L 37 SF 62/23 EK AS

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
37
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 37 SF 62/23 EK AS
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

§§ 198 ff. GVG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV)

 

Etwaige in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Phasen der gerichtlichen Inaktivität stellen regelmäßig keine dem Staat zuzurechnenden Verzögerungszeiten dar (Anschluss an BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris, Rn. 34 ff.). Für diesen Zeitraum ist regelmäßig davon auszugehen, dass Verzögerungen der Corona-Pandemie geschuldet sind, ohne dass sich dies unmittelbar den Akten entnehmen lassen muss. Dies gilt gleichermaßen für Verzögerungen, die im Sitzungsbetrieb aufgetreten sind, wie für solche im allgemeinen Geschäftsablauf.

 

Für Phasen der gerichtlichen Inaktivität ab Juni 2020 kann sich der Beklagte nicht mehr darauf berufen, dass diese auf Ursachen beruhen, die er weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat.

 

Kommt es ab Juni 2020 zu Terminsaufhebungen, die mit der Corona-Pandemie begründet werden, hat der Entschädigungssenat schon mit Blick auf das dem Ausgangsgericht zustehende weite Ermessen bei seiner Entscheidung, wie es das Verfahren gestaltet und leitet (vgl. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R - juris, Rn. 36 und vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R –, juris, Rn. 31), nicht zu beurteilen, ob die Terminsaufhebung gerechtfertigt war oder nicht. Wohl aber hat er zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention bzw. des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (vgl. BSG, Urteile vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - Rn. 36, - B 10 ÜG 9/13 R - Rn. 39, - B 10 ÜG 12/13 R - Rn. 43 und – B 10 ÜG 2/14 R – Rn. 42, jeweils zitiert nach juris). Dies kann bei einem bereits seit über sieben Jahren in der ersten Instanz anhängigen Verfahren zu verneinen sein, wenn die Terminsaufhebung nicht mit sonstigen Auflagen an die Beteiligten verknüpft ist.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen unangemessener Dauer des zuletzt vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 26 AS 380/15 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 5.800,00 € zu zahlen.

 

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt eine Entschädigung in Höhe von 5.800,00 € wegen überlanger Dauer des zuletzt vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 26 AS 380/15 geführten Verfahrens. Dem abgeschlossenen Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Am 10. Dezember 2013 erhob der schon damals durch seinen jetzigen Bevollmächtigten vertretene Kläger vor dem Sozialgericht Berlin Klage gegen den Bescheid des Jobcenters Neukölln (im Folgenden JC) vom 27. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07. November 2013. Mit diesem Bescheid hatte das JC den Antrag vom 15. August 2013 auf Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch mit der Begründung abgelehnt, dass der Kläger sich seit dem 22. Januar 2013 in einer stationären Einrichtung befinde und daher vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Ein Nachweis über das behauptete Praktikum mit mehr als 15 Wochenstunden liege nicht vor. Zugleich beantragte der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH), ohne eine Erklärung zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vorzulegen.

 

Am 30. Dezember 2013 bestätigte das Sozialgericht den Eingang der unter dem Aktenzeichen S 37 AS 30006/13 registrierten Klage, wandte sich mit einer Rückfrage an den Bevollmächtigten und bat das JC um Erwiderung sowie Aktenübersendung binnen eines Monats. Am 17. Januar 2014 ging die Antwort des Bevollmächtigten ein, die eine Woche später dem JC zur laufenden Stellungnahme zugeleitet wurde. Am 31. Januar, 05. März und 14. April 2014 erinnerte das Sozialgericht das JC. Am 22. Mai 2014 ging dessen Erwiderung bei Gericht ein, tags darauf die Behelfsakte. Am 19. Juni 2014 wurde der Schriftsatz an den Bevollmächtigten zur Kenntnisnahme weitergeleitet.

 

Am 25. Juli 2014 wurde der Bevollmächtigte aufgefordert, die Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen sowie eine Schweigepflichtsentbindungserklärung vorzulegen und die Rentennummer des Klägers mitzuteilen. Am 18. August 2014 gingen die Unterlagen ein. Mit Beschluss vom selben Tag bewilligte das Sozialgericht dem Kläger PKH.

 

Zwei Tage später forderte das Gericht vom Rentenversicherungsträger die den Kläger betreffenden Akten an, die am 02. September 2014 eintrafen.

 

Unter dem 12. September 2014 wies das Sozialgericht den Bevollmächtigten darauf hin, dass es örtlich nicht zuständig sein dürfte, und bat um Prüfung der klägerischen Anschrift zum Zeitpunkt der Klageerhebung. Am 07. November und 09. Dezember 2014 sowie 13. Januar 2015 erinnerte es den Bevollmächtigten jeweils, zuletzt unter Fristsetzung von zwei Wochen. Dessen Antwort traf schließlich - verbunden mit einem Verweisungsantrag - am 22. Januar 2015 bei Gericht ein. Mit Beschluss vom 04. Februar 2015 erklärte das Sozialgericht Berlin sich für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Sozialgericht Frankfurt (Oder).

 

Am 26. Februar 2015 gingen die Akten beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) ein, wo das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 26 AS 380/15 registriert wurde. Anfang März 2015 wurde der Vorgang dort in das so genannte ET-Fach verfügt.

 

Am 01. August 2018 beraumte das Sozialgericht einen Erörterungstermin für den 18. Oktober 2018 an. Nachdem der Bevollmächtigte, dem die Terminsmitteilung am 03. August 2018 zugestellt worden war, am 28. September 2018 seine Verhinderung angezeigt hatte, hob das Gericht den Termin am 02. Oktober 2018 auf.

 

Am 01. März 2021 beraumte das Gericht erneut einen Erörterungstermin, nunmehr auf den 12. April 2021 an. Auf den entsprechenden Antrag des JC vom 15. März 2021 wurde dieses eine Woche später im Hinblick auf die Corona-Pandemie von der Entsendung eines Mitarbeiters zum Termin entbunden. Am 01. April 2021 wurde seitens des hiervon informierten Klägers mit der Begründung, dass ein Erörterungstermin nicht – insbesondere nicht in Abwesenheit des JC - zur Erledigung der Sache führen werde, Verzögerungsrüge erhoben. Fünf Tage später hob das Gericht den Erörterungstermin unter Hinweis auf "die Verhinderung des Beklagten sowie die Entwicklung der pandemischen Lage" auf und erläuterte dem Bevollmächtigten gegenüber, warum es den Erörterungstermin als nötig erachte.

 

Am 16. August 2021 setzte das Sozialgericht einen Erörterungstermin für den 18. Oktober 2021 an. An diesem Tag wurde der Sachverhalt mit den Beteiligten erörtert. In der Folge lud das Gericht das Land Berlin, vertreten durch das Bezirksamt Neukölln, mit Beschluss vom 21. Oktober 2021 bei. Weiter übersandte es dem Beigeladenen diverse Kopien aus der Akte, bat diesen um Stellungnahme binnen vier Wochen und wandte sich mit einer Anfrage an die Einrichtung, in der der Kläger sich von Juli bis November 2013 aufgehalten hatte. Am 03. Dezember 2021 und nochmals am 20. Januar 2022 erinnerte das Gericht den Beigeladenen sowie die Einrichtung. Letztgenannte reagierte mit am 24. Februar 2022 eingegangenem Schreiben, das vier Tage später dem Bevollmächtigten zur freigestellten und dem JC zur Stellungnahme binnen drei Wochen zugeleitet wurde. Ferner wandte sich das Gericht mit einer Rückfrage an die Einrichtung.

 

Am 28. Februar 2022 ging die Stellungnahme des Beigeladenen ein, die am 09. März 2022 dem Bevollmächtigten zur Kenntnis- und dem JC zur Stellungnahme innerhalb von vier Wochen übersandt wurde. Dieses wurde am 27. April 2022 an die Stellungnahme unter Fristsetzung von vier Wochen erinnert. Am 25. Mai 2022 ging dessen Erwiderung ein und wurde den übrigen Beteiligten am 02. Juni 2022 zur Kenntnisnahme zugeleitet. Zugleich wurde die Einrichtung an die Beantwortung der gerichtlichen Anfrage unter Fristsetzung von drei Wochen erinnert. Nachdem diese Erinnerung nicht zu einer Reaktion geführt hatte, mahnte das Sozialgericht die Einrichtung nochmals unter dem 11. Juli 2022 und drohte nunmehr an, einen Verhandlungstermin mit Zeugenvernehmung anzuberaumen. Am selben Tag traf daraufhin die Antwort der Einrichtung ein und wurde den damaligen Beteiligten am 19. Juli 2022 zur Kenntnis- bzw. - dem JC - zur Stellungnahme binnen drei Wochen zugeleitet. Bereits drei Tage später beraumte das Gericht einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12. September 2022 an und lud die Beteiligten. Mit am 05. September 2022 eingehendem Schriftsatz nahm das JC Stellung.

 

Eine Woche später fand die mündliche Verhandlung statt, in deren Ergebnis das Gericht das JC zur Leistungsgewährung in bezifferter Höhe (insgesamt 1.096,13 €) für die Zeit vom 01. August bis zum 22. November 2013 verurteilte. Die schriftlichen Urteilsgründe wurden am 04. Oktober 2022 abgesandt und wurden zuletzt dem Beigeladenen am 22. November 2022 zugestellt.

 

Auf den vorprozessual erhobenen Entschädigungsanspruch des Klägers stellte die Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg mit Schreiben vom 29. November 2022 ausdrücklich fest, dass das beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 26 AS 380/15 geführte Klageverfahren eine unangemessene Dauer aufwies, lehnte den Antrag auf Zahlung einer Entschädigung hingegen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass eine überlange Dauer des Verfahrens im Umfang von 58 Kalendermonaten (Inaktivität in 70 Kalendermonaten, nämlich April 2015 bis Juli 2018, November 2018 bis Januar 2021 sowie Mai bis Juli 2021, abzüglich zwölf Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit) festzustellen sei. Hierfür werde dem Kläger auch im Namen des Beklagten das Bedauern ausgesprochen. Indes erwachse dem Kläger kein finanzieller Entschädigungsanspruch. Diesem sei bereits kein immaterieller Nachteil entstanden. Er hätte seinen Lebensunterhalt im streitgegenständlichen Zeitraum bereits nach eigenem Vortrag durch die Gewährung finanzieller Unterstützung durch "Oma, Bekannte und Freunde" gedeckt gehabt. Der Rechtsstreit hätte damit schon zum Zeitpunkt der Klageerhebung seinen existenzsichernden Charakter verloren gehabt. Inwieweit er hinsichtlich der durch Dritte gewährten finanziellen Unterstützung überhaupt einer (wirksamen) Rückzahlungsverpflichtung ausgesetzt gewesen sei, sei im Ausgangsverfahren nicht geklärt worden und könne daher zur Begründung einer seelischen Unbill auch nicht herangezogen werden. Die Verfahrensführung lasse im Gegenteil vermuten, dass kein besonderes Interesse an einem zügigen Verfahrensabschluss bestanden habe. Zwischen der Verweisung der Sache an das Sozialgericht Frankfurt (Oder) im Februar 2015 und dem Eingang der Verzögerungsrüge im April 2021 sei nicht eine Sachstandsanfrage gestellt oder sonst auf den Verfahrensfortgang hingewirkt worden. Der für Oktober 2018 anberaumte Erörterungstermin habe aufgrund einer nicht näher begründeten und nachgewiesenen Verhinderung des Bevollmächtigten aufgehoben werden müssen. Über prozessrelevante Tatsachen sei das Gericht vom Kläger nur äußerst verspätet informiert worden. Dies gelte im Hinblick auf die Gewährung von Arbeitslosengeld II ab dem 23. November 2013 und die damit einhergehende Begrenzung des streitgegenständlichen Zeitraums erst im Erörterungstermin im Oktober 2021. Eine Verzögerungsrüge sei im Übrigen erst dann erhoben worden, als der (neue) Kammervorsitzende mit der Ladung zum Erörterungstermin im April 2021 zu erkennen gegeben habe, das Verfahren nunmehr alsbald zum Abschluss bringen zu wollen. Jedenfalls aber bedürfe es vorliegend zur Kompensation einer seelischen Unbill keiner finanziellen Entschädigung. Mit Blick auf den Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge erst sechs Jahre nach Verweisung der Sache an das Sozialgericht Frankfurt (Oder) und auf die bereits eingetretene mehrjährige Verzögerung ohne jede Reaktion des Klägers sei von Besonderheiten auszugehen, die es rechtfertigten, keine finanzielle Entschädigung zuzusprechen.

 

Am 13. März 2023 hat der Kläger daraufhin Entschädigungsklage erhoben, eine unangemessene Verzögerung in dem vom Beklagten angenommenen Umfang beklagt und über die bereits erfolgte Feststellung der Verfahrensüberlänge hinaus die Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 5.800,00 € begehrt. Er meint, dass ihm entgegen der Ansicht des Beklagten sehr wohl eine finanzielle Entschädigung zustehe. Die Ausführungen der Präsidentin des Landessozialgerichts seien weder nachzuvollziehen noch überzeugend. Bei einer Verfahrensdauer von mehr als sechs Jahren anlässlich der Anberaumung eines Erörterungstermins, in dem das JC nicht einmal anwesend gewesen wäre, Verzögerungsrüge zu erheben, sei keinesfalls rechtsmissbräuchlich, sondern mehr als nachvollziehbar. Eine Sachstandsanfrage sei nicht Voraussetzung für eine Verzögerungsrüge. Seitens des Beklagten würden letztlich Anforderungen aufgestellt, die dem Gesetz nicht zu entnehmen seien.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen überlanger Dauer des zuletzt vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 26 AS 380/15 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 5.800,00 € zu zahlen.

 

Der Beklagte, dem die Klage am 13. April 2023 zugestellt worden ist, beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Er verweist darauf, dass die von ihm vorprozessual angenommene Dauer der Verfahrensüberlänge noch die Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht berücksichtigt habe. Tatsächlich seien ihm die Verzögerungen von März bis Mai 2020 sowie im April und Mai 2021 nicht anzulasten. Letzteres folge daraus, dass zum Zeitpunkt der mit richterlicher Verfügung vom 06. April 2021 angeordneten Abladung für die Stadt Frankfurt (Oder) ein erheblich über dem Landesdurchschnitt liegendes Corona-Infektionsgeschehen festzustellen gewesen sei. Die 7-Tage-Inzidenz habe vom 02. bis zum 06. April 2021 durchgängig bei mindestens 183,5 gelegen. Es hätten damit nach der maßgeblichen Siebten Verordnung über befristete Eindämmungsmaßnahmen aufgrund des SARS-CoV-2-Virus und COVID-19 im Land Brandenburg vom 06. März 2021 in der Fassung vom 30. März 2021 u.a. erhebliche Kontaktbeschränkungen und darüber hinaus eine erweiterte Schließungsanordnung für nahezu sämtliche Verkaufsstätten sowie eine Vielzahl öffentlicher und privater Einrichtungen gegolten. Zu diesem Zeitpunkt sei erst ein geringer Teil der Bevölkerung vollständig geimpft gewesen (Stand der Grundimmunisierung bundesweit am 06. April 2021: ca. 4,7 Millionen Menschen). Erst im Verlaufe des Monats Mai 2021 sei die 7-Tage-Inzidenz in Frankfurt (Oder) bei einer gleichzeitig deutlich gestiegenen Impfquote (Stand der Grundimmunisierung am 31. Mai 2021 bundesweit: 15,2 Millionen Menschen) wieder auf einen Wert unter 50 gesunken. Die Verzögerungen infolge des vorübergehenden Verzichts auf die erneute Ladung des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens könne damit ihm - dem Beklagten - für die Monate April und Mai 2021 nicht angelastet werden. Im Übrigen sei insoweit auch zu berücksichtigen, dass das beklagte JC mitgeteilt hatte, aufgrund der aktuellen Pandemiesituation keinen Vertreter zum Termin zu entsenden. Da der Richter letztlich die Teilnahme eines Mitarbeiters des JC zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich gehalten habe, hätte er den Rückgang der Inzidenz abwarten müssen, um die persönliche Teilnahme eines Vertreters des JC zu einem Erörterungstermin sicherzustellen. Es sei daher von 66 Kalendermonaten mit gerichtlicher Inaktivität auszugehen (April 2015 bis Juli 2018, November 2018 bis Februar 2020, Juni 2020 bis Januar 2021 sowie Juni 2021 bis Juli 2021). Eine Entschädigung stehe dem Kläger jedoch aus den im vorprozessualen Verfahren dargelegten Gründen nicht zu.

 

Der Kläger ist diesem Vortrag entgegen getreten. Er meint, dass die Argumentation des Beklagten nicht überzeugen könne. Die angeführten Inzidenzzahlen seien nicht geeignet gewesen, die Annahme einer Gefahr für Leib oder Leben und eine deswegen etwaig gerechtfertigte Einschränkung des Gerichtsbetriebs zu begründen. Die Ausführungen zur Grundimmunisierung der Bevölkerung lebten von Voraussetzungen, die nicht ansatzweise geteilt würden.

 

Mit Schreiben vom 28. April und 15. Mai 2023 haben die Beteiligten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Akten des Ausgangsverfahrens verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der nach § 201 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) sowie § 202 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für die Entscheidung über die Entschädigungsklage zuständige Senat konnte über diese nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. §§ 202 Satz 2, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt hatten.

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

 

A.      Die als allgemeine Leistungsklage statthafte, auf Gewährung einer Entschädigung wegen überlanger Dauer des zuletzt vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 26 AS 380/15 geführten Verfahrens gerichtete Klage ist zulässig. Insbesondere bestehen weder an der Wahrung der gemäß § 90 SGG für die Klage vorgeschriebenen Schriftform noch an der Einhaltung der nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG zu wahrenden Klagefrist von sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens Zweifel. Nachdem das Sozialgericht im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12. September 2022 über die Sache entschieden, die schriftlichen Urteilsgründe am 04. Oktober 2022 abgesandt hatte und eine Zustellung zuletzt beim Beigeladenen am 22. November 2022 erfolgt war, hat der Kläger am 13. März 2023 und damit noch innerhalb der Sechsmonatsfrist (vgl. § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG) beim Landessozialgericht seine Entschädigungsklage anhängig gemacht. Ob diese dem Beklagten innerhalb der Frist zugestellt wurde, ist unerheblich. Denn maßgeblich für die Einhaltung der Klagefrist ist der Eingang der Klage beim Entschädigungsgericht (BSG, Urteil vom 17.12.2020 – B 10 ÜG 1/19 R – juris, Rn. 16 m.w.N.).

 

B.      Auch ist die - nach § 200 Satz 1 GVG zu Recht gegen das Land Brandenburg gerichtete - Entschädigungsklage begründet. Der Kläger hat wegen des - aufgrund der unangemessenen Verfahrensdauer erlittenen - immateriellen Nachteils Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung in Höhe der begehrten 5.800,00 €.

 

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG).

 

I.        An der ordnungsgemäßen Erhebung einer Verzögerungsrüge bestehen vorliegend keine Zweifel. Seitens des Klägers wurde eine solche am 01. April 2021 an das Gericht herangetragen. Das Verfahren war zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als sieben Jahren anhängig und es war nach Aufhebung des auf den 18. Oktober 2018 anberaumten Erörterungstermins erstmals wieder mit der Neuansetzung im März 2021 für April 2021, mithin nach etwa zweieinhalb Jahren, zu einem Bearbeitungsschritt gekommen. Die beim Beklagten anklingenden Zweifel an der ordnungsgemäßen Erhebung der Verzögerungsrüge teilt der Senat nicht. Insbesondere ist dem Kläger nicht vorzuwerfen, dass er die Verzögerungsrüge in Reaktion auf die Anberaumung eines Erörterungstermins erhoben hat. Abgesehen davon, dass ein Erörterungstermin keinesfalls sicher dafür spricht, dass die Verfahrenserledigung nunmehr unmittelbar bevorsteht, wurde die Verzögerungsrüge hier erhoben, als der Kläger davon Kenntnis erhalten hatte, dass das JC vom Erscheinen zu diesem Termin entbunden worden war. Die Wahrscheinlichkeit, das Verfahren gleichwohl in dem Termin zum Abschluss zu bringen, war damit nochmals gesunken.

 

II.         Auch weist das Verfahren eine unangemessene Dauer auf und dies in weitergehendem Umfang als vom Beklagten zuletzt angenommen.

 

Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG kommt es für die Beurteilung der Verfahrensdauer auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter sowie die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens an.

 

1.         Zur Überzeugung des Senats hatte das streitgegenständliche Ausgangsverfahren, in dem der Kläger Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch für die Zeit ab dem 01. August 2013 und zuletzt bis zum 22. November 2013 begehrte, für diesen zumindest durchschnittliche Bedeutung. Denn existenzsichernden Leistungen ist regelmäßig eine überdurchschnittliche Bedeutung für ihren Empfänger beizumessen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R – juris, Rn. 39), da ggf. Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts im Existenzminimumsbereich fehlen und durch Einsparmaßnahmen bzw. die Aufnahme privater Darlehen kompensiert werden müssen (BSG, Urteil vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R –, juris, Rn. 29). Allerdings hat der Senat in seine Bewertung auch einbezogen, dass zur Bedeutung der Sache im Kontext des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz maßgeblich das Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung beiträgt und deshalb auch entscheidend ist, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition eines Klägers und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf die weiteren geschützten Interessen auswirkt (BSG, Urteile vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 -, Rn. 29, - B 10 ÜG 9/13 R -, Rn. 31, - B 10 ÜG 12/13 R -, Rn. 35, - B 10 ÜG 2/14 R -, Rn. 38, vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R -, Rn. 30 sowie vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R -, Rn. 34, jeweils zitiert nach juris). Diesbezüglich drohte jedoch für den Kläger keinerlei Rechtsverlust. Im Übrigen war der Zeitraum, für den letztlich ein Leistungsanspruch verfolgt wurde, bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung abgeschlossen. Zugleich wies das Verfahren eine durchschnittliche Schwierigkeit und Komplexität auf.

 

2.    Für die Entscheidung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind aktive und inaktive Phasen der Bearbeitung gegenüberzustellen. Dabei sind dem Ausgangsgericht gewisse Vorbereitungs- und Bedenkzeiten, die regelmäßig je Instanz zwölf Monate betragen, als angemessen zuzugestehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte als begründet und gerechtfertigt angesehen werden können. Angemessen bleibt die Gesamtverfahrensdauer in Hauptsacheverfahren regelmäßig zudem dann, wenn sie den genannten Zeitraum überschreitet, aber insoweit auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht oder durch Verhalten des Klägers oder Dritter verursacht wird, die das Gericht nicht zu vertreten hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R – juris, Rn. 33, 54 f.). Kleinste relevante Zeiteinheit im Geltungsbereich des Rechtsschutzes wegen überlanger Verfahrensdauer ist dabei stets der Kalendermonat (BSG, Urteil vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – 2. Leitsatz und Rn. 34, vgl. auch Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R –, Rn. 29, - B 10 ÜG 9/13 R – Rn. 25, - B 10 ÜG 2/13 – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris).

 

Gemessen daran ist es zur Überzeugung des Senats in 70 Kalendermonaten zu gerichtlicher Inaktivität gekommen.

 

Nach Eingang der Klage beim Sozialgericht Berlin im Dezember 2013 wurde das Verfahren durch das Gericht engmaschig betrieben. Soweit es bis zur Verweisung des Rechtsstreits im Februar 2015 an das Sozialgericht Frankfurt (Oder) überhaupt zu Verzögerungen kam, sind diese nicht dem Gericht, sondern den damaligen Verfahrensbeteiligten anzulasten. Denn nachdem zunächst das JC säumig gewesen war, bedurfte es schließlich mehrerer Erinnerungen an den Bevollmächtigten des Klägers, bis dieser im Hinblick auf die vom Sozialgericht aufgezeigte zweifelhafte örtliche Zuständigkeit reagierte. In all diesen Phasen hat das Gericht in - jedenfalls für das frühe Verfahrensstadium - angemessener Form dem Rechtsstreit durch Erinnerungen und engmaschige Fristsetzungen Fortgang gewährt.

 

Zu Recht gehen die Beteiligten hingegen davon aus, dass es nach Verweisung der Sache an das Sozialgericht Frankfurt (Oder) dort bereits ab April 2015 zu einer langen, nämlich 40 Kalendermonate umfassenden Phase der gerichtlichen Inaktivität gekommen ist, bevor der Rechtsstreit durch Anberaumung eines Erörterungstermins, die Prüfung des Vertagungsantrages des Bevollmächtigten und die Terminsaufhebung von August bis Oktober 2018 wieder bearbeitet wurde.

 

Soweit dem Rechtsstreit im Folgenden ab November 2018 bis einschließlich Februar 2021, mithin in 28 Monaten, erneut kein Fortgang gewährt wurde, ist dies dem Beklagten mit Blick auf die Monate von März bis einschließlich Mai 2020 – aber auch nur für diese - nicht als Verzögerungszeit vorzuwerfen. Der Senat geht mit dem Bundesfinanzhof (BFH, Urteil vom 21.10.2021 – X K 5/20 - juris, Rn. 34 ff.) und dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 29.06.2021 – OVG 3 A 21/20 – nicht veröffentlicht) regelmäßig davon aus, dass zu Beginn der Corona-Pandemie aufgetretene Verzögerungen wertungsmäßig außerhalb des staatlichen Verantwortungs- und Einflussbereichs lagen, sich die seinerzeit - unvorhersehbar erforderlich werdenden - pandemiebedingten Schutzmaßnahmen vielmehr als unbeeinflussbares Ereignis darstellten und es angemessen ist, den Gerichten für die Dauer der ersten Corona-Welle eine dreimonatige Frist einzuräumen, um die im Interesse des Gesundheitsschutzes der Gerichtsangehörigen, aller übrigen Verfahrensbeteiligten und auch Besucherinnen und Besucher gebotenen Maßnahmen umzusetzen. Er sieht daher etwaige zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Verzögerungen, sei es im Sitzungsbetrieb, sei es im allgemeinen Geschäftsablauf, als der Corona-Pandemie geschuldet an, selbst wenn sich dies nicht unmittelbar den Akten entnehmen lässt (vgl. z.B. Senatsurteil vom 20.01.2023 – L 37 SF 71/22 EK SO – juris, Rn. 33 ff. m.w.N.). Nicht mehr hat dies indes für die Folgezeit und insbesondere die Monate Januar und Februar 2021 zu gelten. Aufgrund der Corona-Pandemie ist lediglich für eine Übergangszeit von einer dem Beklagten nicht anzulastenden Verzögerung auszugehen, denn es oblag dem Gericht und damit dem Staat, geeignete Maßnahmen (z. B. Umbau von Sitzungssälen, Anordnung einer Maskenpflicht, Aufstellen von Desinfektionsmittelspendern) zu ergreifen, um trotz der Corona-Pandemie die Gewährung von Rechtsschutz in angemessener Zeit sicherzustellen (Senatsurteile vom 20.01.2023 – L 37 SF 71/22 EK SO –, Rn. 36 m.w.N. und – L 37 SF 83/22 EK R –, Rn. 57, juris). Die hierfür erforderliche Zeit ist mit den drei vorgenannten Monaten abgegolten, während etwaige in der Zeit ab Juni 2020 und damit insbesondere auch in den Monaten Januar und Februar 2021 aufgetretene Verzögerungen trotz weiterhin geltender Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie dem Verantwortungs- und Einflussbereich des Staates zuzuordnen sind. Für diesen Zeitraum ist mithin von gerichtlicher Inaktivität im Umfang von 25 Kalendermonaten auszugehen.

 

Im März 2021 wurde das Verfahren wieder gefördert, indem erneut ein Erörterungstermin angesetzt wurde. Hingegen ist es bereits ab April 2021 – nunmehr bis einschließlich Juli 2021 – erneut zu einer viermonatigen Verzögerungsphase gekommen. Entgegen der Ansicht des Beklagten sind ihm diesbezüglich aus den vorstehenden Gründen insbesondere auch die Monate April und Mai 2021 vorzuwerfen. Anderes folgt hier auch nicht daraus, dass den Akten des Ausgangsverfahrens zu entnehmen ist, dass das JC unter Berufung auf die Corona-Pandemie keinen Mitarbeiter zum Termin hatte entsenden wollen und das Gericht den Termin letztlich deshalb sowie unter Berufung auf die Pandemie-Lage aufgehoben hat. Ob es in dieser Situation richtig war, einem entsprechenden Ansinnen im März 2021 für einen Termin im April 2021 nachzukommen, hat der Senat schon mit Blick auf das dem Gericht zustehende weite Ermessen bei seiner Entscheidung, wie es das Verfahren gestaltet und leitet (BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R - juris, Rn. 36 und vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R –, juris, Rn. 31), nicht zu entscheiden. Wohl aber hat der Senat zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (BSG, Urteile vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - Rn. 36, - B 10 ÜG 9/13 R - Rn. 39, - B 10 ÜG 12/13 R - Rn. 43 und – B 10 ÜG 2/14 R – Rn. 42, jeweils zitiert nach juris). Insoweit ist jedoch zu beachten, dass das Verfahren im März 2021 bereits seit über sieben Jahren anhängig war, ohne dass es bis dahin in irgendeiner Form zu einer maßgeblichen inhaltlichen Förderung gekommen war. Wenn das Gericht es zu diesem Zeitpunkt als richtig erachtet hat, den Erörterungstermin aufzuheben, dann hätte es sich zumindest ersatzweise mit konkreten Fragen an die damaligen Beteiligten wenden müssen, um die Sache inhaltlich überhaupt erst einmal anzustoßen. Denn es ging hier – wie der Niederschrift über den letztlich im August 2021 für Oktober 2021 anberaumten Erörterungstermin zu entnehmen ist – gerade nicht nur um etwaige ausstehende Erklärungen seitens des JC, sondern insbesondere erst einmal um Informationen, die der Kläger geben musste.

 

In diesem Abschnitt ist schließlich der zwischen der Terminierung und der Durchführung des Erörterungstermins liegende Monat September 2021 als Verzögerungsmonat zu werten. Weitere Verzögerungen sind im Folgenden nicht mehr aufgetreten.

 

3.      Es ist damit zur Überzeugung des Senats tatsächlich in 70 Kalendermonaten zu dem Beklagten vorwerfbarer gerichtlicher Inaktivität gekommen. Abzüglich der den Gerichten regelmäßig zustehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten, von der abzuweichen es hier keinen Anlass gibt, weist das streitgegenständliche Verfahren eine Überlänge von 58 Monaten auf. Durch diese unangemessene Verfahrensdauer hat der Kläger einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten. Dies folgt bereits aus § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Umstände, die diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen geeignet erscheinen lassen, sind nicht erkennbar und auch von dem Beklagten nicht überzeugend vorgebracht worden. Namentlich gilt dies, soweit dieser den Eintritt eines immateriellen Nachteils unter Berufung darauf in Abrede stellt, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in dem im Ausgangsverfahren gegenständlichen Zeitraum durch die finanzielle Unterstützung Dritter gedeckt gehabt und das Sozialgericht nicht geprüft habe, ob der Kläger einer wirksamen Rückzahlungsverpflichtung ausgesetzt gewesen sei. Unabhängig davon, ob es darauf überhaupt ankommen kann, zeigt die Entscheidung des Sozialgerichts, dass dieses von bestehender Hilfebedürftigkeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum und damit zumindest in entsprechender Höhe offensichtlich nicht von einer den Bedarf vollständig abdeckenden, nicht zurückzuzahlenden Leistung Dritter ausgegangen ist. Diese Annahme hat der Entschädigungssenat nicht in Abrede zu stellen.

 

4.      Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Absatz 4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, sieht der Senat vorliegend nicht als ausreichend an (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG). Eine derartige Kompensation kommt unter Würdigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 und Art. 41 EMRK nur ausnahmsweise in Betracht (vgl. BSG, Urteile vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL - Rn. 45, vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – Rn. 52 und – B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 59 sowie vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - Rn. 36 und – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 43, alle zitiert nach juris). Namentlich kann dies dann der Fall sein, wenn das Verfahren für den Entschädigungskläger aus der Sicht eines verständigen Dritten in der Lage des Klägers keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat. Davon, dass eine dieser Varianten hier zu bejahen wäre, vermag der Senat nicht auszugehen. Weder ist der Gegenstand des Ausgangsverfahrens als für den Kläger mehr oder minder bedeutungslos anzusehen, noch hat dieser erheblich zur Verfahrensverlängerung beigetragen. Dass er umgekehrt viel Geduld gezeigt hat, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen.

 

5.         Unter Berücksichtigung des sich aus § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG ergebenden Regelbetrages von 100,00 € je Monat der Verzögerung war der Beklagte daher zur Zahlung der begehrten Entschädigung in Höhe von 5.800,00 € zu verurteilen.

 

Soweit in § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG schließlich die Möglichkeit vorgesehen ist, in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung auszusprechen, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, sieht der Senat hierfür keinen Grund. Er vermag bereits nicht zu erkennen, dass vorliegend ein schwerwiegender Fall gegeben wäre.

 

C.        Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

 

D.      Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG i.V.m. § 202 Satz 2 SGG und § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, hatte der Senat nicht. Soweit bzgl. der Frage, ob in der Zeit von März bis Mai 2020 aufgetretene Verzögerungen den Gerichten anzulasten sind, mehrere Verfahren beim Bundessozialgericht anhängig sind, könnte mit Blick auf die hier bereits erfolgte vollständige Stattgabe eine von der vertretenen Auffassung abweichende für den Kläger nicht zu einem günstigeren Ergebnis führen.

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved