Zur anwaltlichen Sorgfalt bei der Kanzleiorganisation gehört auch, Planungen für den Fall spontaner Erkrankungen im Voraus zu treffen.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Sache um die Erstattung von Kosten eines Hörgeräts in Höhe von insgesamt 6.126,02 € als Leistung nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).
Der 1959 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Nachdem die Beklagte ihm bereits mit Bescheid vom 19. Mai 2021 die Versorgung mit Hörgeräten zum Festbetrag bewilligt hatte, beantragte der Kläger am 6. August 2021 und – anwaltlich vertreten – am 4. Februar 2022 die Kostenübernahme für höherwertige Hörgeräte bei der Beklagten. Aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit bei der Deutschen Flugsicherung sei er auf ein „hoch qualifiziertes Hörgerät“ unter anderem zur Unterdrückung von Störgeräuschen angewiesen. Er legte einen Kostenvoranschlag des Hörgeräteakustikers „Hörgeräte K.“, C-Stadt, in Höhe von 6.265,02 € vor.
Die Beklagte beteiligte mit Schreiben vom 15. Februar 2022 gem. § 15 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) die Deutsche Rentenversicherung Bund aufgrund des berufsbedingten Mehrbedarfs, für den die Beklagte nicht der zuständige Reha-Träger sei und bat um die Feststellungen zum Teilhabeplan. Hierüber informierte sie den Kläger mit Schreiben vom selben Tage.
Mit Schreiben vom 4. März 2021 teilte die Deutsche Rentenversicherung Bund mit, dass ihre Zuständigkeit nicht gegeben sei. Die Höranforderungen im Beruf als Diplom-Ingenieur bei der Deutschen Flugsicherung beinhalteten keine spezifisch berufsbedingte Notwendigkeit für höherwertige Hörgeräte.
Mit Bescheid vom 10. März 2022 bewilligte die Beklagte (erneut) die Kostenübernahme für Hörgeräte zum Festbetrag in Höhe von insgesamt 1.514,02 €. Die Gesamtkosten der beantragten Hörgeräte könnten auch nicht als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben übernommen werden, keine spezifisch berufsbedingte Notwendigkeit für höherwertige Hörgeräte vorliege. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt der Bescheid nicht.
Unter dem 6. Oktober 2022 legte der Kläger anwaltlich vertreten Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. März 2022 ein. Der Kläger arbeite in dem Bereich „Innovation and Planning“. In diesem Bereich würden zukunftsweisende Neuentwicklungen von Systemen zur Überwachung und Abwicklung des Luftverkehrs getätigt. Zur Wahrnehmung der dortigen Aufgaben sei ein selektiertes und räumliches Hörvermögen eine Grundvoraussetzung. Kleinste Unterschiede in der Sprachabweichung und deren Verständlichkeit müssten erkannt und bewertet werden. Diesen Anforderungen würden Standard-Gehörhilfen nicht gerecht. Dies sei bereits in der Testumgebung und in dem betrieblichen Umfeld überprüft worden.
Die Beklagte zog einen Anpassbericht bei dem Hörgeräteakustiker bei. Daraus ergab sich, dass es ein Auseinanderfallen der Testergebnisse unter den Bedingungen einer Messkabine und der Alltagsverwendung im beruflichen Umfeld des Klägers gebe.
Mit Schreiben vom 14. November 2022 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass der Kläger von dem Hörgeräteakustiker erneut zu einer Anpassung von geeigneten, eigenanteilsfreien Hörgeräten einzuladen sei. Mit ergänztem Anpassungsbericht vom 15. Dezember 2022 teilte der Hörtgeräteakustiker K. mit, dass „nach optimaler In-Situ Anpassung der Verstärkung und maximaler Feature-Ausreizung (SoundConductor auf Maximum, d.h. maximale Störgeräuschreduzierung + Sprachanhebung) […] die oben genannten Messergebnisse [erreicht wurden]. Nach Herr A.s Empfinden würde er die Lautstärke im Alltag für erhöhten Komfort reduzieren.“
Mit Schreiben vom 30. Dezember 2022 trat die Beklagte erneut an den Hörgeräteakustiker heran und wies darauf hin, dass die Anpassung auch weiter nicht vertragskonform gewesen sei. Der Hörgeräteakustiker übersandte unter dem 25. Januar 2023 einen neuen Anpassbericht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2023 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung werde durch Gewährung des Festbetrags erfüllt. Wähle der Versicherte nach der Anpassung der angebotenen eigenanteilsfreien Versorgung eine Mehrausstattung, die nicht dem Ausgleich der Hörbehinderung im Sinne des maximalen Sprachverstehens dient, habe er die Mehrkosten sowie die daraus resultierenden Mehrkosten für Reparatur- und Wartungsleistungen selbst zu tragen. Im Hinblick auf die geltend gemachte berufliche Komponente der Hörgeräteversorgung sei die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund, die für die Sicherstellung der beruflichen Rehabilitation zuständig sei, eingebunden worden. Die DRV Bund mitgeteilt, dass kein besonderer berufsbezogener Mehrbedarf bei der Hörgeräteversorgung vorliege.
Am 7. Juli 2023 rief der Kläger bei der Beklagten an. Sein Rechtsanwalt habe Probleme mit der Post. Unter dem 10. Juli 2023 übersandte die Beklagte entsprechend ein Duplikat des Widerspruchsbescheids an den Kläger persönlich. Am 20. Juli 2023 rief der Rechtsanwalt des Klägers bei der Beklagten an und teilte mit, „er schwört“, dass er den Bescheid nicht bekommen habe. Sein Mandant habe den Bescheid aber erhalten. Unter dem 20. Juli 2023 übermittelte die Beklagte den Widerspruchsbescheid erneut an den Klägervertreter. Am 26. Juli 2023 teilte der Klägervertreter der Beklagten telefonisch mit, den Bescheid nun erhalten zu haben.
Am 19. September 2023 hat der Kläger anwaltlich vertreten Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben und Wiedereinsetzung in die Klagefrist beantragt.
Er behauptet zum Wiedereinsetzungsantrag, sein Prozessbevollmächtigter sei ab dem 22. Juli 2023 bettlägerig an einem erheblichen Infekt der Nasenneben- und Kiefernhöhlen in Verbindung mit einer hochfiebrigen Bronchitis erkrankt. Unter wiederkehrenden Fieberschüben habe sich der Heilungsverlauf bis zum 13. September 2023 hingezogen. Als Einzelanwalt ohne Büropersonal sei auch die Beauftragung des zur Vertretung bestellten Kollegen nicht möglich gewesen, da der Prozessbevollmächtigte wegen des Fiebers nicht mit den erforderlichen Unterlagen auf den Vertreter habe zugehen können.
In der Sache führt er die Gründe seines Widerspruchs näher aus.
Der Kläger beantragt schriftlich und sinngemäß,
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
den Bescheid der Beklagten vom 13. März 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Mai 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für Hörgeräte in Höhe von 6.126,02 € zu übernehmen,
hilfsweise festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, bei Vorlage einer Rechnung über Hörgeräte aus dem Kostenvoranschlag vom 11. Juni 2021 ihm den jeweils zum Ankaufszeitpunkt ausgewiesenen Krankenkassenanteil zu erstatten.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen.
Zur Klageerwiderung bezieht sich die Beklagte auf die Gründe ihrer Verwaltungsentscheidungen.
Mit Schreiben vom 23. Oktober 2023 hat das Gericht den Klägervertreter aufgefordert, die Hinderungsgründe an der rechtzeitigen Klageerhebung näher zu substantiieren. Angesichts des in der Behördenakte dokumentierten Telefonats des Klägervertreters mit der Beklagte am 26. Juli 2023, als während der vorgetragenen Erkrankung, sei nicht hinreichend glaubhaft, dass er an der Klageerhebung gehindert gewesen sei.
Hierauf hat der Vertreter des Klägervertreters mitgeteilt, der Klägervertreter habe einen schweren Verkehrsunfall erlitten und sei arbeitsunfähig. Auf den Hinweis des Gerichts hat er vorgetragen, dass der Inhalt des Telefonats am 26. Juli 2023 in der Behördenakte richtig wiedergegeben sei. Dieses kurze Telefonat, rechtfertige aber keinesfalls die Annahme, der Prozessbevollmächtigte des Klägers hätte auch fristwahrend einen umfangreichen Schriftsatz an das Gericht fertigen können. Das Gegenteil sei der Fall. Aufgrund der bereits glaubhaft gemachten erheblichen Erkrankung, sei es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers unmöglich gewesen, den Weg zur Kanzlei auf sich zu nehmen und sodann die erforderliche Konzentration für das Verfassen des umfangreichen Schriftsatzes aufzubringen.
Mit Schreiben vom 2. Juni 2024 hat das Gericht die Beteiligten zu seiner Absicht, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen, angehört.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligten ehrenamtlicher Richterinnen und Richter entscheiden. Der Sachverhalt ist geklärt und der Rechtsstreit bietet keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.
Die Klage ist bereits unzulässig.
Gem. § 87 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids zu erheben. Vorliegend wurde der Widerspruchsbescheid spätestens am 26. Juli 2023 bekannt gegeben. Die Klageerhebung erfolgte am 19. September 2023.
Dem Kläger war auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 67 SGG zu gewähren.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Glaubhaftmachung ist die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Tatsache. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist im Sinne einer guten Möglichkeit, dass ein bestimmter Sachverhalt so liegt wie behauptet116 bzw. dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können, zu verstehen (BSG v. 22. September 1977 – 10 RV 15/77; BSG v. 10. August 1989 – 4 BA 94/89; beckOGK/Müller § 106a SGG Rn. 23) . Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Die Darlegungs- und Beweislast liegt beim Antragsteller. Zur Glaubhaftmachung muss der Antragsteller eine „aus sich heraus verständliche Schilderung der tatsächlichen Abläufe“ darlegen (VGH München v. 18. Mai 2021 - 10 ZB 21.1128; jurisPK-ERV/Müller Band 3, 2. Aufl., § 67 SGG (Stand: 26.09.2024), Rn. 115), ohne dass die diesbezüglichen Anforderungen überspannt werden dürften (BVerfG v. 27. September 2012 - 2 BvR 1766/12; BVerfG v. 18. Oktober 2012 - 2 BvR 2776/10).
Vorliegend hat der Kläger zur Überzeugung der Kammer bereits nicht glaubhaft gemacht, an der rechtzeitigen Klageerhebung gehindert gewesen zu sein. Als Hinderungsgründe kommen sowohl äußere Umstände, als auch solche Umstände in Betracht, die in der unmittelbaren Sphäre desjenigen liegen, der die Frist versäumt hat. Ein Hinderungsgrund liegt auch dann vor, wenn dem Beteiligten die Einhaltung der Frist zwar nicht schlechthin unmöglich, aber den Umständen nach unzumutbar ist. Von der Darlegungspflicht umfasst sind außerdem diejenigen Tatsachen, aus denen sich Art und Schwere der Erkrankung des Prozessbevollmächtigten in der Weise ergeben, dass sie die Annahme erlauben, dass es aufgrund der Schwere der Erkrankung unmöglich war, einen fristwahrenden Schriftsatz rechtzeitig einzureichen (VGH Mannheim v. 06.03.2023 - 12 S 2487/22; jurisPK-ERV/Müller Band 3, 2. Aufl., § 67 SGG (Stand: 18.12.2023), Rn. 26_4). Dies ist für die Kammer nicht ersichtlich. Nach Eintritt der – durch anwaltliche Versicherung hinreichend glaubhaft gemachten – Erkrankung, war der Klägervertreter noch zu einem Telefonat mit der Beklagten in der Lage. Dass es ihm angesichts dessen nicht zumutbar gewesen wäre, jedenfalls fristwahrend Klage zu erheben bzw. seinen Vertreter zu beauftragen, fristwahrend Klage zu erheben, ist für die Kammer nicht ersichtlich und konnte auch auf ihre Nachfrage nicht überzeugend erläutert werden. Im Gegensatz zum Vortrag erfordert die fristwahrende Klageerhebung keinen „umfangreichen Schriftsatz“, sondern es ist ausreichend, dass gegenüber dem Gericht der angefochtene Bescheid und der Klagegegner bezeichnet wird. Zur Fristwahrung hätte insoweit ein einzeiliger Schriftsatz genügt, der nach allgemeiner Lebenserfahrung weniger Anstrengung als ein Telefonat erfordert haben dürfte, zumal hierfür nach dem 26. Juli 2024 ein Monat Zeit bestanden hätte.
Erst recht ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Frist unverschuldet versäumt worden ist. Dem Beteiligten darf hinsichtlich der Versäumung der gesetzlichen Frist kein Verschulden vorwerfbar sein. Grundsätzlich bedeutet dies, dass er schuldlos gehandelt haben muss. Verschulden wird nach den allgemeinen Maßstäben entsprechend § 276 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bestimmt: Nicht schuldlos handelt, wer die Frist vorsätzlich oder fahrlässig versäumt hat. An einen Rechtsanwalt sind grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen als bei einem juristischen Laien. Maßgeblich sind immer die Umstände des Einzelfalls. Es ist insbesondere in der Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass ein Rechtsanwalt allgemeine Vorkehrungen dafür treffen muss, dass das zur Wahrung von Fristen Erforderliche auch dann unternommen wird, wenn er unvorhergesehen ausfällt (BGH v. 19.10.2022 - XII ZB 113/21; jurisPK-ERV/Müller Band 3, 2. Aufl., § 67 SGG (Stand: 18.12.2023), Rn. 26_1). (Auch) ein Einzelanwalt ist deshalb verpflichtet, ihm zumutbare Maßnahmen, zum Beispiel eine Absprache mit einem vertretungsbereiten Kollegen, zu ergreifen, die sicherstellen, dass auch bei einem unerwarteten Ausfall etwa infolge plötzlicher Erkrankung oder Unfalls jedenfalls unaufschiebbare Prozesshandlungen vorgenommen werden können (OVG NRW v. 09.03.2023 - 6 A 2407/22.A; BGH v. 07.08.2013 - XII ZB 533/10; Bayerischer VGH v. 07.05.2024 - 11 B 23.1992).
Die Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten stellt nur dann eine unverschuldete Verhinderung dar, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar auftritt und so schwerwiegend ist, dass es für diesen unzumutbar ist, die Frist einzuhalten oder rechtzeitig einen Vertreter zu bestellen. Ein schlüssiger Wiedereinsetzungsantrag erfordert demgemäß auch die Darlegung einer geeigneten Notfallvorsorge, die die Funktionsfähigkeit des Büros auch bei einer unvorhersehbaren Verhinderung gewährleistet. Dies ist hier nicht geschehen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war deshalb abzulehnen.
Die Klage konnte deshalb insgesamt keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.