S 1 R 62/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Osnabrück (NSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Osnabrück (NSB)
Aktenzeichen
S 1 R 62/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
 

Der Bescheid der Beklagten vom 27.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2021 wird aufgehoben, soweit ihn die Beklagte nicht bereits mit Teilanerkenntnis vom 23.11.2021 aufgehoben hat. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Mehrkosten für die selbst finanzierten Hörgeräte pro+3 CZ 9 miniRITE (60-Hörer, Rechnung vom 27.01.2021) in Höhe von 4.500,-Euro zu erstatten.

Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die im Jahre 1959 geborene Klägerin begehrt als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe bei der Bundesagentur für Arbeit die Kostenübernahme für eine über den Festbetrag hinausgehende Hörgeräteversorgung als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Nach Angaben der Klägerin suchte sie im Jahre 2020 wegen zunehmender Hörprobleme vor allem im beruflichen Umfeld einen HNO-Arzt auf, der ihr ein Hörgerät verordnete. Damit sei sie zum Hörgeräteakustiker, der Fa. E. aus E-Stadt, gegangen, mit der Versorgung mit nur einem Hörgerät jedoch überhaupt nicht zurechtgekommen. Auf Empfehlung des Akustikers stellte sie sich daraufhin noch bei einem weiteren HNO-Arzt, Dr. B., vor, der ihr am 02.09.2020 dann Hörhilfen beidseits verordnete aufgrund einer beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit. Daraufhin setzte die Klägerin beim selben Hörgeräteakustiker die Testung von Hörgeräten fort, nun beidseits. Getestet wurden die eigenanteilsfreien Geräte „Intuis 3 M“ sowie die zuzahlungspflichtigen Geräte Widex Moment 440, Bernafon CZ3 und Bernafon CZ9. Die Klägerin entschied sich für die streitbefangenen Geräte Bernafon CZ9 („pro+3 CZ 9 miniRITE“). Der Anpass- und Abschlussbericht des Hörgeräte-Akustikers für diese Geräte datiert vom 28.09.2020; die Klägerin behielt die Geräte und erklärte sich zugleich in einer Formularerklärung bereit, aufgrund beruflicher Gebrauchsvorteile die Kosten einer Versorgung mit Mehrkosten zu tragen, und bat um Weiterleitung des LTA-Antrags an die Beklagte.

Zugleich wandte sich die Klägerin mit zwei Anträgen auf Kostenübernahme vom 28.09.2020 selbst sowohl an die beklagte DRV C. als auch an ihre gesetzliche Krankenkasse, die zum vorliegenden Klageverfahren beigeladen worden ist. Die Anträge gingen jeweils am 29.09.2020 sowohl bei der Beklagten als auch bei der Beigeladenen ein.

Gegenüber der Beigeladenen machte sie in ihrem Antrag geltend, sie sei bedingt durch ihre Innenohrschwerhörigkeit in ihrem Beruf als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe auf das Tragen von Hörgeräten angewiesen, und bat um die Übernahme der erforderlichen Kosten. Zugleich bat sie darum, ihren beigefügten Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) an die Beklagte weiterzuleiten, da durch ihre Schwerhörigkeit ihre Erwerbs-/Berufstätigkeit erheblich gefährdet sei. Ein Ausgleich durch Kassenhörgeräte habe nicht erreicht werden können, so dass berufsbedingt eine bessere Ausstattung erforderlich sei. Dem Antrag fügte die Klägerin einen Kostenvoranschlag des Hörgeräteakustikers über eine Versorgung der Klägerin mit den Hörgeräten pro+3 CZ 9 miniRITE (85-Hörer) in Höhe von 6.000,- Euro, eine Kurzdarstellung des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.01.2013 (Az. B 3 KR 5/12 R) aus einer Zeitschrift und einen vollständig ausgefüllten Formularantrag der Deutschen Rentenversicherung für LTA-Leistungen bei. Die Beigeladene teilte der Klägerin mit Schreiben vom 06.10.2020 mit, sie übernehme für die Hörhilfe die Kosten in Höhe der Festbeträge (beidseitige Versorgung: 1.655,- Euro abzgl. Eigenanteil von 20,- Euro = 1.635,- Euro); es handele sich um eine LTA, für die der Rentenversicherungsträger zuständig sei. Man habe den Antrag daher an die „DRV C-Stadt“ weitergeleitet. Ebenfalls am 06.10.2020 leitete die Beigeladene den Formularantrag auf LTA weiter an die Beklagte und teilte im Begleitschreiben mit, es sei bei ihnen noch kein Antrag auf Kostenübernahme für eine Hörhilfe gestellt worden; man übernehme bei einer Hörhilfe die Kosten in Höhe der Festbeträge abzüglich des gesetzlichen Eigenanteils in Höhe von insgesamt 1.635,- Euro.

Bei der Beklagten ging der von der Beigeladenen weitergeleitete Antrag der Klägerin am 06.10.2020 ein; die Beklagte hatte mit dem Antrag der Klägerin vom 28.09.2020 ebenfalls bereits diverse Unterlagen von der Klägerin übersandt erhalten, darunter eine von ihr unterzeichnete „Tätigkeitsbeschreibung“ vom 28.09.2020 auf dem Briefbogen des Hörgeräteakustikers, adressiert an die Beigeladene. Darin legte die Klägerin dar, ihr Arbeitsalltag gestalte sich mit vielen Gesprächen mit behinderten Kunden mit Hör-, Sprach- und intellektuellen Behinderungen mit zum Teil unartikulierter verwaschener Sprache (einschließlich Begleitungen), größeren Gruppen, Gesprächen mit Arbeitgebern (Förderungsanfragen, die zum Teil direkt vor Ort mit dem technischen Berater z.B. an Arbeitsplätzen mit vielen Nebengeräuschen stattfänden), Dienstbesprechungen in größeren Gruppen und Räumen sowie der Teilnahme an Fortbildungen mit Gruppendiskussionen. Es sei zwar ein Einzelbüro vorhanden, jedoch seien alle Türen die meiste Zeit über geöffnet, sodass immer eine größere Geräuschkulisse vorhanden sei. Dadurch seien Telefonate und Einzelgespräche auch immer durch Störgeräusche beeinträchtigt.

Die Beklagte fasste die Weiterleitung der beigeladenen so auf, dass eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse noch nicht erfolgt sei, und erklärte sich daraufhin mit Bescheid vom 27.10.2020 bereit, Kosten der Hörgeräteversorgung in Höhe von 1.655,- Euro abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung in Höhe von 20,- Euro zu übernehmen. Hierbei handele es sich um den nach Mitteilung der gesetzlichen Krankenkasse der Klägerin aktuellen Vertragspreis für eine beidseitige Hörgeräteversorgung, welche im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs ausreichend und zweckmäßig sei. Mit dieser Leistungsgewährung werde sichergestellt, dass ein Funktionsdefizit des (beidohrigen) Hörvermögens unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts bestmöglich ausgeglichen und dabei – soweit möglich – ein Sprachverstehen bei Umgebungsgeräuschen und in größeren Personengruppen zu erreichen sei. Einer darüber hinausgehenden Kostenerstattung für eine höherwertige Hörgeräteversorgung könne man nicht entsprechen, da die persönlichen Voraussetzungen für die LTA nicht erfüllt seien. Die Höranforderungen im Beruf der Klägerin als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe beinhalteten keine spezifisch berufsbedingte Notwendigkeit für höherwertige Hörgeräte. Persönliche oder telefonische Kommunikation im Zweier-oder Gruppengespräch – auch bei ungünstigen akustischen Bedingungen bzw. störenden Umgebungsgeräuschen am Arbeitsplatz – stelle eine Anforderung an das Hörvermögen dar, die bei nahezu jeder Berufsausübung bestehe und daher keine spezifisch berufsbedingte Bedarfslage begründen könne. Die beantragten Hörhilfen sollten dem unmittelbaren Behinderungsausgleich mit dem Ziel der Angleichung an das Hörvermögen hörgesunder Menschen dienen. Auch nach Prüfung des weiten Rehabedarfs im Sinne des § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) werde eine Leistung oberhalb der Festbetragsregelung abgelehnt, weil sie nach Prüfung durch die Krankenkasse der Klägerin nicht erforderlich sei.

Am 12.11.2020 erhob die Klägerin gegen den Bescheid der Beklagten vom 27.10.2020 Widerspruch und machte geltend, die Begründung des Bescheides sei mangelhaft. Es erschließt sich nicht, aus welchem Grund unter Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Beschäftigung als Reha-Beraterin bei der Bundesagentur für Arbeit eine Standardversorgung das Funktionsdefizit des beidohrigen Hörvermögens bestmöglich ausgleiche. Im Rahmen ihrer Tätigkeit berate sie behinderte Menschen, die selbst unter hohen Sprach- und Hördefiziten litten. Eine zielführende Kommunikation sei daher schon bei intaktem Hörvermögen (auf ihrer Seite) in vielen Fällen äußerst schwierig. Gerade für ihre Tätigkeit sei aber für eine effektive Beratung eine einwandfreie Verständigung mit den Beratung suchenden Menschen unabdingbar. Telefonisch wies die Klägerin zudem darauf hin, dass sie von ihrer Krankenkasse, der Beigeladenen, bereits ebenso einen Bescheid über die Hörgeräteversorgung in Höhe von 1.655,- Euro erhalten habe, und bat um Klärung.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2021 zurück und verwies zur Begründung insbesondere darauf, eine Hilfsmittelgewährung könne nur in Betracht kommen, wenn eine auf besonders gute Hörfähigkeit angewiesene berufliche Tätigkeit ausgeübt werde oder das Hilfsmittel wegen der besonderen berufsspezifischen Verhältnisse am Arbeitsplatz notwendig sei. Die von der Klägerin geschilderten beruflichen Anforderungen in der Tätigkeit als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe unterschieden sich nicht von den im Berufsleben üblicherweise bestehenden Bedingungen. Kommunikation sowohl mündlicher als auch fernmündlicher Art mit Kunden und Mitarbeitern, auch unter Vorhandensein einer Geräuschkulisse, gehöre zu jedem Berufsbereich und könne daher die für eine Leistung des Rentenversicherungsträgers geforderte spezifische Notwendigkeit nicht begründen. Sollte der Festbetrag der Krankenkasse diesen allgemeinen Anforderungen nicht genügen, erwachse aus diesem Umstand keine Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers. Die „Festbetragsregelungen“ beschränkten den Leistungsanspruch von Versicherten zudem nicht, wenn damit der Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht erreicht werde.

Mit ihrer am 23.02.2021 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung ihrer Klage hat sie ihre Aufgaben als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe erneut im Einzelnen dargestellt und u.a. erläutert, im Rahmen ihrer Aufgabenerledigung komme es zu schwierigen Gesprächssituationen; z.B. herrsche in Schulen oft ein sehr hoher Geräuschpegel, ebenso in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Bei Arbeitsplatzbeobachtungen sei die Verständigung oftmals sehr schwierig, weil sie z.B. in großen Werkhallen (Schall) und mit Maschinenlärm stattfinden müsse. In der Einzelberatung behinderter Menschen kämen häufig Gespräche mit Sprach- bzw. Hörschädigung vor. Diese Menschen seien in der Regel sehr schwer zu verstehen und reagierten bei Nachfragen oftmals irritiert und verletzt oder sogar aggressiv. In diesen Situationen sei es unabdingbar, über ein sehr gutes Hörvermögen zu verfügen. Ihre Tätigkeit bestehe zu mindestens 80 % aus Beratungsgesprächen mit vielfältig behinderten Menschen. Dabei komme es weit mehr auf die akustische Verständlichkeit des Gesprächs an als bei nicht behinderten Menschen. Die Situation löse bei den behinderten Menschen sehr oft Angst aus. Dies sei noch viel schlimmer, wenn sie sich noch nicht einmal akustisch verstanden fühlten; das sei ihr in den Probewochen häufig passiert. Hier müsse klar sein, dass die Gesprächspartner dann nicht etwa von einer Hörbehinderung der beratenden Person ausgingen, sondern von deren Unwillen, das Begehren der Ratsuchenden anzuhören und dann entsprechende Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dies führe zu einer nicht vertretbaren Gesprächsatmosphäre, die einen Vertrauensverlust nach sich ziehe. Vertrauen sei für eine effektive Hilfe – sie müsse ja dann auch angenommen werden – unumgänglich. Denn den behinderten Menschen sei nicht geholfen, wenn Hilfsmaßnahmen nicht zum Erfolg führten, weil eine entsprechende Beziehung zwischen ihr und der ratsuchenden Person nicht habe aufgebaut werden können. Die Klägerin müsse dem Unterschied zwischen einer „normalen“ Beratung und einer Beratung behinderter Menschen im Rahmen ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten Rechnung tragen. Die Grundversorgung sei wegen ihrer beruflichen Situation eben gerade nicht ausreichend. Im Rahmen der Anpassung der Hörgeräte habe sie verschiedene Hörgeräte ausprobiert, die leider, außer dem jetzt erworbenen, sehr teuren Gerät, die Berufsausübung nicht vollumfänglich hätten sicherstellen können. Auf gerichtliche Anforderung hat die Klägerin die Rechnung der Fa. E. vom 27.01.2021 vorgelegt, mit der ihr abzüglich Festbeträgen einschließlich Eigenanteil eine Gesamtsumme von 4.500,- Euro in Rechnung gestellt worden ist für die Hörgeräte pro+3 CZ 9 miniRITE (60-Hörer). Die Klägerin hat zudem belegt, dass sie zur Finanzierung ein zinsloses Darlehen i.H.v. 4.500,- Euro aufgenommen hat, das sie seit dem 01.03.2021 mit monatlich 125,- Euro tilgt.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 27.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2021 aufzuheben, soweit ihn die Beklagte nicht bereits mit Anerkenntnis vom 23.11.2021 aufgehoben hat, und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Mehrkosten für die selbst finanzierten Hörgeräte pro+3 CZ9 miniRITE (60-Hörer, Rechnung vom 27.01.2021) in Höhe von 4.500,-Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist weiterhin der Auffassung, die Klägerin benötige die Hörgeräte nicht ausschließlich und nur zu beruflichen Zwecken. Es werde nicht in Abrede gestellt, dass im beruflichen Umfeld der Klägerin kommunikative Anforderungen in erheblichem Maße anfielen. Es werde auch nicht bestritten, dass die beruflichen Anforderungen an das Hörvermögen nicht zu unterschätzen seien. Dennoch handele es sich um ein Berufsbild, das keine spezifischen berufsbedingten Kommunikationserfordernisse erkennen lasse, wie beispielsweise bei einer OP-Kranken­schwester, die sofort und ohne weitere Nachfrage zu reagieren habe. Bei der Berufstätigkeit der Klägerin komme es auch nicht darauf an, dass feinsinnig zwischen bestimmten Tönen und Klängen oder sprachlichen Feinnuancen zu unterscheiden sei. Nur in derartigen Fällen, wenn besondere Anforderungen an das Hörvermögen für den Beruf geradezu charakteristisch seien, komme eine Kostenübernahme durch den Rentenversicherungsträger hinsichtlich der Hörgeräteversorgung als LTA in Betracht. Beispielhaft dafür seien etwa der Musiker, ein Klavierstimmer oder ein Simultandolmetscher. Dies ergebe sich aus dem Sinn der Trennung zwischen Gesundheitsvorsorge einerseits und Hilfe zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit andererseits. Für die Gesundheitsvorsorge sei die Krankenversicherung leistungspflichtig, für die Hilfe zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit dann die Rentenversicherung.

Die mit Beschluss vom 07.12.2021 beigeladene gesetzliche Krankenkasse der Klägerin hat keinen Antrag gestellt. Inhaltlich vertritt sie im Wesentlichen die Auffassung, bei der Klägerin bestehe ein Gebrauchsvorteil der höherwertigen Hörgeräte lediglich in beruflicher Hinsicht.

Auf gerichtliche Anfrage hat die Beklagte mit Schreiben vom 23.11.2021 ein Teilanerkenntnis abgegeben und ihren Bescheid vom 27.10.2020 und den (Widerspruchs-)Bescheid vom 01.02.2021 zurückgenommen, soweit hiermit über den Grundbedarf der Klägerin nach § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) entschieden worden ist. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen.

Das Gericht hat die Unterlagen der Fa. E. über die Hörgeräteversorgung der Klägerin beigezogen; nach Beanstandung durch die Beigeladene und gerichtlicher Aufforderung hat das Unternehmen zudem einen vollständig ausgefüllten Anpass- und Abschlussbericht nachgereicht. Ferner hat die Kammer Beweis erhoben durch Einholung einer schriftlichen Zeugenaussage der Hörgeräteakustikerin D. von der Fa. E. zu diversen, im Einzelnen benannten Fragestellungen. Auf den Fragenkatalog vom 17.02.2023 und die undatierte, am 17.03.2023 bei Gericht eingegangene Aussage der Zeugin wird Bezug genommen. Ferner ist die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 19.07.2023 ergänzend befragt worden. Hierzu wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Bescheid vom 27.10.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2015 sowie des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 23.11.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Versorgung mit den Hörgeräten pro+3 CZ9 miniRITE (60-Hörer) der Fa. Bernafon zu Unrecht abgelehnt. Nachdem die Klägerin diese Hörgeräte zwischenzeitlich selbst beschafft hat, steht ihr ein Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Kosten für diese selbst beschafften Hörgeräte in Höhe von 4.500,- Euro zu.

Anspruchsgrundlage für die Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Leistung ist § 18 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der Fassung seit dem 01.01.2018. Diese Vorschrift normiert, ebenso wie die vorherige Regelung des § 15 SGB IX, trägerübergreifend Kostenerstattungsansprüche für selbstbeschaffte Teilhabeleistungen (vgl. BSG, Urteil vom 20.10.2009 - B 5 R 5/07 R -, juris). Gemäß § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX sind, wenn eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt wird und dadurch Leistungsberechtigten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstehen, diese Kosten vom zuständigen Rehabilitationsträger in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

Der Anspruch richtet sich gegen die Beklagte als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung. Zum einen hat die Beigeladene den zeitgleich bei ihr und bei der Beklagten gestellten Antrag der Klägerin vom 28.09.2020 auf Hörgeräteversorgung – nach Bewilligung der Festbeträge – weitergeleitet an die Beklagte, so dass diese für die Hilfsmittelversorgung der Klägerin zuständig geworden ist (§ 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Die Beklagte hat ihrerseits den bei ihr gestellten inhaltsgleichen Antrag der Klägerin nicht weitergeleitet an die Beigeladene und ist auch unter diesem Aspekt gem. § 14 Abs. 1 SGB IX für die Leistungserbringung zuständig. Ferner kann ein früheres Antragsdatum im vorliegenden Falle nicht festgestellt werden, denn in der Übergabe der Hörgeräteverordnung durch die Klägerin an den Hörgeräteakustiker kann unter den gegebenen Umständen kein Antrag an die Beigeladene als zuständige Krankenkasse gesehen werden (dazu sogleich). Und schließlich ist die Beklagte auch inhaltlich für die Leistungserbringung zuständig, da die Klägerin aus rein beruflichen Gründen auf die höherwertige Hörgeräteversorgung angewiesen ist.

Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin erst mit den (zeitgleichen) Anträgen vom 28.09.2020, bei der Beigeladenen und bei der Beklagten jeweils am 29.09.2020 eingegangen, erstmals Anträge auf Hörgeräteversorgung bei den beiden Sozialversicherungsträgern gestellt hat. Die maßgebliche Erstantragstellung kann nach der Rechtsprechung des BSG, der die Kammer folgt, rechtlich gleichwertig bereits in der Übergabe einer vertragsärztlichen Hörgeräteverordnung an den Hörgeräteakustiker oder erst in dessen Versorgungsanzeige bei der Krankenkasse bzw. in der Antragstellung beim Rentenversicherungsträger gesehen werden (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2014 – B 5 R 8/14 R, juris Rn. 32 ff.). Im vorliegenden Falle ist zur Überzeugung des Gerichts mit der Übergabe der (zweiten) Hörgeräteverordnung vom 02.09.2020 von der Klägerin an die Fa. E. noch kein Antrag auf Teilhabeleistungen an die beigeladene Krankenkasse gestellt worden. Denn der Klägerin als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe war und ist der Unterschied zwischen den Zuständigkeiten der verschiedenen Sozialversicherungsträger durchaus geläufig; sie hat sich bewusst und gewollt für zeitgleiche Anträge an die Beklagte und die Beigeladene entschieden und hat dabei zudem noch auf das BSG-Urteil vom 24.01.2013 (B 3 KR 5/12 R) hingewiesen. Dies schließt es aus gerichtlicher Sicht aus, in der Übergabe der Verordnung an den Hörgeräteakustiker bereits eine (nur) an die Beigeladene gerichtete konkludente Willenserklärung mit einem Leistungsbegehren zu sehen (zu diesen Anforderungen: BSG, Urteil vom 30.10.2014, a.a.O. Rn. 32). Es ist auch – anders als üblich – nachfolgend gar keine Übermittlung der Hörgeräteverordnung vom Hörgeräteakustiker an die beigeladene Krankenkasse erfolgt, ein etwaiger formloser „Antrag“ wäre also gar nicht vom Akustiker weitergeleitet und von der Beigeladenen bearbeitet worden, sondern die Klägerin hat die Antragstellung bei beiden Versicherungsträgern komplett selbst in die Hand genommen. Dies schließt es zur Überzeugung des Gerichts aus, bereits die Übergabe ihrer Hörgeräteverordnung an den Hörgeräteakustiker als eine an die Beigeladene gerichtete formlose Willenserklärung anzusehen.

Der Klägerin steht auch inhaltlich ein Anspruch gegen die Beklagte (und nicht gegen die Beigeladene) auf Kostenübernahme für die erfolgte Hörgeräteversorgung in Höhe von 4.500,- Euro zu. Denn diese Hörgeräteversorgung war aufgrund der beruflichen Tätigkeit der Klägerin notwendig, die gewählten Hörgeräte weisen deutliche Vorteile gegenüber den erprobten „Festbetragsgeräten“ auf, und es waren/sind auch keine günstigeren zuzahlungspflichtigen Hörgeräte ersichtlich.

Gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) können Versicherte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten, wenn ihre Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit erheblich gefährdet oder gemindert ist und durch die begehrten Leistungen die Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert werden kann. Die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung erbringen die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den §§ 49 bis 54 SGB IX. Die Leistungen umfassen nach § 49 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX Kosten für Hilfsmittel, die wegen Art und Schwere der Behinderung zur Berufsausübung, zur Teilnahme an einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur Erhöhung der Sicherheit auf dem Weg vom und zum Arbeitsplatz erforderlich sind, es sei denn, dass eine Verpflichtung des Arbeitgebers besteht oder solche Leistungen als medizinische Leistung erbracht werden können. Hierzu zählen nach § 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX u. a. Hilfsmittel, die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich sind, um eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, soweit sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Als Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich dient ein Hörgerät ohne gesonderte weitere Prüfung der Befriedigung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens, weil die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung einer Körperfunktion (Hören) als solche schon ein Grundbedürfnis in diesem Sinne ist. Ob die Ausübung der Erwerbstätigkeit ein Grundbedürfnis im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX ist, ist unerheblich (vgl. BSG, Urteil vom 24.01.2013 - B 3 KR 5/12 R -, juris Rn. 49 f.). Wählt ein Versicherter ein zum Behinderungsausgleich geeignetes Hilfsmittel in einer über das medizinisch Notwendige hinausgehenden, aufwändigeren Ausführung, trägt die Krankenkasse nur die Kosten des Hilfsmittels in der notwendigen Ausstattung, während die Mehrkosten grundsätzlich vom Versicherten selbst zu tragen sind (§ 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V und § 47 Abs. 3 SGB IX). Ist die höherwertige Ausstattung dagegen zwar nicht für den Alltagsgebrauch, wohl aber aus rein beruflichen Gründen erforderlich, fallen die Mehrkosten, die sonst der Versicherte selbst tragen müsste, dem Rentenversicherungsträger zur Last. Wird ein technisch aufwändiges Hörgerät nur wegen der besonderen Anforderungen der ausgeübten Erwerbstätigkeit an die Hörfähigkeit des Versicherten benötigt, aber auch im Alltag benutzt, kommt eine Kostenteilung zwischen Krankenkasse (Festbetrag) und Rentenversicherungsträger (Mehrkosten) in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 24.01.2013, B 3 KR 5/12 R, Leitsatz 3).

In Anwendung dieser Grundsätze ist für den vorliegenden Fall nach dem Ergebnis des Verfahrens festzustellen, dass die von der Klägerin zwischenzeitlich selbst beschafften Hörgeräte aus rein beruflichen Gründen erforderlich sind. Günstigere Hörgeräte, die den Hörverlust der Klägerin ebenso gut ausgleichen, standen – soweit erprobt – nicht zur Verfügung; hierfür bestehen auch ansonsten keine greifbaren Anhaltspunkte. Die Beklagte hat daher die mit der erfolgten Hörgeräteversorgung verbundenen Mehrkosten gegenüber einer Versorgung zum Festbetrag in Höhe von 4.500,- Euro zu erstatten.

Die Hörgeräte pro+3 CZ9 miniRITE haben bei der durchgeführten Hörgeräteerprobung gegenüber dem getesteten zuzahlungsfreien Hörgerät Intuis 3M bereits bei dem Freifeldmessungen durch den Hörgeräteakustiker deutlich bessere Werte ergeben, insbesondere im Störgeräusch. Mit den Intuis 3M-Geräten (zuzahlungsfrei) wurden bei 65 dB im Freifeld 95 %, bei 65 dB im Freifeld mit 60 dB Störgeräusch aber nur 70% verstanden; demgegenüber konnten mit den pro+3 CZ9 miniRITE-Geräten ohne Störschall identische Werte, bei 65 dB im Freifeld mit 60 dB Störgeräusch allerdings 85 % verstanden werden. Die ursprünglich von der Fa. E. angegebenen, hiervon teilweise differierenden Testergebnisse waren aufgrund einer Programmumstellung lücken- bzw. fehlerhaft, wie die Zeugin E. nachvollziehbar dargelegt hat. Die Testung der Widex Moment 440-Hörgeräte (Zuzahlung ebenfalls 4.500,- Euro) erbrachte nach den Angaben der Zeugin E. ein Sprachverstehen bei 65 dB im Freifeld von ebenfalls 85 %, allerdings kam die Klägerin mit den Bernafon-Geräten im beruflichen Alltag besser zurecht. Damit haben sich schon bei den Freifeldmessungen die Hörgeräte pro+3 CZ9 miniRITE als (mit) am geeignetsten erwiesen, den Hörverlust der Klägerin auszugleichen, insbesondere aufgrund der deutlich besseren Verständniswerte im Störschall gegenüber den getesteten zuzahlungsfreien Geräten.

Die gewählten Hörgeräte pro+3 CZ9 miniRITE waren und sind zur Überzeugung des Gerichts für die Klägerin auch aus rein beruflichen Gründen notwendig. Denn deren Tätigkeit als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe bei der Bundesagentur für Arbeit stellt tatsächlich spezifische berufsbedingte Kommunikationserfordernisse, die mit zuzahlungsfreien Hörgeräten – soweit erkennbar – nicht hinreichend erfüllt werden können. Die besonderen beruflichen Anforderungen an das Hörvermögen ergeben sich im Falle der Klägerin daraus, dass sie als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe – in unterschiedlichem, aber insgesamt nicht nur vereinzeltem Umfang – sprach- und hörgeschädigte Klienten zu beraten hat. Die Klägerin hat hierzu schriftsätzlich und auf gerichtliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung im Einzelnen nachvollziehbar dargelegt, dass es im Rahmen ihrer Beratungsgespräche mit diesen sprach- und/oder hörgeschädigten Personen weit mehr auf die akustische Verständlichkeit des Gesprächs ankommt als bei nicht behinderten Menschen und Verständnisprobleme dazu führen, dass die behinderten Gesprächspartner vom Unwillen der Beraterin ausgehen, das Begehren des/der Ratsuchenden anzuhören. Dies beeinträchtigt die Gesprächssituation derart, dass aufgrund des eintretenden Vertrauensverlusts eine tragfähige Beziehung zur ratsuchenden Person nicht aufgebaut und eine zielführende Beratung schon deshalb nicht erfolgen kann. Derartige Verständigungsprobleme sind in den Probewochen mit anderen Hörgeräten (wie auch vor der streitigen, erstmaligen Hörgeräteversorgung) durchaus aufgetreten, z.B. bei einer Begegnung mit einem jungen Mann, der sich aufgrund der Verständigungsprobleme wegen seiner abgehackten Sprechweise (aufgrund einer starken Hörbehinderung) nicht ernst genommen fühlte, wütend wurde und deshalb schließlich den Raum verlassen hat. Im Einzugsbereich der Agentur für Arbeit E-Stadt, wo die Klägerin beruflich tätig ist, treten derartige Beratungen hör- und/oder sprachgeschädigter Personen aufgrund des in E-Stadt ansässigen Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte auch nicht nur vereinzelt auf; hör- und/oder sprachbeeinträchtigte Personen waren und sind von der Klägerin zudem auch in anderen Bildungseinrichtungen, in Berufseinstiegsklassen und außerbetrieblichen Einrichtungen sowie in Berufsförderungswerken für Menschen mit Hörschädigung zu beraten (gewesen). Im Jahresverlauf ergeben sich hierbei Schwankungen mit deutlichen Schwerpunkten bei den Beratungen im Frühsommer bis Sommer und im Frühwinter, jeweils im Vorfeld von Prüfungen und Abschlüssen. Es erschließt sich dem Gericht ohne Weiteres, dass die Beratung hör- und sprachgeschädigter Personen, wie sie die Klägerin in ihrem Beruf durchführt, damit spezielle berufsbedingte Kommunikationserfordernisse stellt, die die gewählten Hörgeräte aus rein beruflichen Gründen erforderlich macht. Die Klägerin könnte ihren Beruf als Beraterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe ansonsten wegen deutlicher Kommunikationsprobleme und dem damit einhergehenden Vertrauensverlust gegenüber den zu beratenden, hör- und sprachbeeinträchtigten Personen nicht ordnungsgemäß ausüben.

Die Beklagte hat der Klägerin daher die Mehrkosten für die aus beruflichen Gründen erforderliche höherwertige Hörgeräteversorgung der Klägerin in Höhe von 4.500,- Euro zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

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