesundheitsdaten, die die deutschen Sozialgerichte regelmäßig von den behandelnden Ärzten, Kliniken und Therapeuten gemäß § 106 SGG in Verbindung mit § 377 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) im Rahmen sogenannter Befundberichte erhalten, mittlerweile gezielt manipuliert („hochcodiert“) werden. Dies geschieht zum Teil, weil die Leistungserbringer durch lukrativere Diagnosecodes nach dem geltenden deutschen Recht höhere oder längerfristigere Erlöse erzielen (vgl. dazu zB BSG Urteil vom 18.12.2018 – B 1 KR 40/17 – R).

 

Zum Teil geschehen diese Manipulationen von Gesundheitsdaten auch, weil Antragsteller durch simulierte Erkrankungen in den Genuss von ihnen nicht zustehenden Sozialleistungen gelangen wollen. Dies kann bis zum strategischen Aufbau von ganzen Krankheitslegenden und Vorlage von kriminell gefertigten falschen medizinischen Gutachten reichen, insbesondere durch Vorspiegeln empirisch schwer fassbarer Erkrankungen wie Depressionen oder Schmerzen. Es gibt mittlerweile sogar ärztliche und juristische Berater, die auf ein entsprechendes „Coaching“ für das Vortäuschen von Erkrankungen mit dem Ziel von Rentenbetrug spezialisiert sind und die damit extrem hohe Schäden in der Sozialversicherung verursachen (vgl.zB: www.fruehrente.net; exemplarisch zu einem solchen Fall aus NRW: Frigelj, Die Welt, 20.4.2017: Millionenschwerer Sozialbetrug - Der Kaputtschreiber aus dem Ruhrgebiet). Der durch manipulierten Diagnosen bei den Sozialleistungsträgern des deutschen Gesundheitswesens entstehende Schaden beläuft sich auf viele Milliarden Euro jährlich (vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages 16/3930 Seite 191, 17/14575 Seite 1). Typischerweise werden dabei schon die behandelnden Ärzte bewusst mit falschen anamnestischen Angaben getäuscht. Dann wird mit den so erwirkten Attesten der getäuschten Ärzte die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft beantragt – um mit Hilfe dieses Schwerbehindertenausweises im Ergebnis die Gewährung eine Rente zu erwirken

 

Allerdings ist in der jüngeren Zeit auch zu beobachten, dass selbst die deutschen gesetzlichen Krankenkassen (die als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst sind) den dysfunktionalen Anreizen im deutschen Gesundheitssystem erliegen und Druck auf behandelnde Ärzte ausüben, die Erkrankungen von Versicherten zu Unrecht hochzucodieren. Dies geschieht nach den jüngsten Feststellungen des deutschen Bundesamtes für soziale Sicherung, weil die deutschen gesetzlichen Krankenkassen so in den Genuss von ihnen nicht zustehenden Ausgleichszahlungen nach dem sogenannten Morbiditäts-Risiko-Strukturausgleich gelangen können. Auch das Schadensvolumen aus diesen – sogar von staatlichen Dienststellen - zu Unrecht manipulierten Daten beläuft sich auf mehrere Milliarden Euro jährlich  (vgl. dazu: Deutsches Ärzteblatt vom 6.12.2022). Auch gehen die Sozialversicherungsträger seit der Corona-Pandemie verstärkt dazu über auch wesentliche Leistungs-Entscheidungen auf der Grundlage von Telefon-Befragungen ohne körperliche Befunderhebungen zu treffen, so zB in der Pflegeversicherung oder bei Krankschreibungen. Auch das ist ein Einfallstor für erhebliche Manipulationen.

 

Wirksame Instrumente zur Kontrolle und zur Aufdeckung dieser Manipulationen im deutschen Gesundheitssystem fehlen bislang, was wohl damit zusammenhängen dürfte, dass praktisch alle Akteure des Systems mit Ausnahme der Beitragszahler davon profitieren (vgl. dazu: Schirmer/Sielaff: Zusammenarbeit der Kranken- und Pflegekassen in der Fehlverhaltensbekämpfung, in G + S 2023, 29 ff; Benstetter,/Schirmer: Betrug und Missbrauch in der Krankenversicherung, in Grinblat/Etterer/Plugmann – Hrsg – Innovationen im Gesundheitswesen, 2022, 33 ff, 49 ff.).

 

Die deutschen Sozialgerichte sehen sich  damit als einzige neutrale Instanz im Sozialsystem und als Hüter des sozialen Rechtsstaates bei ihren medizinischen Ermittlungen, wie sie nun (auch) im Ausgangsverfahren erforderlich sind, mittlerweile einem Zustand gegenüber, in dem die früher zuverlässigen Daten aus der Behandlung von Patienten im deutschen Gesundheitswesen heute in weitem Umfang durch fehlgeleitete Interessen kontaminiert und damit unrichtig, verfälscht, unbelastbar oder sogar gänzlich unbrauchbar sind.

 

Ziel der Ermittlungen des erkennenden Gerichts in den oben genannten Musterverfahren und Inhalt der daraus auch hier in das Verfahren des Klägers eingeführten Gutachten ist daher einerseits genau herauszufinden, in welchem Maß es überhaupt noch belastbare Gesundheitsdaten aus Quellen des deutschen Gesundheitssystems gibt bzw. wie sich diese für sozialgerichtliche Verfahren ermitteln und nutzbar machen lassen (hier geht es insbesondere um die sog. Primärdokumentation der Leistungserbringer, die üblicherweise noch unabhängig von späteren Codierungen erfolgt und daher vergleichsweise zuverlässig ist (vgl. dazu zum Beispiel jüngst Tintner und Böwering-Möllenkamp, Tagungsbericht: Workshop des Deutschen Sozialgerichtstages vom 20.4.2023 „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdevalidierung“, Unterlagen abrufbar auf der Internetseite des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. unter Tagungsbericht: Workshop „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdevalidierung“ – Deutscher Sozialgerichtstag)..

 

Andererseits haben die gerichtlichen Ermittlungen in den o.g. Musterverfahren das Ziel, bessere Maßstäbe für möglichst fälschungssichere gerichtliche Gutachten zu gewinnen und damit auch einen Qualitätsstandard zu setzen, der Manipulationen künftig einen Riegel vorschiebt.

 

Die Zusammenfassung der insoweit bislang ermittelten Ergebnisse erfolgte in dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Gaidzik. (der auch als korrespondierender Autor der in Deutschland für die allgemeine medizinische Begutachtung geltenden ärztlichen Leitlinien wirkt (vgl. Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung, AWMF Registriernummer 094/001 Entwicklungsstufe 52 k Stand 1/2019). Prof. Dr. Gaidzik hat im Wesentlichen Folgendes dargelegt:

 

„Anders als in Frankreich, wo Sachverständige in einem gesonderten Verfah­ren und nach Absolvierung einer spezifischen Ausbildung tätig werden, oder in Ös­terreich, wo die gerichtlichen Sachverständigen einer Zertifizierungspflicht durch die Ärztekammern unterliegen, sind die fachlichen Voraussetzungen für die „Gehilfen“ bzw. „sachkundiger Berater“ in Deutschland nur fragmentarisch normiert. Eine ge­nerelle Legaldefinition des „ärztlichen/medizinischen Sachverständigen“[1] fehlt ebenso wie - von Ausnahmefällen abgesehen - normative Vorgaben für deren Auswahl. Die einschlägigen Regelungen in Strafprozessordnung (StPO) und der ZPO, wobei letztere bekannt­lich auch durch Verweisungsvorschriften im Sozialgerichts- und Verwaltungspro­zess gelten, stellen die Auswahl explizit oder implizit im Wesentlichen in das Ermessen des Gerichts. Nichts Anderes gilt für die vorgelagerte Auswahlentscheidung etwa im Sozialverwaltungsverfahren.

Die gesetzlichen Regelungen knüpfen hinsichtlich der Übernahmepflicht an die ärztliche Approbation an (§ 407 Abs. 1 ZPO), in der forensischen Praxis wird darüber hinaus regelhaft die Facharztqualifikation vorausgesetzt. Lediglich in einzelnen Rechtsgebieten finden sich zusätzliche Anforderungen im Gesetz verankert, wie etwa im Betreuungsrecht (§ 280 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder bei der fachkundigen Überprüfung der gesundheitlichen Eignung im Zusammenhang mit der Fahrerlaubnisverordnung (§11 Fahrerlaubnisverordnung).

Umso wichtiger erscheint es, bei der konkreten Auswahlentscheidung (auch) inhalt­liche Qualitätsanforderungen einfließen zu lassen. In der Gerichtspraxis finden nach Kenntnis des Verfassers gerichtsinterne Listen Anwendung oder es wird bei den Landesärztekammern nachgefragt. Beides kann fehlerbehaftet sein. Interne Listen orientieren sich zwangsläufig an mehr oder minder subjektiven Erfahrungen mit einzelnen Gutachtern, was der tatsächlichen Qualität entsprechen kann, aber nicht muss. Insbesondere wenn sich die positiven Erfahrungen vor allem an der Schnelligkeit der Gutachtenerstattung orientieren, was prozessökonomisch Sinn macht, jedoch nicht zwangsläufig die inhaltliche Güte zu belegen vermag, ist eine dadurch geprägte Auswahl kritisch zu hinterfragen. Die Verständlichkeit der argumentativen Herleitung des Ergebnisses ist fraglos ein sinnvolleres Kriterium, allerdings kann auch ein inhaltlich unsinniges Ergebnis dem medizinischen Laien vermeintlich „verständlich“ erscheinen. Die gesetzlich angelegten Kontrollmechanismen durch das Gericht selbst oder die Verfahrensbeteiligten/Parteien sind in ihrer Effektivität - soweit dem Verfasser zugänglich - empirisch nicht ausreichend belegt. Die allein existierenden Analysen von Stichproben etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung[2] zeigen einen Schwerpunkt der Divergenzen im neurologisch-psychiatrischen Bereich, listen allerdings nur in allgemeinen Kategorien die Gründe für die Abweichung auf (z.B. Verschlechterung, weitere Erkrankungen, divergente Wertung etc.), beschreiben aber nicht den Argumentationsweg der Gerichte in der Entscheidung zwi­schen den gutachtlichen Positionen. Immerhin wird aber auch hier, die Bedeutung der spezifisch gutachtlichen Qualifikation/Ausbildung als Garant für die inhaltliche Güte hervorgehoben.

Die Ärztekammern als Ansprechpartner für die Gutachterauswahl haben über die Weiterbildungs- und eventuell Fortbildungsqualifikation ihrer Mitglieder hinaus keine Kenntnisse zu einer besonderen gutachtlichen Expertise, z.B. zu einzelnen Krank­heitsentitäten oder Rechtsgebieten. Erschwerend kommt hinzu, dass das Erstellen von Gutachten früher explizit zum Weiterbildungsinhalt verschiedener Fachgebiete gehörte, seit geraumer Zeit aber aus den Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern in den klinischen Bereichen herausgenommen wurde. Dies soll und wird sich (hoffentlich) zukünftig wieder ändern, da das Sachverständigenwesen als Ausbildungsgegenstand sowohl wieder in die Weiterbildung wie auch - in Grundzügen - bereits ins Medizinstudium implementiert werden soll. Diese Perspektiven in Aus- und Weiterbildung garantieren aber gegenwärtig und wohl auch auf absehbare Zeit nicht die erforderlichen methodischen Kenntnisse in der Begutachtung. Vielmehr gilt weiterhin der Erfahrungssatz, dass ein erfahrener und medizinisch qualifizierter (Fach-)Arzt aus klinischen Fächern nicht zwangsläufig auch ein guter Gutachter ist.

Einige Ärztekammern, so etwa im Land Berlin, versuchen diesen Informati­onsdefiziten zu begegnen führen Listen von Fachärzten, die die dortige Ausbildung entsprechend der strukturierten curricularen Fortbildung „medizinische Begutachtung“ der Bundesärztekammer absolviert haben, an deren Entwicklung der Verfasser ebenfalls federführend mitwirken durfte. In diesen Kursen werden methodische Grundkenntnisse in der Begutachtung vermittelt und auch - soweit gutachtlich relevant - die rechtlichen Rahmenbedingungen einzelner Rechtsgebiete erläutert. Ähnliches gilt für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die neben ihrer Facharztbezeichnung die Zusatz-Weiterbildung „Sozialmedizin“ absolviert haben. Der bisher dort anzutref­fende Schwerpunkt im Bereich der Zustandsbegutachtung qualifiziert insbesondere für die Rentenversicherung oder das Schwerbehindertenrecht, während Kausalitäts- Fragestellungen in den Hintergrund traten. Mit dem Bemühen, die sozialmedizini­sche Ausbildung an das strukturierte Curriculum der Bundesärztekammer anzunä­hern und auch die Grundzüge der Kausalitätsbegutachtung einzubeziehen, wird hier zumindest mittelfristig eine Änderung zu erwarten sein. Allerdings bleibt dann das Problem bestehen, dass diese Zusatz-Weiterbildung außerhalb der inneren Medizin und der Traumatologie wenig Verbreitung besitzt, z.B. in den nervenärztlichen Fächern.

Es wäre daher wünschenswert, sich bereits vor der Bestellung eines Sachverstän­digen über dessen gutachterliche Kompetenz zu vergewissern. Einige Fachgesell­schaften, wie z.B. die Deutsche Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB), bieten für die dort kooperierenden Fachgebiete (Neurologie, Psychiatrie, Neurochirurgie) gesellschaftsbezogene „Zertifikate“ an, die sowohl in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht besondere Erfahrungen in einem Supervisi­onsprozess prüfen, ln anderen Bereichen, so etwa bei der Fachgesellschaft für in­terdisziplinäre medizinische Begutachtung (FGIMB) oder die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) sind solche Zertifizierungsprogramme in der Vorbereitung. Ferner existieren mittlerweile auch universitär angesiedelte Aus­bildungsprogramme, so zum Beispiel das an der „Dresden International University (DIU)“ angesiedelte Ausbildungsprogramm „Qualifizierung zum medizinischen Sachverständigen (CPU)“, welches allerdings schon auf Grund des erheblichen Zeit- und Kostenaufwands eher von Ärztinnen und Ärzten besucht wird, die aus­schließlich oder doch schwerpunktmäßig gutachterlich tätig werden wollen. All diese Qualifizierungsinstrumente können im Vorfeld der Beauftragung von den Gerichten erfragt werden.

Um einem möglichen Einwand vorzubeugen: Eine solche Ausbildung oder ein „Zertifikat“ ist kein Garant für ein fachadäquates Gutachten. Erst recht sind damit krimi­nelle Aktivitäten, wie sie in - allerdings wirtschaftlich bedeutsamen - Einzelfällen in den vergangenen Jahren bekannt wurden, auszuschließen. Beides ist jedoch aus Sicht des Verfassers kein Grund, bei der Auswahl der Sachverständigen im Rechtsstreit auf ein solches Kriterium zu verzichten, wird doch zumindest das Be­mühen belegt, sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen sowie den inhaltlichen Anforderungen in den einzelnen Rechtsgebieten ausbildungsmäßig zu befassen.

In nahezu allen Stellungnahmen der Fachgutachter wird die Bedeutung der Vollständigkeit der Anknüpfungstatsachen hervorgehoben. Die gerichtliche Praxis trägt dem aus ihrer Sicht nur sehr partiell Rechnung. Die Verwaltungsakten beschränken sich zumeist auf etwaige Abschlussberichte von stationären Behandlungen in Akutkrankenhäusern oder Reha-Kliniken, hinzukommen eventuell noch vorgelegt ärztliche „Atteste“ von Behandlern. Soweit der Verfasser die Praxis nach Klageerhebung im Sozialgerichtsprozess überblickt, werden routinemäßig die Behandler von der Klägerseite listenmäßig erfasst und jeweils Be­fundberichte eingeholt, um dann das Gutachten mit einer entsprechenden Beweisanordnung in Auftrag zu geben, wobei auch hier in der Regel Formblätter mit diver­sen gesetzlichen oder von der Rechtsprechung definierten Definitionen Verwen­dung finden.

Eine Beiziehung der kompletten Behandlungsdokumentation ist die Ausnahme. Gleiches gilt für behandlungsunabhängige medizinische Informationen, soweit sie nicht bereits aktenkundig geworden sind, wie etwa ein Vorerkrankungsverzeichnis etc. Die vom Sachverständigen als Kernaufgabe geforderte Konsistenzprüfung ei­nes Beschwerdebildes wird dadurch zwangsläufig erschwert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zusammenstellung sämtlicher medizinischer Unterlagen unter Ergänzung nicht-medizinischer Unterlagen etwa zur Berufslaufbahn etc. zeitintensiv und auf Grund der Inanspruchnahme entsprechender personeller Ressourcen auch kostenaufwendig ist. Andererseits ist nur so dem Sachverständigen wie auch den übrigen Prozessbeteiligten eine Kontrolle möglich, ob die im Gutachten beweisrechtlich und leitlinienmäßig geforderte Konsistenzprüfung sich auf die aktu­elle Gutachtensituation mit einer mehr oder minder vollständigen Aktengrundlage beschränkt oder weitere, bislang nicht verarbeitete Informationen in einem zeitlichen Längsschnitt zur Verfügung stehen. In Bereichen, in denen der psychischen Komponente eine besondere (z.B. Schmerzbegutachtung) oder sogar die ausschlaggebende Bedeutung zukommt (z.B. Depression, PTBS), sind, so unisono die Fachgutachter aus den betroffenen Fächern solche Informationen auf Grund der methodenimmanent eingeschränkten Objektivierbarkeit von Beschwerden essentiell. Interessanterweise wird aber auch in den somatischen Fächern sowohl von den Sachverständigen wie auch in der Umfrage die Vollständigkeit der medizinischen wie außermedizinischen Anknüpfungstatsachen angemahnt.

Zwar bleibt es dem Sachverständigen unbenommen, auch nach Erhalt des Auftrags etwaige Unterlagen nachzufordern, was aber ebenfalls Interaktionsprobleme auf­werfen kann, insbesondere wenn das Gutachten aus vermeintlich prozessökonomi­schen Gründen schnell erstellt werden soll oder der Sachverständige aus anderen Gründen eine mehrwöchige Verzögerung zu vermeiden möchte. In Fällen, in denen nicht nur der Proband, sondern womöglich auch die Begutachtenden sich von sachfremden Erwägungen in der Informationsverarbeitung leiten lässt, wirken sich derartige Defizite bei den Anknüpfungstatsachen erst recht negativ aus, entfallen damit doch auch wichtige Kontrollinstrumente für die übrigen Prozessbeteiligten.

 

ln Rechtsgebieten, in denen (auch) Kausalitätsfragen gutachtlich zu prüfen sind, kommt als weiteres Problem die Aufklärung des situativen Kontextes hinzu. Bei vermeintlich traumatischen Ereignissen ist die Frage der Eignung der Einwirkung ein zentraler Aspekt im Argumentationsgefüge. Eine per se ungeeignete Einwirkung für den beklagten (Primär-) Schaden beendet in der Regel die gutachtliche Prüfung. Informationen zum primären Ereignis sind im medizinischen Bereich fehleranfällig, da etwa Beschreibungen zum Unfallhergang in Arztbriefen unter therapeutischem Blickwinkel verfasst werden und nicht der nachträglichen gutachterlichen Objektivie­rung dienen. In anderen Bereichen (z.B. im sozialen Entschädigungsrecht) kann man auf Zeugenaussagen angewiesen sein. In solchen Fällen kann vorgeschaltete Zeugenvernehmung durch das Gericht die Qualität der gutachterlichen Beurteilung erhöhen, wenngleich unter verfahrensökonomischen Aspekten ein solcher Ablauf zwangsläufig mit Verzögerungen einhergehen muss. Andererseits wird nur so das Gericht in die Lage versetzt, seinen Aufgaben nach § 404 a Abs. 2, 3 u. 4 ZPO zu genügen und die Sachverständigen - fallbezogen - in ihre Aufgaben einzuweisen, gegebenenfalls Tatsachen vorzugeben und - falls bereits ex ante erkennbar - die Befugnisse in der Beweiserhebung klarzustellen (z.B. Anwesenheitsrecht Dritter bei der Untersuchung, Erheben von Fremdanamnesen).

Als weitere Folge dieser Vorarbeiten ist dann eine gezielte, auf die Gegebenheiten des Einzelfalls abgestellte Beweisanordnung möglich, statt sich nur auf die allge­meinen Vorgaben der üblichen Formblätter zu beschränken.

Nach Erstattung des Gutachtens eröffnen sich unterschiedliche Möglichkeiten der Kontrolle.

 

So ist darauf zu achten, dass die Anknüpfungstatsachen im Akteninhalt vollständig aufgeführt sind und - symmetrisch - in der Beurteilung verarbeitet werden. Hier wirkt es sicherlich kontraproduktiv, wenn dem Sachverständigen - letztlich aus Kostengründen - explizit aufgegeben wird, auf die Wiedergabe des Akteninhalts zu verzichten, da deren Kenntnis bei allen Verfahrensbeteiligten unterstellt werden könne. Der erfahrene Sachverständige wird dies zum Anlass nehmen, den benötigten Akteninhalt in die Beurteilungsabschnitte einzuarbeiten, der weniger erfahrene Sachverständige wird sich möglicherweise veranlasst sehen, es bei einer oberflächlichen Lektüre der Akte zu belassen. Da das Gericht auf Grund fehlenden medizinischen Sachverstands nicht immer die Entscheidungsrelevanz bestimmter Anknüpfungstatsachen beurteilen kann, wird im erstgenannten Fall die Kontrolle erschwert, im letzteren Fall nahezu unmöglich gemacht. Das gilt auch und erst recht für den Fall, dass bestimmte Indizien bewusst ausgeklammert bleiben, um die gutachtliche Argumentationslinie stringenter zu gestalten. Einen weiteren möglichen Schwachpunkt bilde die für die Bearbeitung hinzugezogene Literatur als Ausfluss des - in der Terminologie des BSG - „aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstands“, einschließlich einzubeziehender Leitlinien.

 

Bei allgemeinen Fragen kann gänzlich auf Literatur verzichtet werden, soweit sich ein Gutachter aber in seiner Beurteilung explizit hierauf beruft, dient es ebenfalls der externen Qualitätskontrolle das korrekte Zitat zu fordern, gegebenenfalls unter Beifügung der entsprechenden Studien bzw. Literaturauszüge. Hiervon wird nach der Erfahrung des Verfassers bedauerlicherweise in der Praxis nur selten Gebrauch gemacht, stattdessen belässt man es bei Literaturverzeichnissen als Textbaustein am Ende des Gutachtens, zuweilen sogar mit veralteten Auflagen.

Einen besonderen Stellenwert besitzen in diesem Zusammenhang die Leitlinien der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, der Sozialversicherungsträger sowie Nationalen Versorgungsleitlinien.

 

Erstere sind Ausfluss des fachmedizinischen Kenntnisstandes zum Verabschie­dungszeitpunkt. Spezifisch begutachtungsbezogen Leitlinien erreichen methodenimmanent mangels randomisierter klinischer Studien (CRT) nicht den höchsten Evidenzlevel, bilden aber in einem formalisierten interdisziplinären Diskurs die Meinun­gen der beteiligten Fachgesellschaften ab. Sie sollen einerseits den medizinischen Lesern die rechtlichen Rahmenbedingungen der Begutachtung allgemein oder in Bezug auf einzelne Erkrankungen/Funktionsstörungen näherbringen, andererseits der Standardisierung im Ablauf dienen, um so die Vergleichbarkeit sicherzustellen. Sie sind im Internet bei der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften abrufbar und damit auch dem medizinischen Laien zugänglich.

Die sozialmedizinischen Leitlinien oder sonstigen Empfehlungen der Sozialversi­cherungsträger dienen ebenfalls der Standardisierung der Begutachtung - hier im Sozialverwaltungsverfahren - und zeichnen sich aus Sicht des Verfassers durch die spezifische Sachkunde der beteiligten Beratungsärzte aus. Der weitere Vorteil liegt in der stärkeren Berücksichtigung ökonomischer Aspekte, da aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht bei jeder Begutachtung alle Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns genutzt werden können (z.B. Leistungsdiagnostik mittels Funktional Capacity Evaluation, FCE = Evaluation der funktionalen Leistungsfähigkeit, EFL).

Die Nationalen Versorgungsleitlinien zu einzelnen Krankheitsbildern haben eher eine kurative Zielsetzung, enthalten aber auch Hinweise zu Epidemiologie und Diagnostik, die auch für die Begutachtung relevant sind. Ungeachtet der Frage, ob und welche dieser „Leitlinien“ die Voraussetzung des nicht minder unscharfen Begriffs „antezipierter Sachverständigengutachten“ erfüllen und auch ungeachtet der von einigen Sachverständigen kritisierten Lücken oder Widersprüchen, denen durch die zwingende periodische Überarbeitung zu begegnet werden soll, sind sie für den medizinischen Laien ein taugliches Kontrollinstrument, sind sie doch überwiegend im Internet abrufbar und bergen gegenüber der Lehrbuchliteratur weniger die Ge­fahr einer Perpetuierung von Irrtümern der jeweiligen Autoren als der vermeintlich „herrschenden Meinung“.

Schließlich, jedoch aus Sicht des Verfassers nicht zuletzt, ist die mündliche Interaktion von Verfahrensbeteiligten und Gerichten in der Inhaltskontrolle anzusprechen. Verständlicherweise herrscht hier bei den Sozialgerichten auf Grund ihrer besonderen organisatorischen Struktur wie auch bei den insbesondere klinisch tätigen Ärzten eine gewisse Zurückhaltung bis zur Ablehnung. Die gegenteilige Praxis der Zivilgerichte im Verkehrsunfall- und noch mehr in Arzthaftungssachen, in denen es nahezu regelhaft zur Anhörung der Sachverständigen zwecks Erläuterung ihrer schriftlichen Gutachten kommt, belegt allerdings, dass so Missverständnisse eher und rascher aufgeklärt werden können als durch bloße „Textexegese“ der Prozess­beteiligten.

Ein Gutachter hat es in der Bewertung biologischer Sachverhalte im Regelfall nicht mit einer homogenen, in sich schlüssigen Indizienstruktur zu tun. Vielmehr haben viele der gehörten Sachverständigen den „Mosaik-Charakter einer medizinischen Bewertung hervorgehoben, schon bei der Zustandsbegutachtung, aber erst recht in der Kausalitätsbewertung. Selbst dort, wo es objektive und semiobjektive Untersuchungsmethoden gibt, wie etwa in der Augen-, der HNO-Heilkunde oder der Urologie, ist Vorsicht geboten. So können Beschwerden und Funktionsstörungen tagesabhängig sein oder von äußeren, in der Begutachtungssituation nicht nachstellbaren Bedingungen abhängig sein. Nicht - zumindest nicht erkennbar - eingehaltene Standardbedingungen in der Untersuchungstechnik (z.B. Angabe der Raumtemperatur bei elektrophysiologischen Untersuchungen in der Neurologie) oder gar trivia­len Geräteunterschieden (z.B. in der optischen Kohärenztomografie, OCT, in der Augenheilkunde) sind weitere Quellen fehlender Reliabilität gutachterlicher Feststellungen. Im Gutachten sind derartige Limitierungen ebenso offenzulegen wie etwaige Messungenauigkeiten, ggf. sind diese vom Gericht zu erfragen.

 

Es bleibt als in an allen Fächern das Kernelement der Begutachtung, die für die Schlussfolgerungen relevanten Indizien (1.) möglichst vollständig zusammenzutragen und (2.) in ihrer Aussagekraft gegeneinander abzuwägen (z.B. Röntgen- versus intraoperativen Befund, Ergebnisse der Testpsychologie versus klinischer Beobachtung etc.). Ob dieses gegeneinander „Abwägen“ überzeugend auf sachlicher und vollständiger Grundlage geschieht, ist im schriftlichen Gutachten schon aufgrund terminologischer und methodischer Differenzen in Medizin und Rechtswissenschaft nicht immer und nicht ohne weiteres erkennbar (auch nicht bei den beliebten ergänzenden Stellungnahmen), ist aber im Zivilprozess erfahrungsgemäß den wesentlichen Gegenstand der Erörterungen mit den Sachverständigen.

Die Auseinandersetzung mit einander widersprechenden Gutachten geschieht, soweit anhand von Urteilsgründen erkennbar, häufig recht oberflächlich, wenn etwa pauschal auf die Schlüssigkeit des Gutachtens und/oder die Bekanntheit des Gutachters verweisen oder die mangelnde Überzeugungskraft aus vermeintlich unberücksichtigt gebliebenen Tatsachen abgeleitet wird, ohne dass geklärt ist, inwieweit dieser Umstand für das abweichende Ergebnis überhaupt ursächlich war. All dies sollte Anlass sein, über die Option der mündlichen Anhörung (nicht etwa des münd­lich erstatteten Gutachtens!) stärker als bisher nachzudenken und Kriterien für eine Balance zwischen Aufwand und Nutzen zu entwickeln. Nicht nur am Rande bemerkt; Das Risiko, die eigenen Wertungen mit den Beteiligten und womöglich noch mit Fachkollegen anderer Meinung erörtern zu müssen, kann sogar die Qualität schon des schriftlichen Gutachtens erhöhen und einer allzu oberflächlichen Argu­mentation (erst recht mit bewussten Fälschungstendenzen) vorbeugen.

Während der Gesetzgeber im Instanzenzug die Wertigkeit des Diskurses für die Wahrheitsfindung schon quantitativ in der Besetzung der Spruchkörper berücksichtigt hat, blieb es im Sachverständigenbeweis seit jeher bei der Vorstellung einer außerhalb des Rechts liegenden - einzigen - Wahrheit, deren Ermittlung grundsätzlich nur eines Sachverständigen bedarf, dessen Objektivität und Unabhängigkeit durch die Bestellung des Gerichts zu gewährleisten ist. Seit den Ursprüngen unserer Prozessordnungen in einer Zeit überschaubarer Lebenssachverhalte und wissenschaftlicher Gedankengebäude hat die Komplexität sowohl der Krankheitsbilder selbst als auch und in besonderem Maße der Kenntnisstand über Ursache- Wirkungs-Beziehungen zugenommen. Parallel sind die Möglichkeiten in der Diag­nostik exponentiell gewachsen, damit aber auch die Probleme von Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität von Einzelergebnissen.

Das schon erwähnte Wertungselement in medizinischen Gutachten lässt unter­schiedliche Meinungen nahezu unvermeidlich erscheinen. Nicht immer sind Mängel hierfür die Ursache, vielmehr gibt es offenbar in vielen Fallkonstellationen nicht (mehr) die „einzige Wahrheit“ außerhalb des Rechts, wie sich immer wieder bei Falldemonstrationen auf Gutachterkongressen zeigt. Maßnahmen der Qualitätssicherung und - Verbesserung in der Begutachtung betreffen daher zuvorderst die Prozessqualität, nicht aber zwangsläufig auch die Ergebnisqualität.

Das Bemühen gerade in der Sozialgerichtsbarkeit durch Rückkoppelung der Sachverständigen etwa an die üblichen Klassifikationssysteme des ICD 10/11 oder DSM IV/V sowie ganz allgemein an den „aktuellen wissenschaftlich-medizinischen Er­kenntnisstand“ erhöht die Vergleichbarkeit gutachtlicher Aussagen, garantiert aber gleichfalls nicht deren inhaltliche Richtigkeit. Zudem haben mehrere im vorliegen­den Fall gehörte Sachverständige darauf aufmerksam gemacht, dass ein bloßes Klassifikationssystem von Diagnosen schon auf Grund der „Resteklassen“ die Spielarten einer pathologischen Störung nicht ausreichend abzubilden vermag. Selbst die aus Sicht des Verfassers grundsätzlich zu beachtenden Leitlinien als Ausfluss des medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes, die ein Abweichen erlauben, aber einer verstärkten Begründungspflicht unterwerfen, sind hinterfragungsfähig. Beispielhaft sei hier die Rolle der testpsychologischen Begutachtung genannt, zu deren Bedeutung unterschiedliche Wertungen in Leitlinien existieren.

 

So war auch zwischen den beigezogenen Sachverständigen bereits die Frage strit­tig, inwieweit diese Methodik - wenigstens in der Hand des Sachkundigen - bereits für sich genommen Aussagen erlaubt oder nur als zusätzliche Informationsquelle im Einzelfall dazu dienen kann, dem Primat des klinischen Eindrucks zusätzliche Sicherheit zu verleihen. Gerade die Testpsychologie belegt darüber hinaus exemplarisch die Gefahr, dass durch eine Quantifizierung dem Nichtfachmann eine Pseudoobjektivität vermittelt werden kann, die jedoch schon durch die Auswahl der angewandten Testverfahren und nicht zuletzt durch die Kompetenz des jeweiligen Gutachters zahlreichen - ggf. verschleierten - Einflussfaktoren unterliegt, die den beteiligten Sachverständigen und erst recht den Auftraggebern bewusst sein muss. Eine Beschwerdevalidierung gehört bei Inkonsistenzen sicherlich zum gutachterlichen Repertoire, entsprechende Kompetenz in Auswahl und Auswertung vorausge­setzt. Ein häufig geforderter Automatismus kann wiederum eher einem unkritischen Einsatz Vorschub leisten, mit falsch negativen wie positiven Ergebnissen für die Betroffenen.

Ein weiterer Beitrag zur Qualitätsverbesserung kann dadurch geleistet werden, dass in der Formulierung der normativen Vorgaben stärker die Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Erkenntnis in den Blick genommen und kaum bzw. gar nicht operationable Begriffe nicht dem Gutachter überantwortet wird. So kann die mögliche Gehstrecke vom Mediziner allenfalls geschätzt werden, wobei jedwede „Schätzung“ des Sachverständigen Abgrenzungsprobleme zur Beweiswürdigung aufwirft, eine objektive „Ermittlung“ ist nicht möglich. Erst recht gilt dies für die Einbeziehung normativer, für den Mediziner fachfremder Elemente wie etwa bei der Frage der „zumutbaren Willensanstrengung“. Im Idealfall sollte sich die Beweisanordnung auf medizinische messbare bzw. zumindest fachlich beurteilbare Fakten beschränken.

Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Qualität medizinischer Gutachten hat schließlich die Vergütungsstruktur der Sozialgerichte. Die kontrapro­duktive Vorgabe in Bezug auf die Wiedergabe des Akteninhalts war bereits angesprochen worden. Die in den Bundesländern unterschiedlichen Vorgaben im Zeitaufwand für das Aktenstudium sind - soweit für den Verfasser ersichtlich - empirisch nicht belegt, sondern resultieren offenbar allein aus der Spruchpraxis der Kostensenate der Landessozialgerichte.[3] Die Vorgabe, nur solche Aktenbestandteile als berücksichtigungsfähig einzustufen, die mindestens 50% medizinischen Inhalt aufweisen, ist weder überprüf- noch inhaltlich begründbar. Wie wird diese Quote ermittelt und warum beeinflusst der Anteil medizinischer Informationen den Zeitauf­wand für das Aktenstudium? Ferner wird übersehen, dass auch nichtmedizinische Aktenbestandteile u.U. für die medizinische Beurteilung bedeutsam sein können, man denke etwa an die schul- und berufliche Karriere zur Beurteilung der Kausalität eines bestimmten Ereignisses für eine nachfolgende psychische Störung. Ähnliches gilt für die in dieser Apodiktik unzutreffenden Aussage, dem Sachverständigen müsse die einschlägige Literatur bekannt sein, weshalb es im Regelfall keines Aktenstudiums bedarf. Die Fragestellungen an die Gutachter ist derartig vielfältig, dass es nicht nur in Ausnahmenfällen einer Auseinandersetzung mit dem jeweils aktuellen Kenntnisstand bedarf, um die - zu Recht - gestellten Anforderungen der Recht­sprechung zu genügen. Auch die Einordnung der Gutachten in die Vergütungsklassen (M1 bis M3) erfordert schon eine gewisse medizinische Expertise, weshalb die hier nicht selten anzutreffende Schematisierung in der Begründung vorgenommener Kürzungen erstaunt.

Man sollte trotz des schon jetzt erheblichen Kostenaufwands schließlich nicht aus dem Blick verlieren, dass derartige, im medizinischen Schrifttum immer wieder kriti­sierten Restriktionen zu qualitätsmindernden Fehlanreizen führen können, wie etwa der Versuch einer Zeitersparnis durch Oberflächlichkeit im Aktenstudium oder durch Verwendung von Textbausteinen zur Erleichterung der gutachterlichen Argumenta­tion. Beides kann nicht im Interesse der Sozialgerichtsbarkeit, der Prozessbeteiligten wie auch der Gesellschaft insgesamt liegen.    

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass aus Sicht der beigezogenen Sachverständigen die möglichst vollständige Ermittlung der Anknüpfungstatsachen einen unverzichtbaren Beitrag zur Qualitätssicherung medizinischer Gutachten darstellt. Auch wird eine stärkere Kommunikation mit den Gerichten gefordert, sei es durch Einweisung vor, sei es durch Übersendung von Abschriften nach Abfassung der Sachentscheidung.

 

Aus Sicht des Verfassers bietet auch eine stärkere Abklärung der gutachterlichen Kompetenz im Vorfeld sowie die mündliche Erörterung eines Gutachtens im Termin eine verlässlichere Gewähr dafür, dass medizinische Sachverständige (1.) die Grundlagen der Begutachtungsmethodik beherrschen und (2.) bei der Abfassung des Gutachtens größere Sorgfalt walten bzw. sich etwaige Missverständnisse/ Fehlinterpretationen bereinigen bzw. vermeiden lassen.“

Mit diesem Gutachten von Prof. Dr. Gaidzik waren bzw. sind die Ermittlungen des erkennenden Gerichts zu den Qualitätsanforderungen an medizinische Sachverständigengutachten allerdings noch nicht beendet. Sie sollten vielmehr fortgeführt werden. Dazu war beabsichtigt, insbesondere zu der Frage, welche richterlichen Vorarbeiten für ein qualitativ angemessenes Gutachten aus medizinischer Sicht erforderlich sind und ob es – wie bisher – auch heute noch ausreicht, die behandelnden Ärzte regelmäßig nur um schriftliche Stellungnahmen  in sog. Befundberichten zu bitten oder ob sie künftig – wie im Straf- und Zivilprozess üblich – immer zur Übersendung der vollständigen Patientendokumentation aufzufordern und zu ihrer mündlichen Erläuterung auch im sozialgerichtlichen Verfahren in einem Gerichtstermin anzuhören sind, in einem nächsten Schritt eine repräsentative Befragung aller am erkennenden Gericht tätigen (rund 7000) medizinischen Sachverständigen des LSG NRW unter Leitung von Prof. Dr Berger, der den Lehrstuhl für empirische Sozialforschung an der Universität Leipzig innehat, durchzuführen.

 

Grund für diese gerichtliche Absicht, war (und ist), dass es zu den ins Auge gefassten gerichtlichen Fragen bislang keine zuverlässigen Daten gibt, obwohl diese für die – auch in diesem Verfahren streitentscheidende – Verbesserung der Vorgehensweise für die optimale gerichtliche Aufklärung des Sachverhalts wesentlich sind. Das bisherige gerichtliche Vorgehen der Sozialgerichte folgt nämlich bisher noch immer der seit Einführung der Sozialversicherung im Jahre 1883 bestehenden Tradition, bloße Befundberichte einzuholen und Beweisanordnungen zu erlassen, ohne die oben geschilderten aktuellen Tendenzen zu immer stärker manipulierten Vorbefunden zu berücksichtigen.

 

Nach den Aussagen der insoweit gehörten Sachverständigen beläuft sich der Anteil der entsprechend manipulierten Diagnosen in den USA nach dortigen Studien mittlerweile auf rund 50 %. Das deckt sich mit den tatrichterlichen Erfahrungen des für dieses Urteil verantwortlichen Richters, die auf rund 30 Dienstjahren in medizinischen Fachgebieten der Sozialgerichtsbarkeit und dabei rund 60.000 ausgewerteten Gutachten beruhen. Dennoch ist angesichts der großen Bedeutung der o.g. Fragestellung weder eine individuelle tatrichterliche (Ein-)Schätzung noch eine ausländische Studie ausreichend. Denn weder sind die Erfahrungen einer einzelnen Person eine hinreichend breite Grundlage noch lassen sich die amerikanischen Studien direkt auf Deutschland übertragen. Dafür sind die jeweiligen Gesundheits- und Rechtssysteme zu verschieden. Diejenigen, die hier am ehesten in repräsentativem Umfang zur Lage medizinisch verwertbarer Daten in Deutschland auf Grund ihrer spezifischen Erfahrungen gerichtsverwertbare Antworten geben können, sind vielmehr die medizinischen Sachverständigen der deutschen Sozialgerichte. Denn diese Sachverständigen stellen eine hinreichend große Gruppe dar und sind dabei zudem neutral sowie unabhängig.

 

Folgende Fragen sollten den rund 7000 medizinischen Sachverständigen des LSG NRW daher gestellt und sodann nach den Regeln der empirischen Sozialwissenschaft durch Prof. Dr. Berger ausgewertet werden:

 

„Frage 1 Wie viele Jahre (gerundet) sind Sie bereits für Sozialgerichte von Amts wegen beauftragt (d.h. gemäß § 106 SGG) gutachterlich tätig?

 

___ ___ Jahre

 

Frage 2 Wie viele Gutachten gemäß § 106 SGG haben Sie bisher für Sozialgerichte erstellt? (Eine Schätzung ist ausreichend.)

 

ca. ____ Gutachten

 

Frage 3 Haben Sie von den Sozialgerichten eine vorherige Einweisung (z.B. in einem Termin) oder nachträgliche Rückmeldungen (z.B. durch Übersendung des späteren Urteils) zu den Qualitäts-Anforderungen an Gerichts-Gutachten erhalten?

 

nie

selten 

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 4 Hätten Sie sich von den Sozialgerichten eine vorherige Einweisung oder nachträgliche Rückmeldung zu Qualitäts-Anforderungen an Gutachten gewünscht?

 

nie

selten 

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 5 Wünschen Sie sich, dass Sie Ihre Gutachten in einem Termin (in Präsenz oder elektronisch) mündlich erläutern können?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer 

 

Frage 6 Wünsche Sie sich die Beiziehung der Primärdokumentation (d.h. nicht nur von

Befundberichten, sondern der gesamten Patientenakte mit allen Daten) der medizinisch

Behandelnden (stationär und ambulant) durch das Gericht vor Erteilung des Gutachtenauftrages?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 7 Sind Sie durch organisatorische/finanzielle Vorgaben der Sozialgerichte an der optimalen Erfüllung des Gutachtenauftrages behindert?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 8 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Dissimulation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 9 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Aggravation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 10 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Simulation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 11 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf interessengeleitete Fehl- oder Falschangaben der Vorbehandelnden (ambulant/stationär)?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 12 Sollte die Erteilung eines gerichtlichen Gutachtenauftrags - zusätzlich zum allgemeinen beruflichen Sachkundenachweis - an den Nachweis einer Zusatzqualifizierung/Zertifizierung für die Erstellung gerichtlicher Gutachten gebunden werden?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer“

 

Das voraussichtliche Kostenvolumen dieser Ermittlungen wurde von Prof. Dr .Berger auf rund 60.000 Euro beziffert. Der zuständige Richter beantragte daher vorab gemäß den §§ 3 ff des deutschen Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetschern, Dolmetscherinnen, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JVEG) bei der Gerichtsverwaltung eine kostenrechtliche Überprüfung. Das Justizministerium von NRW stellt die richterliche Berechtigung zur Durchführung dieser Ermittlungen indes generell in Frage vgl. Schreiben des Justizministeriums NRW zur Aktenzeichen 3132 E – z.68/23 - z vom 26.6.2023::

 

„Die Sache veranlasst mich allerdings zu dem Hinweis, dass es eine Grenze geben muss zwischen einerseits einer selbstverständlich der richterlichen Unabhängigkeit unterliegenden Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens in einem konkret zur Entscheidung anstehenden Gerichtsverfahren und andererseits einer abstrakten wissenschaftlichen Ermittlung von Begutachtungsregularien für eine gesamte Klasse von Gerichtsverfahren durch Einholung zahlloser Sachverständigengutachten, für deren Kosten dann weder die Parteien eines einzelnen konkreten Verfahrens noch der Steuerzahlen in Haft genommen werden können.“

 

An dieser Position hält die Gerichtsverwaltung von NRW bislang fest,

 

Die vom betroffenen Richter in diesem und anderen (Muster-) Verfahren beabsichtigten weiteren Ermittlungen haben sich daher bislang als nicht weiter durchführbar erwiesen. Neben diesem anhängigen Rechtsstreit sind davon seit über einem Jahr rund 220 Verfahren betroffen, die in die o.g. Ermittlungen einbezogen worden sind. Es kommt insoweit auf eine rechtliche Klärung durch das Bundessozialgericht an.

 

Hierauf wurden die Beteiligten hingewiesen und der Kläger sowie seine Ehefrau sind ist vom erkennenden Gericht unter Hinzuziehung eines Dolmetschers für die berberische Sprache persönlich gehört worden.

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der wirtschaftliche Hintergrund des Verfahrens ein Rentenantrag oder ein Rehantrag sei, hat der Kläger erklärt:

 

„Ich bin nach wie vor vollschichtig als Gleisbauer beschäftigt. Im letzten Jahr hatte ich ungefähr drei bis vier Monate Fehlzeiten. Wegen Kopfschmerzen.“

 

Auf weitere Nachfrage des Berichterstatters hat der Kläger weiter erklärt:

 

„Das war im Jahr davor wohl auch so.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Kläger Krankengeld bezogen habe oder Lohnfortzahlung, hat der Kläger erklärt:

 

„Lohnfortzahlung. Wir haben vier Wochen Lohnfortzahlung im Betrieb.“

 

Auf weitere Nachfrage des Berichterstatters, ob der Kläger bei Gutachtern oder Betriebsarzt zur Untersuchung gewesen sei, hat er erklärt:

 

„Beim Betriebsarzt. Im Winter ´23.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Kläger wisse, wie der Betriebsarzt heiße, hat der Kläger erklärt:

 

„Das müsse die Firma wissen.“

 

Der Kläger hat vorgetragen, er selbst wisse es nicht. Er entbinde den Betriebsarzt von der ärztlichen Schweigepflicht.

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob er einen Führerschein habe, ggf. welcher Klasse, hat der Kläger erklärt:

 

„Kleinwagen. Einen LKW fahren darf ich nicht. Wie viele Kilometer pro Jahr ich genau fahre, weiß ich nicht. Im Versicherungsvertrag steht glaube ich 12.000 km, aber ich fahre eigentlich nur nach Dortmund. Oft werde ich auch abgeholt. Mit dem Firmenwagen. Wenn es mir gut geht, fahre ich diesen Firmenwagen auch selbst.“

 

Auf Bitten seiner Arbeit genauer zu schildern, hat der Kläger erklärt:

 

„Ich arbeite im Gleisbau, an den Schienen. Meine Aufgabe ist es oft die Schienen zu trennen, sei es mit der Flex, sei es mit dem Brenner. Ich habe einen Schein als Brenner (auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Kläger einen Schweißerschein habe).“

 

Auf Nachfrage, ob er in jüngerer Zeit entsprechende Zertifikate abgelegt habe, hat der Kläger erklärt:

 

„Es war glaube ich 2012, in jüngerer Zeit nicht. Nur für Brenner und Trenner die entsprechenden Zertifikate.“

 

Auf Nachfrage und Vorhalt des Berichterstatters, wie der Kläger die von ihm beschriebene

– gefährliche – Arbeit hinbekomme, hat der Kläger erklärt:

 

„Wenn ich Kopfschmerzen bekomme bei der Arbeit, dann mache ich zwei, drei Stunden gar nichts.“

 

Auf weitere Nachfrage, wie er zuhause klarkomme, hat der Kläger erklärt:

 

„Da müssen Sie meine Frau fragen.“

 

Worauf der Berichterstatter darauf hingewiesen hat, dass er vorhabe, die Ehefrau des Klägers später als Zeugin zu hören.

 

Der Kläger hat fortgefahren:

 

„Außerdem habe ich noch Probleme mit den Ohren und brauche Hörgeräte.“

 

Auf Vorhalt des Berichterstatters, dass er heute keine Hörgeräte trage, hat der Kläger erklärt:

 

„Die sind kaputt.“

 

Auf weitere Nachfrage, ob er Hörgeräte vom Akustiker habe, hat der Kläger erklärt:

 

„Ja, aber die sind nicht von der Krankenkasse, sondern von meinem Arbeitgeber übernommen worden.“

 

Auf weitere Nachfrage des Berichterstatters, ob er weitere, von der Unfallversicherung anerkannte Gesundheitsschäden habe, hat der Kläger erklärt:

 

„Nein. Ich bekomme auch keine Rente von der Unfallkasse.“

 

Auf Frage des Berichterstatters: „Welche Unfallkasse ist denn für Sie zuständig?“ konnte der Kläger auf Nachfrage des Berichterstatters im Termin nicht angeben, welche Unfallkasse für ihn zuständig sei. Er hat erklärt, er habe entsprechende Unterlagen zuhause. Der Berichterstatter hat ihn gebeten, diese seiner Bevollmächtigten zu überreichen, damit sie dem Gericht vorgelegt werden können.

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, wie das Leben zuhause sei, hat der Kläger erklärt:

 

„Wir haben zuhause viel Streit. Früher war ich nicht so, aber seit 2012 habe ich sozusagen eine „kurze Zündschnur“.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters zu den Familienverhältnissen, hat der Kläger erklärt:

 

„Ich bin einmal mit einer ersten Frau verheiratet gewesen, aus der Ehe sind vier Kinder hervorgegangen, die schon erwachsen und aus dem Haus sind. Mit meiner jetzigen Frau, die heute auch als Zeugin hier ist, habe ich zwei kleine Kinder. Einen kleinen Sohn von dreizehn-vierzehn Monaten und eine Tochter von zweieinhalb Jahren.“

 

Auf Bitten des Berichterstatters, die Bilder der Kinder auf dem Handy zu zeigen, hat der Kläger (dies mit einem gewissen technischen Schwierigkeitsgrad) gezeigt und gelächelt dabei.

 

Auf weitere Nachfrage des Berichterstatters zum häuslichen Leben hat der Kläger erklärt:

 

„Zuhause macht eigentlich meine Frau das Meiste. Sie geht auch einkaufen. Sie hat zwar noch keinen Führerschein, macht ihn aber gerade. Arbeiten geht sie nicht. Die Kinder sind nicht im Kindergarten. Ich spiele aber manchmal mit ihnen.“

 

Auf Nachfrage, ob der Kläger Familie oder Freunde in Deutschland habe, hat er erklärt:

 

„Ich habe einen Bruder und Nichten und Neffen, die auch in S. wohnen, ungefähr einen Kilometer entfernt, aber wir sehen uns nicht.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob er mit der Familie zerstritten sei, hat der Kläger erklärt:

 

„Nein, aber unsere Frauen verstehen sich nicht. Deswegen ist es besser, mehr Abstand zu halten. Das kostet sonst nur meine Nerven.“

 

Auf weitere Nachfrage, ob der Kläger sonstige Hobbies habe, Sportverein, politische Aktivitäten, die Moscheebesuche etc. hat der Kläger erklärt:

 

„Ich gehe in die Moschee, jeden Freitag.“

 

Auf weitere Nachfrage, ob er auch faste, hat der Kläger erklärt:

 

„Ja, ich faste. Und zwar auch den ganzen Ramadan. Eine Hadsch habe ich noch nicht gemacht.“ (Anmerkung: d Verf: Die Hadsch ist die Pilgerfahrt nach Mekka)

 

Auf Bitten des Berichterstatters, seine Ehe zu beschreiben, ob er seine Frau liebe und sie ihn, hat der Kläger nickend erklärt:

 

„Ja, sie ist meine Frau.“ Weitere Angaben zu seiner Ehe hat der Kläger nicht gemacht.

 

Zum Tagesablauf befragt hat der Kläger gesagt:

 

„Gegen fünf werde ich dann richtig wach, gegen sieben muss ich normalerweise zur Arbeit. Eigentliche habe ich Wechselschicht, aber Nachtschicht habe ich nur sehr selten, zwei oder drei Mal im Monat.“

 

Auf Nachfrage der Beklagtenvertreterin, ob, wie in den Akten erwähnt, zwischenzeitlich eine Vorstellung im Schlaflabor erfolgt sei, hat der Kläger erklärt:

 

„Nein.“

 

Auf Bitten des Berichterstatters mitzuteilen, ob er mit den Kollegen bei der Arbeit gut klarkomme, hat der Kläger erklärt:

 

„Im Großen und Ganzen komme ich gut klar. Sie haben auch oft Verständnis für meine Situation, wenn es nicht geht. Auch die Vorarbeiter und Chefs, sie wissen welche Leistung ich immer erbracht habe und wissen, dass es an meinem Kopf liegt. Sie haben Verständnis, wenn ich Pausen einlegen muss oder einen Krankenschein habe, dann wissen sie, dass es mir wirklich nicht gut geht. Sie haben auch Verständnis, wenn ich mal früher aufhören muss oder zu spät komme. Das Verständnis für mich ist da in der Firma.“

 

Auf Nachfrage der Bevollmächtigten der Beklagten, ob in dem im Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten erwähnten KR-Streitverfahren eine Begutachtung erfolgt sei, hat die Bevollmächtigte des Klägers erklärt:

 

„Das war nicht der Fall. Dort ging es ums Krankengeld, aber es ist weder im Gerichtsverfahren, noch vorgerichtlich durch den medizinischen Dienst eine Begutachtung erfolgt. Wir haben dann im Ergebnis die Klage zurückgenommen.“

 

Der Kläger hat noch auf Bitten des Berichterstatters etwaig fehlende Aspekte vorzutragen ergänzt:

 

„Ich habe Probleme an den Knien und bin schwerhörig. Außerdem hatte ich einen Unfall mit den Augen, als ich etwas bei der Arbeit schlagen musste und Funken in meine Augen gekommen sind. Das ist damals auch aufgenommen worden.“

 

Die Ehefrau des Klägers hat Folgendes ausgesagt:

 

Zur Person:

 

Ich heiße

 

Vorname: F.

Nachname: Y.

Wohnhaft: Adresse des Klägers

Von Beruf: Hausfrau

 

„In Marroko habe ich den Beruf der Erzieherin gelernt. In Deutschland habe ich den

Sprachkurs B1 abgelegt. Ich bin N02 Jahre alt.“

 

Über das Zeugnis- und Verweigerungsrecht belehrt.

 

„Ich will aussagen. Ich will das sagen, was ich weiß.“

 

Zur Sache:

 

„Ich bin mit meinem Mann viereinhalb Jahre verheiratet. Anderthalb Jahre davon war ich

noch in Marokko, seit drei Jahren bin ich in Deutschland.“

 

Auf Bitten des Berichterstatters, zu schildern, wie das Leben zuhause sei, wenn ihr

Ehemann, der Kläger, zuhause sei, erklärt die Zeugin:

 

„Also es ist so: Am Wochenende, wenn er da ist, dann ist es schon schwierig. Er schläft

sehr schlecht, dann läuft er nachts herum. Er schläft eigentlich nur, wenn er Tabletten oder Tropfen, die er vom Arzt verschrieben bekommt kommt, nimmt. Teilweise schimpft er mich auch. Er wird dann manchmal auch laut und muss nach draußen gehen.“

 

Auf Bitten des Berichterstatters, mitzuteilen, ob der Kläger zuhause koche, Wäsche wasche, einkaufen gehe und dergleichen, erklärt die Zeugin:

 

„Er spielt manchmal mit den Kindern, dann ist es gut. Die anderen Sachen mache ich. Ich

mache gerade die Theorie für den Führerschein und kaufe auch sonst ein. Wenn er nachts wach wird, dann bin ich unruhig und besorgt, sodass ich dann auch wach bin.“

 

Auf Bitten des Berichterstatters zu beschreiben, wie die Zeugin die Ehe erlebe, erklärt die

sie:

 

„60 % oder 50 % nicht gut.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob die Zeugin noch etwas ergänzen wolle, was auf

ihrer Sicht für das hiesige Verfahren zur Einschätzung der Gesundheit ihres Ehemannes

wichtig sei, erklärt sie:

 

„Nein.“

 

Der Berichterstatter hat sodann darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht die Anhörung des Klägers - auch wenn dieser persönlich glaubwürdig erscheine und nachvollziehbare

Angaben gemacht habe -, ebenso wie die seiner als Zeugin gehörten Ehefrau nicht zu einer Entscheidungsreife der Sache geführt habe.

 

Mit Blick auf die anhängigen Ermittlungen des Gerichts zu den Qualitätsanforderungen gerichtlicher Sachverständigengutachten und medizinischer Ermittlungen dürfte sich aus Sicht des Berichterstatters eine Zurückverweisung in die erste Instanz schon deswegen im vorliegenden Falle empfehlen, weil die Entscheidung des Sozialgerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, auch verfahrensrechtlich nicht haltbar sein dürfte. Dies deswegen, weil die bloße Erwägung des SG, die behandelnden Ärzte hätten der Einschätzung der beratenden Ärzte der Beklagten nicht widersprochen, kaum ausreichen dürfte, um von seriösen medizinischen Ermittlungen zu sprechen. Es fehle insoweit an zumindest einem umfassenden sozialmedizinischen Gutachten. Bedenklich sei zudem, dass die Entscheidung des Sozialgerichts Gelsenkirchen ergangen sei, ohne dass der Kläger persönlich angehört und Anknüpfungstatsachen zu seinem Tagesablauf durch Zeugenvernehmung aus seinem sozialen Umfeld erhoben wurden. Der Berichterstatter hat ferner darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die grundsätzliche Bedeutung der Qualitätsanforderungen an sozialmedizinische Ermittlungen und die Qualitätsstandards sozialmedizinische Gutachten im Sozialgerichtsprozess die Zulassung der Revision beabsichtigt sei. Und für dass hierüber, sofern beide Beteiligte ihr Einverständnis zur Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter erteilen, auch durch den Berichterstatter als Einzelrichter entschieden werde.

 

Daraufhin haben beide Beteiligte übereinstimmend, d. h. sowohl die Bevollmächtigte des Klägers als auch die Bevollmächtigte der Beklagten, erklärt:

 

„Wir sind mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung einverstanden.“

 

Die Bevollmächtigte des Klägers hat Bezug auf den Berufungsschriftsatz vom 04.02.2023 und den dort genannten Sachantrag gestellt, d.h.  

 

den Gerichtsbescheid der 1. Instanz aufzuheben und dem Berufungskläger einen Grad der Behinderung von 60 zuzuerkennen.

 

Die Bevollmächtigte der Beklagtenbeantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter gemäß §§ 155 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Einverständnis der Beteiligten als Einzelrichter entscheiden konnte, ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet.

 

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung eines Sozialgerichts durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und wenn das LSG wegen aufwändiger Ermittlungen an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist.

 

Die angefochtene Entscheidung des SG beruht hier auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Denn auch unter Zugrunde-Legen des rechtlichen Ausgangspunkts des SG hätte das SG die medizinischen Tatsachen, auf die es sich stützt, gemäß §§ 103, 106 SGG weiter aufklären müssen.

 

Denn die anspruchsbegründenden Tatsachen - d. h. vor allem die medizinische Diagnosen - müssen von den Gerichten für das Schwerbehindertenrecht – SGB IX - (wie für alle Leistungen für die die Versorgungsmedizinverordnung gilt) gemäß §§ 103, 106, 128 SGG im sogenannten Vollbeweis festgestellt werden. Hierfür ist ein der Gewissheit nahekommender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich (BSG vom 27.03.1958 - 8 RV 387/N01; Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R -). Diese volle Überzeugung ist nur dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (BSG vom 27.04.1972 - 2 RU 147/71-.). Beweiserleichterungen, wie sie das Gesetz an anderer Stelle vorsieht (zB gemäß § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung) gibt es hier nicht.

 

Für die gerichtliche Beweisaufnahme ist zudem auch für die Feststellung einzelner Behinderungen sowie für die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung genau zwischen Anknüpfungstatsachen, also Umständen, die nicht in das Fachgebiet des medizinischen Sachverständigenbeweises fallen, und den Tatsachen zu unterscheiden, die ein medizinischer Sachverständiger ermitteln soll. Diese nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen muss das Gericht vorgeben. Das gilt i.Ü. nicht nur hinsichtlich von Fragestellungen zur Kausalität und den dabei in Rechnung zu stellenden unfall- oder schädigungsbedingten Einwirkungen, sondern genauso auch für alle Erkrankungen, deren Feststellung oder Bewertung von Umständen aus dem Leben des Betroffenen abhängt, die sich einer medizinischen Messung entziehen. Dazu gehört bei psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen wie den hier in Rede stehenden auch der Tagesablauf der Betroffenen, weil – schon denkgesetzlich - nur aufbauend auf solchen bindenden richterlichen Vorgaben medizinisch bewertet werden kann, wie stark die entsprechenden gesundheitlichen Teilhabeeinschränkungen sind (vgl. i.Ü. rechtskräftiges Urteil des erkennenden Gerichts vom 03.07.2020 – L 13 SB 33/20 – und Urteil vom 01.03.2024 - L 13 SB 364/21-).

 

 

Vorab muss das SG also für die Zwecke der Begutachtung für Klarheit hinsichtlich der nicht-medizinischen Tatsachen, d.h. die sogenannten Anknüpfungstatsachen sorgen. Wenn diese vom Sachverständigen – wie allzu oft - nur anamnestisch erfragt werden, ist Vorsicht geboten: Denn soweit diese Tatsachen entscheidungserheblich sind bzw. sein können, müssen sie für das Gutachten vom Gericht vorgegeben werden – oder aber das Gericht muss dem Sachverständigen die Anweisung erteilen solche anamnestischen Angaben für das Gutachten ggf . als wahr/unwahr zu unterstellen. Das gilt namentlich auch für Angaben zum Tagesablauf eines Probanden. Denn es gibt für die Frage, ob die entsprechenden Angaben richtig oder falsch sind, schließlich kein medizinisches Messinstrument oder Messverfahren. Wenn es darauf ankommt, muss die Überprüfung der entsprechenden Angaben am Ende durch richterliche Beweiswürdigung erfolgen (näher dazu Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5.Auflage, 2021, Randnummern 585 ff).

 

Bei der anschließenden Beweisaufnahme muss ein SG ferner gemäß § 106 SGG iVm  § 118 SGG und § 414 ZPO genau zwischen der Anhörung eines sachverständigen Zeugen und der Beauftragung eines Sachverständigen unterscheiden – das schon deswegen, weil sich daran elementare Pflichten und Rechte des Sachverständigen (insbesondere hinsichtlich Neutralität und Sachkunde sowie hinsichtlich des Honoraranspruchs nach dem JVEG) aber auch Rechte der Beteiligten (insbesondere hinsichtlich möglicher Ablehnungsgründe gemäß § 406 ZPO) ergeben.

 

Soweit ein Gericht medizinische Tatsachen ohne sachverständige Hilfe würdigt, wie es das SG hier z.B. hinsichtlich der Bewertung der Medikation des Klägers getan hat, so ist schließlich zu berücksichtigen, dass es die Quellen dieser Sachkunde dann in seiner Entscheidung offenlegen muss, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein Berufsrichter dazu über hinreichende eigene Kenntnisse verfügt – ganz gleich wie erfahren in einem medizinischen Rechtsgebiet auch sein mag.

 

Diese – allgemein bekannten - Vorgaben hat das SG verkannt.

 

Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn das erkennende Gericht kann ohne die Erhebung weiterer Tatsachen in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen (hierzu unter II).

 

Gemäß der Vorschrift des § 159 Abs. 2 SGG erfolgen hier daher (unter III) gemäß § 159 Abs. 2 SGG verbindliche Anweisungen über die Art der nachzuholenden tatrichterlichen Ermittlungen (vgl. dazu beispielhaft die rechtskräftigen Urteile des erkennenden Senats vom 14.12.2017 – L 13 VG 23/17 – und vom 3.7.2020 – L 13 SB 33/20 -.).  Dabei sollen gemäß den nach § 159 Abs. 2 SGG an die erste Instanz erteilten – bindenden (vgl. zB Keller in Meyer-Ladewig 14. Auflage, 2023 § 159 Randnummer 6a mit weiteren Nachweisen) -  Maßgaben auch die o.g. allgemeinen Erkenntnisse einbezogen werden, die das erkennende Gericht in mehreren parallel zum Ausgangsverfahren geführten Musterverfahren über Qualitätsanforderungen an medizinische Sachverständigengutachten für Gerichte nach der Versorgungsmedizinverordnung und über die Belastbarkeit der dabei auszuwertenden Angaben behandelnder Ärzte bzw. Ärztinnen bislang gewonnen hat.

 

Schließlich ist gleichzeitig die Revision an das Bundessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, damit dieses über die Rechtmäßigkeit der vom erkennenden Gericht gemäß § 159 Abs.2 SGG erteilten Maßgaben urteilen kann (Hierzu unter IV - vgl. zu einem solchen Vorgehen zuletzt: BSG Urteil vom 14.6.2018 – B 9 SB 2/16 R).

 

I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 2 Nr. 2 SGG, ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 SGG siehe z.B. Urteile des LSG NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008 - L 2 KN 165/08 -). Hier hat das SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gemäß §§ 103 und 106 SGG nicht genügt.

 

Der angefochtene Gerichtsbescheid verstößt sowohl gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG als auch des § 105 SGG. Denn weder handelt es sich im Fall des Klägers um eine Sache, die keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art iSd § 105 SGG aufweist, noch ist der Sachverhalt geklärt. Vielmehr hätte sich das SG – auch ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung - zu weiterer Beweiserhebung gemäß § 103 SGG in Verbindung mit § 106 SGG gedrängt fühlen müssen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist nämlich verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei hat es von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen.

 

Das SG konnte hier angesichts der in Frage stehenden Beweisfrage nach dem seit Stellung des streitgegenständlichen Verschlimmerungsantrages vom 18.12.2019 beim Kläger bestehenden Gesamtgrad der Behinderung nicht ohne weitere Ermittlungen über den geltend gemachten Anspruch entscheiden. Das betrifft sowohl die erforderliche Sachverhaltsaufklärung bezüglich der nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen, das heißt bzgl. des Tagesablaufs des Klägers, (weil nur dieser Tagesablauf hinreichend sichere Feststellungen zu daraus gegebenenfalls deutlich werdenden Teilhabeeinschränkungen erlaubt) als auch die darauf aufbauende medizinische Aufklärung bzgl. des Gesundheitszustands des Klägers

 

1. Der erste – und für alle weiteren Mängel der Ermittlungen des SG ursächliche – Fehler bestand schon darin, dass das SG weder den Kläger selbst noch die insoweit bzgl. seiner etwaigen Teilhabeeinschränkungen als nächste Angehörige und Kollegen in Frage kommenden Menschen aus seinem persönlichen Umfeld als Zeugen angehört hat. Das aber wäre angesichts der im Streit stehenden (Kopf-)Schmerzerkrankung sowie von Depressionen des Klägers unverzichtbar gewesen. Auch auf anderen Grundlagen (z.B. den Personalakten der Arbeitgeber bzw. des gesetzlichen und privaten Unfallversicherungsträgers) hat das SG für seine medizinischen Ermittlungen nicht rechtlich tragfähig geklärt, von welchem nicht-medizinischen Sachverhalt für die medizinische Bewertung genau auszugehen ist. Insbesondere ist unklar, welche für das soziale Umfeld wahrnehmbaren Folgen die vom Kläger geltend gemachte Schmerzerkrankung und die von ihm angegebenen Depressionen seit seinem Verschlimmerungsantrag haben – oder eben nicht.

 

Das SG hätte daher den nicht-medizinischen Sachverhalt erst einmal selbst genau aufklären müssen, insbesondere durch die persönliche Anhörung des Klägers und seines persönlichen Umfelds. Ohnehin empfiehlt sich in Fällen wie diesem die Durchführung eines möglichst frühen Erörterungstermins zur zeitnahen und möglichst kostensparenden Aufklärung durch die Nutzung kostengünstiger Beweismittel wie insbesondere dem Zeugenbeweis (Merksatz: möglichst früh, möglichst breit, möglichst kostengünstig). Ein solcher früher erster Termin dient aber auch zur Gewährung rechtlichen Gehörs und zur Auslotung von Vergleichsmöglichkeiten. Die erstinstanzlichen Erfahrungen des Verfassers dieses Urteils belegen, dass sich dabei rund die Hälfe aller Verfahren ohne weitere medizinische kosten- und zeitintensive Beweisaufnahme erledigen lassen.

 

2. Aber auch die vom SG ohne diesen – sinnvollen und in aller Regel auch rechtlich zwingenden– Zwischenschritt direkt durchgeführte Beweisaufnahme leidet hier an durchgreifenden rechtlichen Mängeln:

 

2.1. Schon mit seinen Fragen nach der Diagnosestellung und erst recht mit der Frage nach einer Stellungnahmen zur Einschätzung zu den Ausführungen des medizinischen Beraters der Beklagten in der als „Befundbericht“ bezeichneten Anfrage an die behandelnden Ärzte des Klägers C. und J. hat das SG nämlich die  Vorschriften des §§ 106, 118 SGG iVm § 414 ZPO verletzt. Denn das SG hat damit nicht nur nach deren sachverständigen Wahrnehmungen über den Gesundheitszustand des Klägers, sondern auch nach deren fachlichen Bewertung gefragt

Im Unterschied zum Sachverständigen soll – und darf - der sachverständige Zeuge demgegenüber ausschließlich tatsächliche Bekundungen über eigene Wahrnehmungen machen (deshalb Zeuge), die aufgrund seiner Sachkunde als besonders qualifiziert angesehen werden können (deshalb sachverständig aber nicht: Sachverständiger). Das ist die einhellige Meinung aller Tatgerichte und der Literatur zu § 414 ZPO (vgl. statt vieler: Bundesgerichtshof – BGH – Neue Juristische Wochenschrift – NJW – 2007, 2122 Randnummer 21 und NJW 2913, 3570, Randnummer 20 und zB Gehle in Anders/Gehle ZPO 82. Auflage 2024 § 414 Randnummer 1 ff mit weiteren Nachweisen). Schon für eine Diagnosestellung kann ein Arzt daher nie bloßer (sachverständiger) Zeuge sein, sondern immer nur Sachverständiger (Gehle, ebenda mit weiteren Nachweisen).

Wegen der fundamentalen rechtlichen Unterschiede zwischen der Stellung eines Zeugen und eines Sachverständigen ist dabei von dem Gericht besonders streng darauf zu achten, dass auch von sachverständigen Zeugen allein tatsächliche Bekundungen wiedergegeben werden und nicht die allein dem Sachverständigen vorbehaltene Wertung der Beweisfrage vorgenommen wird. Denn anders als beim Sachverständigen steht den Beteiligten gegenüber den Bekundungen eines Zeugen keine Möglichkeit der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gemäß § 406 ZPO zu (so schon BGH – Monatsschrift Deutsches Recht - MDR - 1974, 382). Zum anderen trifft den Sachverständigen anders als den Zeugen nicht nur eine Wahrheitspflicht, sondern auch die Pflicht zur Neutralität und zur fachlichen Sorgfalt. Darauf hätte das SG die gehörten Ärzte ausdrücklich hinweisen und sie auch in ihre Aufgabe einweisen müssen.

Ein behandelnder Arzt kann aber aufgrund von Rollen- und Interessenskonflikten ohnehin nicht neutraler Sachverständiger sein. Eines von beiden geht nur: Entweder hehandelnder Arzt qua Behandlungsvertrag auf der Seite des Patienten oder aber neutraler Sachverständiger.qua Beweisbeschliuss neutral so wie das Gericht. Der erkennende Senat hat insoweit i.Ü. bereits rechtskräftig entschieden, dass eine derartige Rollenkonfusion zwischen der eines behandelnden Arztes und der eines Sachverständigen rechtswidrig ist und die entsprechenden Angaben für das weitere Verfahren unverwertbar macht (Urteil vom 17.01.2020 – L 13 VG 58/16). So ist es auch hier, so dass sich das SG auf die von ihm zu Unrecht als vermeintliche bloße „Befundberichte“ bezeichneten aber in Wahrheit – rechtswidrig eingeholten – Gutachten der behandelnden Ärzte nicht stützen durfte.

All das hat das SG hier verkannt, als es die Ärzte in der oben beschriebenen Weise befrage und sich im Ergebnis sogar tragend auf deren Antworten genauso stützte, als ob es sich um förmlich gemäß § 106 SGG eingehölte Sachverständigengutachten gehandelt hätte (wobei es die betroffenen Ärzte aber dennoch nicht als Sachverständige, sondern wie Zeugen nur mit 22 Euro pro Stunde Aufwand entschädigte, obwohl diesen ein Honoraranspruch als Sachverständige zustand, vgl. dazu z.B. Oberverwaltungsgericht Lüneburg NJW 2012, 1307).

2.2. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist (was das SG sowohl aus den Verwaltungsakten der Beklagten wie auch aus der Gerichtsakte ersehen konnte, in welcher die anwaltliche Bevollmächtigte des Klägers hierauf ausdrücklich hingewiesen hatte) sind die in den Akten enthaltenen Befunde der behandelnden Ärzte ebenso wie die Gutachten der BG bzw. der Beklagten, auf die sich das SG gestützt hat, darüber hinaus auch aus diesem Grund nicht rechtlich verwertbar.

 

Denn weder die Gutachten der BG noch das der Beklagten sind unter Hinzuziehung eines allgemein vereidigten Dolmetschers bei der Erhebung der Anamnese und bei der Untersuchung entstanden. Auch dass im ersten BG-Gutachten die damalige Ehefrau des Klägers als „Dolmetscherin“ fungierte, genügt rechtlich nicht. Denn weder ist sicher, ob diese überhaupt hinreichend Deutsch versteht und spricht. Noch kann darauf vertraut werden, dass ein Familienangehöriger wie ein allgemein vereidigter Dolmetscher treu und gewissenhaft alles, was gesagt wird, wortwörtlich übersetzt. Das aber ist die Mindestvoraussetzung, damit ein Gutachten mit fremdsprachlicher Kommunikation vor Gericht Verwendung finden darf (vgl. z.B. BSG Urteil vom 17.07.1996 – 5 RJ 70/95-).  An dieser Voraussetzung fehlt es i.Ü. auch bei dem von der Beklagten selbst veranlassten HNO-Gutachten. Diesen Mangel hätte das SG, wie schon oben gezeigt, auch anhand der Akten unschwer feststellen können und müssen.

 

Auch die vom SG beigezogenen Befundberichte helfen insofern nicht weiter (und zwar selbst dann, wenn man außer Betracht lässt, dass es sich insoweit bei den vom SG angeforderten „Befundberichten“ nach dem oben Gesagten in Wahrheit um rechtswidrig veranlasste Gutachten handelt). Denn auch diese Befundberichte sind wegen der bestehenden Sprachbarriere von demselben Mangel unzureichender Kommunikation betroffen. Es ist nämlich nirgends aktenkundig vermerkt, dass die Behandler die (berberische) Muttersprache des Klägers sprechen oder einen entsprechenden Dolmetscher hinzugezogen hätten. Insofern sind auch die von den behandelnden Ärzten abgegebenen Erklärungen, mit denen sie sich der Auffassung der Beklagten hinsichtlich der Einschätzung des GdB angeschlossen haben, nicht belastbar – und auch das konnte und musste das SG anhand der Akten erkennen.

 

2.3. Das SG hat im Übrigen auch die ihm obliegenden richterlichen Vorarbeiten nicht geleistet, die zwingend erforderlich sind, um zu der vom Gesetz gemäß §§ 103, 106 SGG geforderten sorgfältigen Aufklärung des Sachverhalts zu gelangen. Das gebietet § 103 SGG durch die dort angeordnete Ausschöpfung aller sonstiger Ermittlungsmöglichkeiten, die im konkreten Einzelfall zur Gewinnung der gerichtlichen Überzeugung sinnvoll in Frage kommen. Insofern hätte das SG nämlich gemäß §§ 103, 106, 106a SGG auch alle weiteren für die Aufklärung des Sachverhalts erheblichen Dokumente zu den Akten nehmen bzw. von den Beteiligten zu den Akten geben lassen müssen, die genauen Aufschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitszustands des Klägers nach dem 18.12.2019 geben können.

 

Dazu gehören neben den oben bereits genannten Quellen insbesondere die vollständigen Dokumentationen aller medizinischen Behandlungen, die seit dem streitgegenständlichen Verschlimmerungsantrag vom 18.12.2019 beim Kläger erfolgt sind, d.h. die sogenannten Primärbefunde. Gerade bei Schmerz- und seelischen Erkrankungen sind hierzu die sogenannten Befundberichte, auf die sich das SG gestützt hat, nicht ausreichend. Denn oft sind erst die vollständigen Aufzeichnungen über die geführten Gespräche und Therapien wirklich aussagekräftig. Nicht selten stehen diese zeitnah gefertigten und von späteren rechtlichen Interessen noch eher unbeeinflussten und daher unverfälschten Aufzeichnungen auch im Gegensatz zu späteren Angaben, die bereits im Blick auf rechtliche oder finanzielle Interessen erfolgen. Auch die Berichte der Therapeuten - und selbst die von Kliniken – sind nämlich oft gefärbt von deren Interessen – z.B. an der Belegung der Reha-Einrichtung durch die Kostenträger oder an der Verlängerung einer für die Behandler lukrativen Therapie. Gerichte dürfen daher die Angaben, die in den komprimierten Kurzfassungen der sogenannten Befundberichte erfolgen nicht ohne die Kontrollmöglichkeit der beigezogenen Primärdokumentation ausreichen lassen. So handhaben es im Übrigen die Straf- und Zivilgerichte schon lange. Die Sozialgerichte dürfen hinter diesem gerichtlichen Standard sorgfältiger Ermittlungen nicht zurückbleiben – zumal wenn es wie hier um die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft geht, von der im Ergebnis ein früherer Renteneintritt mit lebenslang geringeren Rentenabschlägen abhängt.

 

Auch ein Leistungsverzeichnis der Krankenkasse des Klägers hätte das SG anfordern und zur Akte nehmen müssen. Denn nur ein solches Leistungsverzeichnis stellt zuverlässig sicher, dass bei der Aufklärung des medizinischen Sachverhalts keine Vorbehandlungen vergessen oder gar verschwiegen werden, wie das hier insbesondere hinsichtlich des zweiten (privaten) Unfalls des Klägers uU der Fall ist. Denn in diesem Leistungsverzeichnis ist all das immer vollständig – und nach Diagnosen codiert sowie nach Datum sortiert – gespeichert. Das Leistungsverzeichnis der Krankenversicherung ist damit im Regelfall unverzichtbar für jede gerichtliche Begutachtung nach der Versorgungsmedizinverordnung. Gleiches gilt i.Ü. für ein aktuelles Leistungsverzeichnis der BG, das in diesem Fall ergänzend erforderlich gewesen wäre. Alternativ dazu wäre auch die Beiziehung der vollständigen BG-Akte in Betracht gekommen.

 

Ebenso wichtig ist ein unverschlüsselter Rentenversicherungsverlauf, den das SG hier nicht angefordert hat. Denn ein solcher unverschlüsselter Rentenversicherungsverlauf enthält ergänzend die medizinischen Leistungen der Rentenversicherung und gibt zudem Aufschluss über die gesamte Erwerbsbiographie nebst ggf. daraus für die Begutachtung hervorgehender besonders kritischer Phasen.

 

Zu Unrecht hat das SG auch die Personalakten des Arbeitgebers oder wenigstens eine formularmäßige Arbeitgeberauskunft, wie sie in sozialgerichtlichen Ermittlungen eigentlich üblich ist, nicht angefordert. Dies war pflichtwidrig. Denn diese Urkunden enthalten regelmäßig für das Schwerbehindertenverfahren streitentscheidende Angaben über die berufliche Sphäre der Beteiligten (ggf. mit darin enthaltenen Befunden der zuständigen Betriebsärzte aufgrund der entsprechenden arbeitsmedizinischen Untersuchungen) sowie dienstliche Beurteilungen – oder auch Abmahnungen - die unter anderem auch Rückschlusse auf den Gesundheitszustand und die Belastbarkeit erlauben. Das gilt gerade für die auch für das SG aktenkundige Tätigkeiten des Klägers als Gleisbauer die gesundheitlich anspruchsvoll und gefährlich sind.

 

Schließlich hätte das SG sich nicht mit den in den Verwaltungsakten der Beklagten enthaltenen – unvollständigen – Kopien aus den Akten der Berufsgenossenschaft und der privaten Unfallversicherung des Klägers zufriedengeben dürften, sondern es hätte diese Akten gemäß §§ 103, 106 SGS vollständig beiziehen müssen.

 

Dabei wäre ein solches gerichtliches Vorgehen wegen der die prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers gemäß §§ 103, 106, 106a SGG ein Leichtes gewesen. Es empfehlen sich insoweit folgende Vordrucke, die von der DGB-Rechtsschutz-GmbH entwickelt und vom erkennenden Gericht übernommen wurden. Diese Vordrucke können den Beteiligten an die Hand gegeben werden und haben sich mittlerweile schon in hunderten von Verfahren vor dem erkennenden Gericht bewährt - zumal sie den gerichtlichen Aufwand schlank halten und sonst drohende Doppelermittlungen vermeiden:

 

Vordruck Anforderung Leistungsverzeichnis Krankenkasse:

 

bitte übersenden Sie mir gemäß § 305 SGB V eine Auskunft über alle mich ^     betreffenden Leistungsdaten – Versicherungsnummer …..“

 

Vordruck Rentenversicherung

 

bitte übersenden Sie mir einen unverschlüsselten Rentenversicherungsverlauf – Versicherungsnummer …..“.

 

Vordruck Anforderung der Primärdokumentation von Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern, etc:

 

„in einem anhängigen Berufungsverfahren hat der für Ihren Patienten zuständige 13. Senat des Landessozialgerichts dazu aufgefordert, dass die vollständigen Patientenakten sämtlicher behandelnder Ärzte, Therapeuten und Kliniken eingereicht werden. Die Patientenakten umfassen mehr als nur die Befundberichte und Arztbriefe, sondern vielmehr die vollständige Behandlungsdokumentation, sämtliche Laborbefunde usw. In diesem Umfang liegen diese Unterlagen dem Gericht derzeit nicht vor. Die gerichtliche Auflage muss also dringend erfüllt werden, um den medizinischen Sachverhalt weiter aufzuklären.

 

Nach § 630 f. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist der Behandelnde verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. In der Patientenakte sind sämtliche wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen (insb. Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen und deren Ergebnisse, Befunde, Therapien etc.). Die Patientenakte ist für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren. Jeder Patient hat gemäß § 630 g BGB das Recht auf Einsicht in die Patientenakten. Er kann auch eine elektronische Abschrift verlangen.

 

Zur Erfüllung der oben erwähnten gerichtlichen Auflage möchte ich Sie daher bitten, dass Sie mir die gesamte Patientendokumentation über mich in Kopie übergeben.

Kosten für die Kopien dürfen nicht verlangt werden. Dies ergibt sich aus Art. 15 Abs. 3 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Kosten dürfen demnach nur für weitere Kopien beanspruch werden, nicht hingegen für die erstmalige Erstellung von Kopien. Für den Fall einer rein elektronischen Übermittlung der Patientenakte dürfen gar keine Kosten geltend gemacht werden.“

 

2.4. Darüber hinaus durfte das SG die medizinischen Fakten nicht ohne Nachweis der dazu erforderlichen Sachkunde selber bewerten. Das gilt hier namentlich bezüglich der Medikation des Klägers, aus der das SG den Schluss zieht, sie belege allenfalls eine leichte Form von Kopfschmerz sowie das Kopfschmerztagebuch des Klägers, das das SG ebenfalls ohne Beleg für die dazu erforderliche medizinische Sachkunde ohne ärztliche Beratung selbst bewertet hat. Denn auch die Tätigkeit in einem medizinischen Fachgebiet macht aus einem Richter keinen medizinischen Sachverständigen – mag die tatrichterliche Erfahrung dabei noch so groß sein.

3. Schließlich durfte das SG den Kläger nicht entgegen des Gebots aus § 105 SGG, der einen Gerichtsbescheid ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter nur bei geklärtem Sachverhalt und Sachen ohne besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten zulässt, nicht seinen gesetzlichen Richtern iSd Art 101 Grundgesetz entziehen. Denn mit ihrer besonderen Lebenserfahrung, die sich in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts insbesondere aus dem Verfahren ihrer Berufung gemäß § 13 SGG in Verbindung mit § 14 ABs 3 SGG ergibt, sind die ehrenamtlichen Richter genauso gesetzliche Richter iSd Art 101 GG wie die Berufsrichter.

 

II. Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind wesentlich. Es kann auch vom erkennenden Gericht nicht ohne weitere Beweiserhebung in der Sache entschieden werden.

 

1. Rechtlich ist für die gemäß  48 SGB X iVm § 2 SGB IX streitentscheidende Frage, ob bei dem Kläger ein GdB von 60 anzuerkennen ist, dabei von Folgendem auszugehen: Nach § 2 SGB IX in seiner aktuellen Fassung sind Behinderungen anzuerkennen bei Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Abs. 1 Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Abs. 1 Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben (Abs. 2 Satz 1).

Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden festgestellt, § 152 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 SGB IX. Die weitere Präzisierung ergibt sich aus der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, Bundesgesetzblatt Teil I Seite 2412) sowie insbesondere den VMG gemäß der Anlage zu § 2 der VersMedV.

Die Bemessung des Gesamt-GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. nur BSG, Urteil v. 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R, Rn. 30 m.w.N. aus der Rspr.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche Gesamt-GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, juris Rn. 18 mit weiteren Nachweisen). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil v. 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R, Rn. 25).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen - d. h. vor allem die medizinische Diagnosen - müssen dabei nach der o.g. ständigen Rechtsprechung des BSG für das Schwerbehindertenrecht im sogenannten Vollbeweis fälschungssicher erhoben werden und auf Dauer (d. h. mehr als sechs Monate) vorliegen. Hierfür ist ein der Gewissheit nahekommender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Diese volle Überzeugung wird nur dann als gegeben angesehen, wenn eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (näher Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 14. Aufl. 2023, § 128 Rn. 3b m.w.N.).

An dieser Rechtsprechung hat das BSG, soweit ersichtlich (ebenso wie der erkennende Senat) auch nach der Neufassung des Behinderungsbergriffs in § 2 SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz im Jahre 2017 festgehalten ( BSG Urteile vom 09.03.2023 – B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R sowie Urteile des erkennenden Gerichts vom 13.03.2020  - L 13 SB 115/18 – nachgehend BSG B 9 SB 20/20 B -, vom 20.11.2020 - L 13 SB 236/19  und vom 03.07.2020 - L 13 SB 33/20 - vom 03.07.2020 – L 13 SB 33/20 – sowie 01.03.2024 - L 13 SB 364/21-).Denn mit dieser Neufassung hat der Gesetzgeber zwar den Begriff der „hohen Wahrscheinlichkeit“ in die Norm des § 2 SGB  IX eingefügt, so dass man denken könnte, es käme nun für medizinische Feststellungen nach dem § 2 SGB IX nicht mehr wie zuvor auf die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit an.

 

Ausweislich des Wortlauts, des Sinnzusammenhangs sowie der Entstehungsgeschichte der Neufassung dieser Norm im Jahr 2017 bezieht sich die mildere Form der „hohen Wahrscheinlichkeit“ aber gerade nicht auf die medizinischen Umstände des Behinderungsbegriffs, d.h. auf die sogenannten „Beeinträchtigungen“. Die mildere Form der hohen Wahrscheinlichkeit bezieht sich vielmehr allein auf die der medizinischen Feststellung einer Beeinträchtigung folgende rechtliche Bewertung der Behinderung. Das heißt bei der hohen Wahrscheinlichkeit geht es allein um die Folgen der  im Rahmen der Bestimmung des (Gesamt-)GdB zu berücksichtigenden Wechselwirkung  der (sicher festgestellten) medizinischen Beeinträchtigungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die Menschen an der gleichberechtigten Teilhabe in der  Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit hindern können. Dies ist – wie bisher – eine Frage der dritten Wertungsebene, die nicht medizinischer, sondern allein rechtlicher Natur ist (und für die gerade die besondere Lebenserfahrung der ehrenamtlichen Richter, die sich in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts insbesondere aus dem Verfahren ihrer Berufung gemäß § 13 SGG in Verbindung mit § 14 Abs 3 SGG ergibt, unverzichtbar ist).

Auch die systematische Auslegung ergibt nichts Anderes. Denn hätte der Normgeber in medizinischer Hinsicht eine Abkehr vom bisherigen – und bewährten – Maßstab der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gewollt, so hätte die Neufassung des § 2 SGB IX insoweit auch zu einer entsprechenden Änderung der VersMedV und der VMG gemäß Art 80 Grundgesetz führen müssen.

Schließlich spricht auch die Gesetzesbegründung dafür, dass mit der Neufassung des § 2 SGB IX und dem dort eingefügten Begriff der hohen Wahrscheinlichkeit ausschließlich die dritte – rechtliche – und nicht die vorangehenden zwei medizinischen Wertungsebenen gemeint sind. Denn ausdrücklicher Gesetzeszweck war nicht etwa eine Abkehr von der bisherigen BSG-Rechtsprechung hinsichtlich der medizinischen Voraussetzungen, sondern allein eine Anpassung an die Formulierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK insbes. Präambel lit e und Art 1 Abs 2 UN-BRK). Danach wird Behinderung nicht als ein fest definiertes Konzept verstanden, sondern ist dynamisch und von den jeweiligen Wechselbeziehungen mit umweltbezogenen und personenbedingten Kontextfaktoren abhängig. Demselben Verständnis entsprach i.Ü. auch schon zuvor die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Behinderungsbegriff (vgl Urteil vom 18.12.2014 - C-354/13 - RdNr 59). Dabei war bei der Neufassung des § 2 SGB IX allgemeine Meinung, dass es sich um eine bloß redaktionelle und deklaratorische Änderung handelte (vgl. Bundestagsdrucksache 18/9522 Seiten 188, 191, 227).

Das ist auch zutreffend. Gerade die jüngste Rechtsprechung des BSG zum Merkzeichen der außergewöhnlichen Gehbehinderung (BSG Urteile vom 09.03.2023 – B 9 SB 1/22 R -und B 9 SB 8/21 R -) zeigt das deutlich. Denn dabei hat das BSG – ohne seine bisherige Rechtsprechung zu § 2 SGB IX in Frage zu stellen  und gleichzeitig wie von der Neufassung des § 2 SGB IX und der UN-BRK geboten - darauf abgestellt, dass es  für die entsprechende Feststellung auf die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzutreffenden Verhältnisse im öffentlichen Straßenraum (also u.a. noch nicht flächendeckend abgesenkte Bordsteine, Hindernisse und Stufen) ankommt und nicht allein auf die klinische Umgebung eines barrierefreien Krankenhausflurs. Auch nach der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG ist (wie bisher) für die Feststellung einer Behinderung zunächst die Regelwidrigkeit und die Funktionsstörung nach medizinischen Maßstäben zu beurteilen, die Beeinträchtigung der Teilhabe jedoch auch nach soziologischen und pädagogischen Maßstäben (Urteil vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 Randnummer 29).

Eine Aufgabe der Verpflichtung die medizinischen Voraussetzungen der Teilhabeeinschränkung iSd § 2 SGB IX mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, ergibt sich mithin aus der Neufassung der Norm im Jahr 2017 sowie der seither dazu ergangenen BSG-Rechtsprechung (der der erkennende Senat uneingeschränkt folgt) nicht.

2. Eine solche sichere Gewissheit lässt sich auf Basis der lückenhaften Ermittlungen des SG ebenso wenig gewinnen wie auf Basis der ergänzenden Beweisergebnisse zweiter Instanz, d.h. insbesondere der Anhörung des Klägers und seiner Ehefrau als Zeugin. Denn auch wenn der Kläger und seine Ehefrau dabei einen glaubwürdigen Eindruck machten und den Tagesablauf des Klägers in häuslichen sowie beruflichen Umfeld näher schilderten, steht damit noch nicht fest, ob die vom Kläger angegebenen Schmerzen wirklich medizinisch feststellbar sind oder nicht.

Hierzu ist neben der oben schon genannten Beiziehung von ergänzenden medizinischen Unterlagen und Akten sowie der Vernehmung weiterer Zeugen  vor allem ein schmerzmedizinisches Gutachten auf Grundlage der VMG und der aktuellen Leitlinie für die Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen unverzichtbar (abrufbar unter https://register.awmf.org/assets/guidelines/187-006l_S2k_Aerztliche-Begutachtung-chronische-Schmerzen_2023-08_2.pdf ). Es dürfte sich angesichts der Komplexität der Fragestellung empfehlen, dem Sachverständigen dabei freizustellen, den Kläger ambulant, oder erforderlichenfalls (nach fachlicher Einschätzung des Sachverständigen) teil-stationär begutachten zu lassen. Solche (teil-)stationären Schmerzbegutachtungen mit validieren Prüfverfahren werden z.B. unter Leitung des federführenden Autors der o.g. Schmerz-Begutachtungsrichtlinie T. am Bergmannsheil im A. angeboten.

Denn die Spannbreite, die insofern für die GdB-Bemessung von Migräne im Sinne von (Kopf-)Schmerzen nach den VMG vorgegeben wird, ist besonders weit. Gemäß Punkt B 2. 3 reicht sie je nach Häufigkeit und Dauer der Anfälle und Ausprägung der Begleiterscheinungen von 0 - 10 bei leichter Verlaufsform (Anfälle durchschnittlich einmal monatlich) über 20 – 40 bei mittelgradiger Verlaufsform (häufige Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend) bis 50 – 60 bei schwerer Verlaufsform (lang andauernde Anfälle mit stark ausgeprägten Begleiterscheinungen, Anfallspausen von nur wenigen Tagen). Jedenfalls das vom Kläger gegenüber dem SG vorgelegte Kopfschmerztagebuch legt zumindest eine mittlere Verlaufsform nahe. Darauf aber geht die vom SG in Bezug genommene medizinische Stellungnahme der Beklagten mit keinem Wort ein. In dieser pauschalen und unsubstantiierten Form kann sie daher nicht als Grundlage für ein gerichtliches Urteil dienen – zumal sie eben nicht auf einer Untersuchung des Klägers beruht.

Entsprechendes gilt hinsichtlich der vom Kläger angegebenen Depressionen. Auch zu deren Bewertung wird im Ergebnis nicht auf ein psychiatrisches (Zusatz-)Gutachten verzichtet werden können, falls der zu hörende Schmerzmediziner nicht selbst über die entsprechende psychiatrische Expertise verfügen sollte.

Auch dass sich der Kläger nach den insofern widerspruchsfreien und glaubhaften Bekundungen seiner als Zeugin gehörten Ehefrau an häuslichen Arbeiten kaum beteiligt und die Ehe nicht unbelastet ist, bedeutet zwar ein gewichtiges Indiz für einen Leidensdruck. Dieses Indiz erlaubt aber für sich genommen noch keine sichere medizinische Feststellung durch einen Richter ohne sachverständige Unterstützung durch einen Mediziner.

Das gilt auch für die eigenen Behauptungen des Klägers zu seinen Kopfschmerzen, die ebenso erst noch einer medizinischen Überprüfung bedürfen. Auch diese sind nämlich nicht frei von Widersprüchen und geben Anlass zu Zweifeln.(zB hier bezüglich der Angabe von Schwindel: mal ja/ mal nein)- ebenso wie die unterschiedlichen Ergebnisse der Hörtestungen des Klägers Auch erscheint es zumindest medizinisch erklärungsbedürftig, dass der Kläger trotz der von ihm angegebenen Häufigkeit und Intensität von massiven Kopfschmerzen im Betrieb gefährlichen Tätigkeiten zu verrichten und beruflich Auto zu fahren und dabei sogar Arbeitskollegen zu befördern hat.

Es, empfiehlt sich insofern dringend, zunächst noch den Betriebsarzt des Betriebes, in dem der Kläger arbeitet, anzuhören und dessen zwingend erforderliche Untersuchungen bezüglich der Fahrtauglichkeit des Klägers beizuziehen (früher sog. G 25-Untersuchung). Nach §§ 11, 48 Abs 5 und 6 sowie der Anlage 5 Nr. 2 Absatz 2, zweiter Spiegelstrich der Fahrerlaubnisverordnung muss der Kläger als über 50-jähriger nämlich wegen der beruflichen Beförderung von Menschen jährlich zu einer entsprechenden medizinischen Untersuchung sowohl des Arbeitgebers wie der Fahrerlaubnisbehörde (Personenbeförderungsschein) – zumindest wenn sein Arbeitgeber insofern die Bestimmungen des Arbeitsschutzes korrekt beachtet und die entsprechenden Nachweise verlangt. Diese Untersuchung erstreckt sich nach den oben genannten Bestimmungen auf:

a) Belastbarkeit

b) Orientierungsleistung

c) Konzentrationsleistung

d) Aufmerksamkeitsleistung

e) Reaktionsfähigkeit.

Die Eignung der zur Untersuchung dieser Merkmale eingesetzten psychologischen Testverfahren muss dabei gemäß Abs. 3 der Anlage 5 zur Fahrerlaubnisverordnung von einer unabhängigen Stelle für die Bestätigung der Eignung der eingesetzten psychologischen Testverfahren und –geräten nach § 71 a der Fahrerlaubnisverordnung bestätigt worden sein. Die Gutachten selbst müssen der Anlage 4a der Fahrerlaubnisverordnung entsprechen – d.h. höchsten wissenschaftlichen Anforderungen – und die verwandten Testverfahren im Einzelnen benennen.

Aus dieser klaren und stringenten Regelung (die für Gutachten im Sozialrecht im SGG leider fehlt) folgt, dass die entsprechenden verkehrsmedizinischen Gutachten auch für die hier in Rede stehenden Streitfragen eine Quelle höchster Qualität darstellen, so dass ihre Beiziehung – und Auswertung - vor jedem neuen Gutachten unverzichtbar ist. Das gilt ebenso für die betriebsmedizinische Eignungsuntersuchung für gefährliche Tätigkeiten, wie sie der Kläger ausübt (und die gemäß §§ 5, 6 des Arbeitsschutzgesetzes nebst den gemäß § 18 des Arbeitsschutzgesetzes erlassenen Verordnungen beim Arbeitgeber bzw. dem Betriebsarzt dokumentiert sein muss).

Sollten diese verkehrsmedizinischen Gutachten sowie Gefährdungsbeurteilungen aber nicht (mehr) beim Arbeitgeber bzw. Betriebsarzt des Klägers existieren oder wider Erwarten keine eindeutigen Schlüsse erlauben, müssten zum Arbeitsalltag des Klägers allerdings auch noch die Arbeitskollegen des Klägers vom SG als Zeugen gehört werden,

Die zur Feststellung dieser streitentscheidenden Umstände erforderlichen medizinischen Ermittlungen müssen daher erst noch gerichtlich durchgeführt werden, bevor entschieden werden kann. Es handelt sich dabei um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG gebieten (vgl. LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07). Andernfalls bestünde nicht zuletzt die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden.

Das erkennende Gericht hat daher von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten sowie der Allgemeinheit an einer höchstrichterlichen Klärung der dabei streitentscheidenden Grundsatzfragen im entschiedenen Sinne durch Zurückverweisung bei gleichzeitiger Zulassung der Revision Gebrauch gemacht.

 

III. Anordnungen gemäß § 159 Abs. 2 SGG an das SG

Folgendes wird das SG nachzuholen haben (jeweils nach entsprechender Befreiung von Schweigepflichten seitens der Betroffenen, soweit erforderlich):

 

1. Beiziehen der Personalakten des Klägers nebst arbeitsmedizinischen Befunden und der Akten der gesetzlichen und der privaten Unfallversicherung des Klägers.

2. Anfordern der vollständigen Primärbefunde über die medizinischen Behandlungen und Therapien des Klägers seit dessen Verschlimmerungsantrag vom 18.12.2019, bei Unklarheiten und Lücken in diesen Dokumentationen Vernehmung der entsprechenden Ärzte/Therapeuten als Zeugen,

3. Anfordern eines vollständigen Leistungsverzeichnisses der Krankenversicherung des Klägers über alle ihm seit dem 18.12.2019 gewährten Leistungen sowie eines unverschlüsselten Rentenversicherungsverlaufs des Klägers,

4. Vernehmung der Arbeitskollegen des Klägers zu dessen Angaben über (Kopf-)Schmerzen und deswegen gewährten Pausen bei der Arbeit.

5. Sodann Vorgabe von richterlichen Feststellungen zum Tagesablauf des Klägers seit dem 18.12.2019 als Anknüpfungstatsachen für ein gerichtliches Sachverständigengutachten gemäß § 106 Abs 2 Nr 4 SGG auf ambulanter, erforderlichenfalls (teil-)stationärer Grundlage mindestens auf dem (Haupt-)Fachgebiet Schmerzmedizin (mit Zusatzqualifikation in Sozialmedizin oder gleichwertigem medizinischen Brückenfach) nebst HNO-und psychiatrischem Gutachten als Zusatzgutachten zu folgenden Beweisfragen auf Basis der VMG und dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft:

a) In welchem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand befand sich der Kläger seit dem 18.12.2019 auf Dauer dh für mindestens 6 Monate, seit – ggf. gestaffelt? (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)

b) Welche Teilhabeeinschränkungen ergaben sich aus den unter a) genannten Erkrankungen seit dem 18.12.2019 auf Dauer und welchen Einzelgrad der Behinderung iSd VMG erreichen die jeweiligen Erkrankungen auf ihrem Funktionsgebiet - ggf gestaffelt (Beweisgrad: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

c) Liegen zwischen den jeweiligen Funktionsstörungen des Klägers. seit dem 18.12.2019 bezogen auf Teilhabeeinschränkungen Überschneidungen, Wechselwirkungen oder Verstärkungen vor, ggf. inwiefern (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

d) Für den Fall, dass keine einzelne Funktionsstörung des Klägers. iSd Fragen a) und b) einen Einzelgrad der Behinderung von mindesten 50 erreicht: Ist der Kläger durch die Gesamtwirkung der bei ihm ggf. auf Dauer seit dem Verschlimmerungsantrag vom 18.12.2019 bestehenden Erkrankungen in gleicher Weise an der Teilhabe gehindert wie ein Mensch, der allein wegen einer Einzelerkrankung auf dem Funktionsgebiet des bei dem Kläger führenden Leiden einen Grad der Behinderung von 50 hat (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

e) Welchen Gesamt-GdB halten Sie für den Kläger. ab dem Verschlimmerungsantrag vom 18.12.2019 medizinisch für angemessen, ggf. zeitlich gestaffelt (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

f) In welchem Gesundheitszustand wird sich der Kläger unter In-Anspruch-Nehmen der medizinisch gebotenen und nicht mit unzumutbaren Nebenwirkungen verbundenen Therapien voraussichtlich auf Dauer weiterhin befinden (Beweisgrad: überwiegende Wahrscheinlichkeit)?

 

Das SG muss dazu sicherstellen, dass die beauftragten Gutachter ihre Aufgabe als medizinische Sachverständige und die ihnen dabei gestellten Beweisfragen rechtlich korrekt verstehen. Das Mittel der Wahl hierzu ist nach dem Gesetz die Einweisung der Sachverständigen in einem gerichtlichen Termin unter Anwesenheit der Beteiligten gemäß § 404a Abs. 2 ZPO unter entsprechenden Vorgaben gemäß § 404a Abs. 3 ZPO jeweils in Verbindung mit § 118 Abs. 1 SGG.

 

Dabei muss das SG den Sachverständigen eingehend Folgendes erklären und erläutern:

 

Die Aufgabe eines medizinischen Sachverständigen unterscheidet sich grundlegend von der sonst üblichen helfenden Rolle eines Arztes gegenüber einem Patienten. Der gerichtliche Sachverständige ist allein der Feststellung der empirischen Wahrheit verpflichtet. Er dient nur dem Gericht und nicht den Beteiligten. Wie ein Richter muss der Sachverständige strikt neutral sein. Bei der wissenschaftlichen Feststellung der in sein Fachgebiet fallenden Tatsachen geht es nicht um persönlichen Meinungen, sondern allein um objektive wissenschaftliche Messdaten. Subjektive Beschwerdeangaben eines Probanden reichen für einen Beweis vor Gericht nicht aus.

 

Ein lehrreiches Beispiel dazu ist der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23.03.2017 -  2 WD 16.16 - zu einem Attest, das vorgelegt wurde, um die Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit eines Soldaten zu belegen. Das BVerwG verwarf die entsprechende Behauptung und führte zur Begründung aus:

 

Zu seiner Reisefähigkeit für diesen Tag enthält das truppenärztliche Attest aber gar keine Aussage. Es macht auch eine Verhandlungsunfähigkeit für den Folgetag nicht glaubhaft. Denn es gibt zwar die Behauptungen des Soldaten wieder, unter welchen Krankheitssymptomen er gelitten habe, enthält aber gar keine Erläuterung dazu, wieso diese Behauptungen aus medizinischer Sicht plausibel seien. Vor allem fehlen tatsächliche Feststellungen zur genauen Art der Erkrankung und zum Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigung, auf deren Grundlage hinreichend sicher auf das Vorliegen einer Verhandlungsunfähigkeit geschlossen werden könnte (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. Januar 2014 - 1 Ws 380/13 - juris Rn. 7). Es enthält auch keine entsprechende Diagnose. Es gibt zwar wieder, welche Untersuchungen Oberstabsarzt A. durchgeführt hat, führt aber die Ergebnisse der Untersuchung nicht an. Das Attest führt selbst zutreffend aus, dass die Frage einer Verhandlungsfähigkeit eines Verfahrensbeteiligten durch das Gericht auf der Grundlage einer aussagekräftigen medizinischen Empfehlung festzustellen ist. Dieser Aussagekraft entbehrt es allerdings und ist daher nicht geeignet, dem Senat die medizinische Einschätzung plausibel zu machen.

 

Bei der Überprüfung subjektiver Beschwerde-Angaben ist dementsprechend - schon aus Rechtsgründen - immer von der sog. "Nullhypothese" auszugehen. Das heißt alle subjektiven Angaben einer vom Sachverständigen zu beurteilenden Auskunftsperson sind solange als unwahr anzusehen, bis denkgesetzlich ein objektiver Nachweis für ihre Richtigkeit vorliegt. Subjektive Beschwerdeschilderungen eines Menschen beweisen daher für sich genommen lediglich, dass der Betreffende sie (aus-) sprechen kann. Es geht für die Gutachten vielmehr um die wissenschaftliche Prüfung des geschilderten Beschwerdeinhalts.

 

Dazu hat der Sachverständige dazu Stellung zu nehmen, ob und aufgrund welcher objektivierbaren Fakten die von dem betreffenden Menschen geklagten Funktionsbeeinträchtigungen im geklagten Umfang auch tatsächlich bestehen. Diese Abklärung erfordert eine eingehende Konsistenzprüfung durch kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage. Niemals genügt allein die Beschwerdeschilderung eines Probanden, um hieraus eine Diagnose abzuleiten. Entscheidend ist vielmehr nur der vom Sachverständigen erhobene wissenschaftlich messbare sowie validierte Befund.

 

Das bedeutet allerdings nicht etwa, dass Krankheitsbilder bzw. Krankheitssymptome, die nur schwer bzw. gar nicht direkt messbar sind (zB Schmerz) für den Nachweis ausscheiden. Vielmehr ist hierbei – wie auch sonst bei der gerichtlichen Feststellung sog. innerer Tatsachen (zB Vorsatz) - auf sog. Hilfstatsachen bzw. Indizien abzustellen, die sich objektivierbar messen lassen (näher zum entsprechenden Vorgehen: Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht 5. Auflage 2021, Randnummern 621 ff – dieses Werk ist ohnehin jedem gerichtlichen Sachverständigen ans Herz zu legen, weil es allgemeinverständlich die Grundlagen der insoweit auch für medizinische Sachverständige maßgeblichen Beweislehre erläutert).

 

Dabei ist für die Feststellung von Gesundheitsstörungen erforderlich, einen Grad an überindividuell erklärbarer Richtigkeit zu belegen, bei dem – so die übereinstimmende Formulierung aller obersten Gerichte in Deutschland - kein vernünftiger Zweifel an der getroffenen Feststellung über den Krankheitszustand besteht. Eine dazu aus der ärztlichen Praxis allgemein bekannte Entsprechung gleichen Wahrscheinlichkeits- bzw. Sicherheitsgrades ist zB die Sicherheit der Feststellung der Blutgruppe, wie sie vor jeder Blutspende gefordert wird.

 

In jedem Falle jedoch muss für die sozialgerichtliche Beweiserhebung zu Krankheitszuständen von den international anerkannten Klassifizierungssystemen ausgegangen werden, d.h. von der Klassifizierung nach der sog. ICD-Verschlüsselung der Weltgesundheitsorganisation – WHO - (bzw. hinsichtlich der daraus folgenden Funktionseinschränkungen der ICF-Verschlüsselung der WHO) oder dem international anerkannten Manual der (amerikanischen) medizinischen Fachgesellschaften (DSM). Dies ist schon deswegen zwingend erforderlich, um eine Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit der verwandten Begriffe und Begriffsbestimmungen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass gerichtliche Gutachten vor den Sozialgerichten, die nicht die von der WHO anerkannte Klassifizierung der ICD oder dem DSM zugrunde legen, nicht gerichtlich verwertbar sind.

 

Auch was die wissenschaftliche Methodik angeht, sind für die Beweiserhebung vor deutschen Sozialgerichten nur die in der Naturwissenschaft anerkannten, d.h. evidenzbasierten, empirischen und wissenschaftlich auf der rationalen Aufklärung beruhenden Methoden anzuerkennen. „Alternative“ Methoden, die sich der rationalen wissenschaftlichen Überprüfung entziehen, scheiden von vorneherein für eine gerichtliche Beweiserhebung aus, weil diese gemäß § 128 SGG immer vernunftgeleitet und von den Beteiligten sowie den höheren Instanzen überprüfbar sein muss. Dementsprechend sind vor und für Sozialgerichte auch nur solche Sachverständige zuzulassen, die uneingeschränkt auf dem Boden der wissenschaftlichen evidenzbasierten Schulmedizin stehen und die mit den in dieser Schulmedizin wissenschaftlich anerkannten Methoden arbeiten sowie ihre Ergebnisse transparent im wissenschaftlichen Diskurs nachprüfbar zur Diskussion stellen.

 

Wie später auch das Gericht so kann und muss auch der Sachverständige dabei in medizinischen Gutachten von bestimmten Grundannahmen und Beweiswürdigungs- bzw. Vermutungsregeln ausgehen, die aufgrund der geltenden Rechtsordnung sowie aufgrund allgemeiner Erkenntnisse als Erfahrungssätze zugrunde gelegt werden müssen.

 

Die wichtigste Grundannahme ist dabei die, dass Gesundheit als Regelzustand eines Menschen vermutet und Krankheit als Ausnahmezustand nur bei Vorliegen entsprechender nachprüfbarer Beweise angenommen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die alters- und geschlechtsentsprechende Konstitution von Menschen eine erhebliche Band- und Streubreite aufweist, so dass nur Zustände, die sich jenseits der natürlichen Band- bzw. Streubreite befinden, als fraglich krank angesehen werden können. Regelhafte Zustände, die mit dem Veränderungsprozess des menschlichen Körpers von der Geburt bis zum Tod sowie wie mit natürlichen Veränderungsprozessen des menschlichen Körpers bzw. der menschlichen Seele zusammenhängen und die sich noch innerhalb der o.g. Streubreite bewegen, gelten daher grundsätzlich nicht als Krankheit im Sinne des Sozialrechts

 

Eine weitere wichtige zentrale Vermutungsregel im medizinischen Gutachten für Sozialgerichte besteht darin, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass eine Krankheit nur dann angenommen werden kann, wenn sich im klinischen Bild Hinweise für einen entsprechenden Leidensdruck ergeben. Es gilt die generelle Vermutung, dass es keine Krankheit ohne Leid gibt, so dass bei Abwesenheit von Anzeichen für einen Leidensdruck vom Fehlen einer Erkrankung ausgegangen werden muss. Wichtigstes Indiz für den Leidensdruck ist die Inanspruchnahme fachlicher medizinischer Hilfe im gebotenen Umfang.

 

Nur in Ausnahmefällen und auch dort nur bei hinreichend sicheren Nachweisen kann eine klinisch stumme Erkrankung als sicher gegeben zugrunde gelegt werden. Ebenso wie in diesen Fällen ist auch bei einem Arbeiten auf Kosten der Gesundheit im Einzelnen anhand messbarer Daten nachzuweisen, dass eine Erkrankung tatsächlich vorlag aber nicht erkannt und nicht leidensgerecht behandelt wurde. Ansonsten gilt die Vermutung, dass bei Nichtausschöpfen der vom Gesundheitswesen angebotenen Behandlungsmöglichkeiten kein hinreichender Nachweis für einen der Krankheit entsprechenden Leidensdruck vorliegt. Insofern ist auch das Fehlen von therapeutischen Maßnahmen ein Beweiszeichen für das Fehlen einer Erkrankung. Auch von diesem Grundsatz gibt es in bestimmten Fällen Ausnahmen, nämlich insbesondere dann, wenn die Nicht-Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen Teil des Krankheitsbildes ist. Allerdings muss dann in diesen Fällen aufgrund anderer Umstände der Nachweis für die Erkrankung objektivierbar geführt werden. Die bloß theoretische Möglichkeit, dass ein solcher Fall vorliegen könnte reicht zum Nachweis nicht aus.

 

Bei der Würdigung von Fremdbefunden ist regelmäßig davon auszugehen, dass ausschließlich das Dokumentierte auch tatsächlich durchgeführt wurde. Bei lückenhafter Dokumentation bedeutet dies grundsätzlich, dass nur die Teile berücksichtigt werden können, die ausdrücklich dokumentiert worden sind.

 

Diese Beweisregel kann im Einzelfall allerdings erschüttert werden, wenn festgestellt werden kann, dass die entsprechenden Maßnahmen trotz unvollständiger Dokumentation real durchgeführt wurden. Eine solche Feststellung ist aber regelmäßig Aufgabe des erkennenden Gerichts, das dazu in aller Regel die entsprechenden Lücken der Dokumentation durch Zeugenvernehmung der Therapeuten aufklären bzw. schließen muss. Der medizinische Sachverständige darf und muss eine medizinische Dokumentation ausschließlich medizinisch bewerten. Das aber bedeutet, dass er fremde Diagnosen nicht ohne eigene Prüfung übernehmen darf. In der entsprechenden Analyse muss der Sachverständige genau herausarbeiten, ob die betreffende Diagnose leitliniengerecht und gesichert gestellt wurde, oder ob es sich eine lediglich auf anamnestischen Eigenangaben des Patienten beruhende Verdachtsdiagnose handelte. Letztere hat nur dann einen gesichert(eren) Beweiswert, wenn sich ihre Richtigkeit im späteren Behandlungsverlauf herausgestellt haben sollte („Wer heilt hat recht“).

 

Bei alledem muss der medizinische Sachverständige in seinem Gutachten die Grenzen seiner Fachkompetenz wahren und darf daher nie Ausführungen jenseits davon machen – insbesondere Rechtsausführungen und aussagepsychologische Bewertungen sind einem Mediziner strikt verboten. Das heißt allerdings nicht, dass Aussagen nicht zu würdigen seien – nur eben strikt beschränkt auf die Frage, ob das Ausgesagte medizinisch glaubhaft ist oder nicht, dh ob es sich mit den Erkenntnissen der Medizin generell und den Befunden im konkreten Fall erläutern lässt, ggf. mit welchem Gewissheitsgrad.

 

Bei der abschließenden medizinischen Beurteilung (sog. Epikrise) sind nach alledem immer folgende zwei Leitfragen zur Berücksichtigung zugrunde zu legen:

 

Erstens: Sind die beklagten Erkrankungen und Funktionsstörungen ohne vernünftige Zweifel nachweisbar (Konsistenzprüfung) ? 

 

und

 

Zweitens: Sind die Schilderungen von Krankheiten und Funktionsstörungen sowie ihrer Entwicklung bzw. Verursachung auch alternativ erklärbar, ggf. mit welcher wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit bzw. Sicherheit (Alternativprüfung) ?.

 

Bei der wissenschaftlich und rechtlich immer gebotenen ausdrücklichen Alternativprüfung muss drittens immer dazu Stellung genommen werden, ob eine willentliche Steuerung der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigung in Betracht kommt. Hierbei geht es um die folgenden immer in Betracht zu ziehenden (Selbst-bzw. Fremd-) Täuschungsphänomene Simulation, Aggravation oder Dissimulation.

 

Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer Gesundheitsstörung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken.

 

Aggravation ist die bewusste, verschlimmernde bzw. übertreibende Darstellung einer Gesundheitsstörung zu erkennbaren Zwecken.

 

Dissimulation beschreibt das absichtliche Herunterspielen bzw. das Verbergen von Krankheitsanzeichen um für gesund gehalten zu werden.

 

Verdeutlichungstendenzen sind dem gegenüber legitime Bemühungen einer Probandin / eines Probanden, der Gutachterin oder dem Gutachter das Krankheitsempfinden klarzumachen.

 

Aspekte, die bei einem medizinischen Gutachten in die Abwägung einbezogen werden müssen, sind dabei insbesondere:

 

a) Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten des Betroffenen in der Untersuchung und subjektiver Beschwerdeschilderung.

b) Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht im Missverhältnis zur Vagheit der Schilderung der einzelnen Symptome.

c) Angaben zum Krankheitsverlauf sind wenig oder gar nicht präzisierbar.

d) Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe.

e) Ungeachtet der Angabe schwerer subjektiver Beeinträchtigungen erweist sich die Alltagsbewältigung des Betroffenen als weitgehend intakt.

f). Die Angaben des Probanden weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen und der Aktenlage ab.

 

Gerade die Frage des Vorliegens und des Verlaufs von Schmerz- und/oder psychischen Erkrankungen, um die es im vorliegenden Fall zentral geht, sind dabei besonders täuschungsanfällige Diagnosen. Denn es liegt in der Natur dieser Erkrankungen, dass die Betroffenen – z.B. wie hier durchaus naheliegend -  aus Furcht vor beruflichen Konsequenzen einer Aufdeckung ihrer Erkrankung versuchen Symptome zu verbergen bzw. – umgekehrt in Erwartung sog. sekundärer Krankheitsgewinne vorspiegeln (je nach sozialem Kontext). Das führt nicht selten dazu, dass auch Angaben der Probanden gegenüber medizinischen Behandlern nicht zuverlässig sind. Auch das ist im Übrigen ein allgemeiner Erfahrungssatz, den jeder Sachverständige bei der Beurteilung von Schmerz- und/oder psychischen Erkrankungen in Rechnung ziehen muss – ebenso wie später die Gerichte, die deren Gutachten auswerten. Auf den Abgleich der in den Akten enthaltenen Angaben mit den Wahrnehmungen des sozialen Umfelds sowie auf objektive Messdaten von als (Schmerz- oder psychiatrische) Therapeutika verordneten Substanzen im Körper (bzw. von deren Abbauprodukten) kann für ein solches Gutachten daher in der Regel nicht verzichtet werden. Das Vorliegen dieser Erkrankungen muss in jedem Fall vor Gericht besonders kritisch überprüft werden.

 

Nicht zuletzt deswegen ist eine besonders sorgfältige Aktenanalyse in solchen Fällen unverzichtbar. Das bedeutet, dass ein Sachverständiger die Akten wie ein Richter mehrfach (mindestens drei Mal, zuerst bei Eingang mit der Fragestellung, ob noch etwas fehlt, dann vor der Begutachtungssituation und dann noch einmal bei Abfassen des Gutachtens) lesen und im Detail analysieren muss – was ihm selbstverständlich auch zu vergüten ist (auch wenn einzelne Kostenbeamte dies uU zunächst nicht einsehen sollten).Letzteres gilt allerdings nur, wenn die Sachverständigen ihren Gedankengang dabei nach dem Grundprinzip „Ansprechen – Beurteilen – Folgern“ auch strukturieren und offenlegen. Das heißt, dass in einem ersten Schritt alle für die medizinische Frage relevanten Daten aus der Akte chronologisch aufgeführt werden müssen, am besten in der Struktur eines Zeitpfeils (Ansprechen). Im zweiten Schritt sind diese Umstände dann medizinisch zu analysieren (Beurteilen). Im dritten Schritt, d.h. in der Epikrise, sind sie schließlich für die Schlussfolgerung der Beantwortung der Fallfrage zu bewerten (Folgern). Wenn das Gutachten so aufgebaut ist, ist auch der entsprechende Honoraranspruch für die dafür erforderliche Zeit gerechtfertigt – sonst nicht.

 

Gefordert ist im Ergebnis jedenfalls immer eine eingehende sozialmedizinische Epikrise: Sie ist eine zusammenfassende und kritische Interpretation der Krankengeschichte und der veranlassten Therapie. Diese sozialmedizinische Epikrise muss alle wichtigen Angaben zur Vorgeschichte und Beschwerdeschilderung, zum Verlauf, zu den erhobenen Befunden und zu den endgültig festgestellten Krankheiten bzw. Diagnosen sowie zu den möglichen Differentialdiagnosen, zur empfohlenen Therapie und/oder Medikation, zur Heilung oder Linderung der Krankheit sowie auch zur Prognose enthalten. Sozialmedizinisch muss der Mensch, der aus Leib und Seele besteht, dabei unter Mitberücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit in Längsschnittbetrachtung von Biographie und Lebenssituation betrachtet werden.

 

Zur wissenschaftlichen Redlichkeit jedes Gutachtens gehört dabei aber auch, die jeweiligen Messgenauigkeiten der verwandten Messmethoden sowie ihren jeweiligen Messfehler offenzulegen. Das bedeutet, dass zu jeder angewandten Methode anhand der dazu wissenschaftlich veröffentlichten Daten anzugeben ist, in wie vielen Fällen falsch positive bzw. falsch negative Ergebnisse gemessen werden.

 

Es gibt schließlich schon denkgesetzlich keine Messung ohne Messfehler. Das gilt sowohl hinsichtlich des Messinstruments, des Messvorgangs einschließlich der messenden Person sowie schließlich hinsichtlich der gemessenen Probe bzw. der untersuchten Person: Auf jeder dieser Ebenen kommt es immer zwingend zu Messfehlern. Je nach Qualität der Messinstrumente- und Verfahren, nach dem Ausbildungsstand der Messpersonen und der Konstitution und Mitarbeit der untersuchten Personen sind diese Messfehler größer oder kleiner. Ganz vermeiden lassen sie sich nie. Dieses Maß unvermeidlicher Messfehler ist daher auch in medizinischen Gutachten für Gerichte immer offen zu legen und bei jeder Messung durch entsprechenden Sicherheitszuschlag zu berücksichtigenden (Beispiel bei der in orthopädischen Gutachten zugrunde gelegten Neutral-Null-Methode: plus/minus 10 Grad Winkelabweichung). Ggf. sind Messungen auch zu wiederholen (Merksatz: einmal messen ist gut, mehrmals messen ist besser).

 

Zudem ist jedes Messverfahren regelmäßig immer nur auf eine spezifische Frage zugeschnitten und für andere Fragestellungen daher sinnlos oder sogar irreführend. In der Sprache der Medizin wird dies mit dem Maß dafür ausgedrückt, wie sensitiv bzw. wie spezifisch die jeweilige Messmethode für eine in Betracht gezogene Erkrankung ist.

 

Schließlich müssen medizinische Messwerte immer mit Blick auf die sogenannte Prävalenz, dh die Normalverteilung des Messwerts in der gesunden Durchschnittsbevölkerung gewichtet und interpretiert werden. Denn sonst kommt es durch die o.g. unvermeidlichen Messfehler - ebenso unvermeidlich - zur Fehlinterpretation der Messwerte und zu medizinischen Fehlurteilen. Diese allgemeinen Aussagen zur (Nicht-)Eignung und zur relevanten Validität der jeweiligen Messverfahren der Medizin sind auch keine allgemein bekannten Tatsachen, die ein Gericht ohne sachverständige Hilfe einordnen kann oder darf – ganz gleich wie viel tatrichterliche Erfahrung ein Richter in medizinischen Fragen haben mag.

 

Bei allen Begutachtungen, bei denen es um eine retrospektive Analyse geht, hat der Sachverständige zudem zu bedenken, dass nicht der Befund zum Untersuchungszeitpunkt ausschlaggebend ist. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, aufgrund aller erreichbaren Informationen retrospektiv eine möglichst sichere Diagnose für den zu beurteilenden Zeitraum zu stellen. Bei allen Begutachtungen, die prognostische Überlegungen beinhalten, muss anhand der zum Untersuchungszeitpunkt erhobenen Befunde umgekehrt eine möglichst sichere Prognose für die Zukunft erstellt werden.

 

Bei der abschließenden sozialmedizinischen Beantwortung der Beweisfragen ist ferner auf die Frage einzugehen, ob alternativ zu medizinischen Ursachen auch andere, z. B. im sozialen Bereich oder in der Beziehungswelt liegende Ursachen für die geklagten Beschwerden in Frage kommen. Darüber hinaus ist abzuklären, ob Erkrankungen vorliegen, welche noch behandelbar sind und ggf. durch welche Therapien und / oder therapeutischen Maßnahmen und / oder Hilfsmittel sowie ob bzw. mit welchem genauen Ergebnis. D. h. es ist immer auch zu prüfen, ob die von der gesetzlichen Krankenversicherung für die betroffenen Leiden vorgesehenen Behandlungsmöglichkeiten und/oder Hilfsmittel innerhalb von sechs Monaten bei motivierter Mitwirkung eines betroffenen Patienten zu einer Heilung oder Linderung des betreffenden Leidens führen können. Für den Fall, dass sich eine solche Heilung oder Linderung allgemein nicht sicher ausschließen lässt, liegt - unabhängig von der Motivation des konkret untersuchten Klägers - ein sogenanntes Behandlungsleiden vor, das für die Feststellung eines sozialmedizinischen Dauerzustandes grundsätzlich außer Betracht bleiben muss. Nur dann also, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Zustand des Betroffenen auch bei optimaler Therapie unveränderbar ist, darf er als Dauerzustand bewertet werden.

 

Es ist schließlich darzulegen, ob bzw. inwieweit die getroffenen Aussagen auch dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutreffen, falls den Eigenangaben des Betroffenen nicht gefolgt werden kann. Denn auch insoweit ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit allein Sache des erkennenden Gerichts. Dem gegenüber ist es Aufgabe von sachverständigen Gutachtern, sich allein auf evidenzbasierte, d. h. wissenschaftliche vor Gericht anerkannte Messergebnisse zu stützen.

 

Sofern keine sichere Diagnose gestellt und/oder die Beweisfragen des Gerichts nicht sicher beantwortet werden können, ist darzulegen, ob sich die gestellte Beweisfrage des Gerichts anhand ergänzender weiterreichender Untersuchungsverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beantworten lässt, z. B. durch stationäre Beobachtung. Sollte dies aber nach dem heutigen Stand der medizinischen Erkenntnisse schlechthin unmöglich sein, so ist auch dies unter der genauen Angabe der Gründe darzulegen.

 

Der medizinische Sachverständige hat sich stets bewusst zu sein, dass auch eine solche Antwort im Sinne einer Nicht-Beantwortbarkeit der gerichtlichen Beweisfragen legitim – und sogar geboten sein kann, wenn die medizinische Wissenschaft nach heutigem Stand eben (noch) keine seriöse Antwort mit dem vom Gericht erfragten Gewissheitsgrad erlaubt. In einer solchen Antwort liegt im Übrigen für ein Gericht kein rechtliches Problem, weil durch die rechtlichen Regeln der (materiellen) Beweislast am Ende jede Frage vor einem Gericht rechtlich für den Urteilsspruch nach den Beweislastregeln entscheidbar ist. Der Sachverständige muss sich mit seinen Antworten daher immer auf dem wissenschaftlich fundierten Gebiet bewegen und darf nie jenseits davon Vermutungen anstellen. Auch nach persönlichen Meinungen oder Einschätzungen ist ein naturwissenschaftlicher Sachverständiger vor Gericht nie gefragt, sondern einzig und allein nach empirischen Messungen und naturwissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitsgraden.

 

Auch nach Eingang des schriftlichen Gutachtens hat das Gericht durch geeignete Rückfragen etwaige Unklarheiten des Gutachtens zu beseitigen -  und den Sachverständigen dazu ggf. in einem Termin persönlich anzuhören. Das dient i.Ü. nicht zuletzt auch dem rechtlichen Gehör der Beteiligten und der dabei ungleich größeren Chance zu Vergleichsschlüssen.

 

Denn erst durch die unmittelbare Begegnung mit den betroffenen Menschen von Angesicht zu Angesicht ist es für das Gericht möglich, seiner Aufgabe gerecht zu werden, die Angaben eines Sachverständigen anhand externer Quellen zu überprüfen um zu einem eigenen Urteil zu gelangen (oder – besser noch -  zu einem sachgerechten Vergleichsvorschlag). Ein solches Vorgehen (das i.Ü. auch erhebliche Kosten einsparen kann) sollte daher sozialgerichtlicher Standard sein, und das nicht erst in der zweiten Instanz.

 

Dabei ist dem erkennenden Gericht bewusst, dass die hiermit verlangten tatrichterlichen Anstrengungen unter den erstinstanzlich in NRW üblichen Bedingungen mit einer Belastung von rund 600 Verfahren pro Richterstelle nicht zu leisten sind, zumal sich die Lage in der Sozialgerichtsbarkeit von NRW durch die Vorgabe einer weiteren Einsparung von 20 % des Personals seitens der Justizverwaltung weiter verschärfen wird. Die (bundes-)gesetzlichen Vorgaben der Aufklärung des Sachverhalts mit dem Ziel der Gewinnung einer an Sicherheit grenzenden Gewissheit sind aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für die Sozialgerichte maßgeblich – unabhängig von der jeweiligen Haushaltslage. Daher ist der Haushaltsgesetzgeber des Landes NRW stets verpflichtet, die Sozialgerichte auch in NRW so auszustatten, dass sie ihren bundesgesetzlichen Aufgaben in der vom Bundessozialgericht vorgegebenen Weise nachkommen können.

 

IV. Für die Zulassung der Revision ist die Erwägung maßgeblich, dass die Vorgaben, die dem SG hier gemäß § 159 Abs .2 SGG erteilt wurden, insofern grundsätzliche Bedeutung haben, als sie auf einer zum Teil von der bisherigen Gerichtspraxis abweichenden Auslegung revisiblen Rechts, nämlich der §§ 103, 106, 128 SGG beruhen. Dabei geht es um die Auslegung der vorgenannten Normen des Bundesrechts und die danach zugrunde zu legenden Maßstäbe für medizinische Sachverständigengutachten nach den VMG sowie ihre richterliche Vorbereitung und Auswertung. Betroffen sind dabei zwar insofern auch Tatfragen, für die grundsätzlich das erkennende Gericht in NRW als letzte Tatsacheninstanz zuständig ist.

 

Zu Tatfragen von allgemeiner Natur im Sinne von Erfahrungssätzen oder von Qualitätsmaßstäben hat die höchstrichterliche Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte jedoch bereits klargestellt, dass auch ein Revisionsgericht hierzu – generellen – Beweis erheben darf und muss, wenn es dies für geboten erachtet. Dies ist so bereits durch den Bundesgerichtshof in der mit den hiesigen Fragen vergleichbaren Frage nach den allgemeinen Qualitätsanforderungen an aussagepsychologische Gutachten geschehen und hat zu der Beweisaufnahme und dem Urteil des BGH vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – geführt. Mit dieser Rechtsprechung – der sich i.Ü. auch das BSG angeschlossen hat, vgl. zuletzt Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – hat der BGH eine grundlegende Klärung der Qualitätsansprüche für psychologische Gutachten herbeigeführt, ähnlich der Klärung, die hier mit diesem (und weiteren für die Zulassung der Revision vorgesehenen Parallelverfahren) angestrebt wird. Mit der Zulassung der Revision ist dabei gleichzeitig der Weg zu einer höchstrichterlichen Beurteilung – und ggf. Korrektur - der hier nach § 159 Abs 3 SGG formulierten Beweisfragen und der gemäß 118 SGG iVm § 404a ZPO an die Sachverständigen zu erteilenden richterlichen Hinweise eröffnet.

 

Damit verbunden ist die Hoffnung, dass das BSG – soweit möglich -  generelle Vorgaben dazu macht, in welchen Fällen zur Vorbereitung eines Gutachtens die Primärbefunde beizuziehen und/oder die behandelnden Ärzte in verstärktem Maße persönlich zu hören sind, ggf. z.B. weil die Angaben aus den Behandlungskontexten zunehmend unzuverlässig sind (wozu allerdings bislang valide Daten fehlen, weswegen das erkennende Gericht die beabsichtige Befragung einer repräsentativen Gruppe von Sachverständigen beabsichtigt hatte, die hier jedoch bislang an der Gerichtsverwaltung von NRW scheiterte).

 

Dass das erkennende Gericht dabei den Weg der konsentierten Einzelrichtentscheidung gewählt hat, hängt damit zusammen, dass der erkennende Senat seit rund drei Jahren keinen regulären Vorsitzenden hat, sondern im drei-Monats-Wechsel von unterschiedlichen Senatsvorsitzenden vertretungsweise geschleppt wird, so dass es im erkennenden Senat keinen festen Spruchkörper gibt.

 

V. Die im Tenor enthaltene Kostenentscheidung ist rein deklarativer Natur. Denn durch die Zurückverweisung ist der erstinstanzliche Gerichtsbescheid – einschließlich seiner Kostentscheidung – aufgehoben und das Verfahren in den Zustand vor der aufgehobenen Entscheidung zurückversetzt. Das SG wird bei Abschluss des Verfahrens von Amts wegen gemäß §§ 192, 193 SGG über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Gemäß § 192 Abs. 4 SGG wird das SG dabei zu berücksichtigen sein, dass schon die Beklagte die hier nach § 159 Abs. 2 SGG angeordneten Ermittlungen hätte durchführen müssen, weil auch die Sozialbehörden gemäß § 20 SGB X in gleicher Weise wie die Sozialgerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet sind. Dabei hätte der Beklagten hier auch von ihrem eigenen Rechtsstandpunkt ausgehend anhand der aktenkundigen Sprachschwierigkeiten des Klägers (ebenso wie der Bezirksregierung Münster) klar sein müssen, dass die bis zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung vorhandenen Beweismittel für eine rechtsstaatlich korrekte Ermittlung des Sachverhalts nicht ausreichten. Um auch die Bezirksregierung Münster mit den (hälftigen) Kosten der gerichtlichen Ermittlungen belasten zu können, empfiehlt es sich hier i.Ü. sie bei Fortsetzung der Ermittlungen gemäß § 75 Abs 1 SGG beizuladen.

 

Abschließend wird das SGG auch noch von Amts wegen über ggf noch offene Honorarsprüche von Ärzten entscheiden müssen, die es bisher als vermeintliche Zeugen, in Wahrheit aber als Sachverständige gehört hat, ohne ihnen dies offenzulegen (s.dazu oben unter II.).

 

 

[1] Der Text verwendet zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum, es sind jedoch alle Ge­schlechter gemeint.

[2] Z.B. Ebert, H.: Divergierende Einschätzung des Leistungsvermögens von Rentenklägem in Gutachten des Rentenversicherers und der Sozialgerichte bei Anträgen auf Erwerbsminderungsrente. Dissertation Hamburg, 2010.

[3] Vgl. dazu Rau/Gaidzik/Schiltenwolf, Vergütung medizinischer Sachverständigengutachten nach dem JVEG - Deutsche Bundesländer im Vergleich, MedSach 2018, 50 ff.; ähnl. schon Widder/Gaidzik, Leistungsgerechte Vergütung nach dem Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz, MedSach 2005. 127 ff.

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