L 7 SO 1754/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 11 SO 5371/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 1754/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Der Begriff der Verhandlung, der bei einem sozialhilferechtlichen Kostenersatzanspruch gem. § 102 SGB XII i.V.m. § 103 Abs. 3 Satz 2 SGB XII zu einer Hemmung des Erlöschens führt, ist weit auszulegen. Es genügt bereits, wenn sich der Schuldner auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang einlässt. Bei schwebenden Verhandlungen wirkt die Hemmung zurück auf den Zeitpunkt, in dem der Gläubiger seinen Anspruch geltend gemacht hat. Die bürgerlich-rechtlichen Verjährungsregeln sind auf das Erlöschen des Kostenersatzanspruchs sinngemäß anzuwenden. Sie müssen daher nach Sinn und Zweck des sozialhilferechtlichen Kostenersatzanspruchs inkorporiert werden.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Februar 2023 abgeändert und der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2019 aufgehoben, soweit die Klägerin darin zu einem Kostenersatz von mehr als 102.756,95 Euro verpflichtet wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen ihre Inanspruchnahme zum Kostenersatz für an ihren Sohn D1 (im Weiteren: der Leistungsberechtigte) erbrachte Sozialhilfeleistungen im Zeitraum vom 19. Mai 2005 bis 31. Oktober 2014.

Der 1957 geborene und verstorbene Leistungsberechtigte, bei dem eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (ICD-10: F20.0) bestand (Ärztliches Zeugnis des B1, O1 Psychiatrie vom 5. Januar 2000, Bl. 11/25 Bd. I Verw.-Akte), besuchte vom 5. Juni 2002 bis zum 31. Oktober 2014 den Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen in L1. Diesbezüglich erhielt er zunächst vom Landeswohlfahrtsverband B2 und im Weiteren ab dem 1. Januar 2005 von dem Beklagten (im Weiteren einheitlich: der Beklagte) Leistungen der Eingliederungshilfe (Antrag vom 10. Mai 2002, Bl. 105/108 Bd. I Verw.-Akte; ursprünglicher Bewilligungsbescheid vom 15. Mai 2002, Bl. 113/115 Bd. I Verw.-Akte). Nachdem der Leistungsberechtigte aufgrund der Auswirkungen eines Hirntumors ab dem 23. Juni 2014 arbeitsunfähig geworden war, hob der Beklagte die Gewährung von Eingliederungshilfe mit Bescheid vom 30. Oktober 2014 zum 1. November 2014 auf. Hinsichtlich der im Zeitraum von 2002 bis 2014 an den Leistungsberechtigten erbrachten Leistungen bzw. der entsprechenden Einnahmen und Ausgaben wird auf die diesbezüglichen endgültigen Jahres-Fall-Auszüge des Beklagten Bezug genommen.

Nachdem der Beklagte im Rahmen einer Datenabfrage am 27. November 2017 vom Tod des Leistungsberechtigten erfahren hatte, wandte er sich nach einer Anfrage beim zuständigen Nachlassgericht zur Erbfolge mit Schreiben vom 2. Januar 2018 und 19. Januar 2018 an die Klägerin als Erbin (Erbschein des Notariats L1 vom 12. August 2015 – Bl. 359 Verw.-Akte), wies darauf hin, dass der Leistungsberechtigte vom 5. Juni 2002 bis 31. Oktober 2014 Eingliederungshilfe erhalten habe und ein Kostenersatz der Erben nach § 102 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) geprüft werden müsse. Der Beklagte wies weiter darauf hin, dass die Ersatzpflicht nur für die Kosten der Sozialhilfe bestehe, die innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden seien und die einen Freibetrag von 2.454,00 Euro überstiegen, sowie dass die Ersatzpflicht des Erben zur den Nachlassverbindlichkeiten gehöre. Die Klägerin werde daher um Mitteilung gebeten, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Leistungsberechtigte Vermögenswerte hinterlassen habe und welche Nachlassverbindlichkeiten bestünden.

Nachdem auf dieses Schreiben keine Reaktion erfolgte, verpflichtete der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 21. März 2018 unter Androhung eines Zwangsgeldes dazu, Auskunft über den Nachlass des Leistungsberechtigten zu erteilen und wies auch hierzu auf die von dem Leistungsberechtigten bezogenen Leistungen und die Prüfung eines Kostenersatzes hin.

Mit Widerspruchsschreiben hierzu vom 15. April 2018 führte die – von der Klägerin mit einer u.a. auch die Vertretung in Rechtsangelegenheiten erfassenden Vorsorgevollmacht bevollmächtigte – Tochter der Klägerin für diese aus, dass der Leistungsberechtigte bis zu seiner Erkrankung in den L2 Werkstätten der -Diakonie- beschäftigt gewesen sei. Für die durch ihn erbrachte Arbeitsleistung habe er lediglich einen minimalen Lohn erhalten. Leistungen wie Eingliederungs- oder Sozialhilfe habe er während seiner gesamten Beschäftigungszeit nicht erhalten. Bevor gegen die Klägerin irgendwelche weiteren Maßnahmen eingeleitet würden, werde zunächst eine genaue Aufschlüsselung der von dem Beklagten zitierten Forderungen erwartet. Vorher würden auch keine Formulare oder Erhebungsbögen eingesandt.

Mit Schreiben vom 24. April 2018 vertiefte der Beklagte seine Ausführungen zum Leistungsbezug des Leistungsberechtigten und bezifferte die jeweils jährlichen Aufwendungen von 2005 bis 2014. Hierauf übersandte die Klägerin u.a. einen Erbschaftsteuerbescheid – aus dem sich ein bereinigter Nachlass des Leistungsberechtigten von 210.196,00 Euro ergab – und die Erhebungsbögen des Beklagten, in welchen sie u.a. bestätigte, Alleinerbin des Leistungsberechtigten zu sein („Erbteil 100%“) sowie die Bestattungskosten mit 10.300 Euro bezifferte.

Mit Schreiben vom 16. Mai 2018 hörte der Beklagte die Klägerin zur vorgesehenen Kostenerstattung in Höhe von 105.122,92 Euro an und forderte diese im Weiteren mit Bescheid vom 18. Juni 2018. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. November 2019 zurück.

Auf die hiergegen von der Klägerin am 28. November 2019 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobene Klage hat das SG mit Urteil vom 23. Februar 2023 den Bescheid vom 18. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2019 aufgehoben. Nach § 102 Abs. 4 Satz 1 SGB XII erlösche der Anspruch auf Kostenersatz in drei Jahren nach dem Tod der leistungsberechtigten Person, ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners. Im konkreten Fall sei der Leistungsberechtigte 2015 verstorben, sodass der Anspruch auf Kostenersatz mit Ablauf des 2018 erloschen sei. Der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2018 sei mithin deutlich nach Ablauf der Erlöschensfrist ergangen. [Das Erlöschen des] Anspruchs auf Kostenersatz sei nach Auffassung der Kammer auch nicht gehemmt worden. Insoweit gälten nach § 102 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. § 103 Abs. 3 Satz 2 SGB XII die §§ 203 bis 214 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend. Nach § 203 BGB sei die Verjährung gehemmt, wenn zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände schwebten, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigere. Erforderlich – aber auch ausreichend – sei jeder Meinungsaustausch über den Anspruch oder die ihn begründenden Umstände, der über eine schlichte Erfüllungsverweigerung hinausgehe. Einseitige Erklärungen des Gläubigers seien dabei jedoch keinesfalls ausreichend. Vorliegend sei für die Kammer bereits nicht ersichtlich, dass Verhandlungen stattgefunden hätten. So habe die Klägerin mit Schreiben vom 15. April 2018 das Bestehen eines Anspruchs und insbesondere die Inanspruchnahme von Leistungen seitens des Leistungsberechtigten verneint. Zudem sei der Klägerin nach Überzeugung der Kammer zu diesem Zeitpunkt (noch) überhaupt nicht klar gewesen, um welche Art von Anspruch es eigentlich gehe, sodass auch hiernach die Annahme von Verhandlungen ausscheide. Nach entsprechender Erläuterung seitens der Beklagten mit Schreiben vom 24. April 2018 seien von der Klägerin dann mit Schreiben vom 10. Mai 2018 die geforderten Unterlagen zum Nachlass vorgelegt worden. Der bloßen Einreichung von Unterlagen könne jedoch nicht die Erklärung entnommen werden, dass sich der Schuldner auf Erörterungen über die Berechtigung oder den Umfang des Anspruchs einlasse. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass nach Überzeugung der Kammer der Schriftverkehr zur Auskunftserteilung als Vorgehen im Rahmen der Amtsermittlung der Beklagten zu qualifizieren sei. Denn ohne Kenntnis über den Wert des Nachlasses und bestehende Nachlassverbindlichkeiten sei dem Beklagten gar keine Berechnung einer eventuellen Ersatzpflicht des Erben möglich. Wenn aber der Anspruch weder dem Grunde, noch der Höhe nach bekannt sei, erschließe sich der Kammer nicht, dass der Beklagte meine, schon zu diesem Zeitpunkt mit der Klägerin Verhandlungen geführt zu haben. Vielmehr habe der Beklagte erst mit Einreichung der Unterlagen seine Ermittlungen zur Verifizierung des Anspruchs abgeschlossen und eine inhaltliche Prüfung des Anspruchs auf Kostenerstattung gem. § 102 SGB XII vornehmen können. Das Ergebnis seiner Prüfung habe er der Klägerin sodann im Rahmen der Anhörung vom 16. Mai 2018 — zwei Tage vor Fristablauf — mitgeteilt. Erst zu diesem Zeitpunkt habe der Beklagte den Anspruch nach Würdigung des übersandten Bescheides über die Erbschaftssteuer der Höhe nach auf 105.122,92 Euro beziffert. Im Rahmen der Anhörung habe der Beklagte der Klägerin die Gelegenheit zur Äußerung bzw. Unterbreitung eines Zahlungsvorschlages bis zum 20. Juni 2018 gegeben. Selbst wenn man in der erwähnten Möglichkeit zur Unterbreitung eines Zahlungsvorschlages ein Gesprächsangebot sehen würde, sei dies jedenfalls nur einseitig erfolgt und daher keinesfalls ausreichend.

Gegen diese ihm am 30. Mai 2023 zugestellte Entscheidung hat der Beklagte am 19. Juni 2023 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, das SG gehe zu Unrecht davon aus, dass Verjährung eingetreten sei. Es seien bereits Verhandlungen über die Umstände, die einem Anspruch zugrunde liegen, völlig ausreichend, so dass eine Konkretisierung oder Bezifferung der Ansprüche nicht notwendig sei. Es sei ja gerade der typische Inhalt von Verhandlungen über einen Anspruch, dass der Sachverhalt geklärt sowie Art und Umfang bestimmt würden. Weshalb es eine Rolle spielen solle, dass hier gleichzeitig ein Handeln im Rahmen der Amtsermittlung vorgelegen habe, sei auch nicht nachvollziehbar. Es sei so, dass sich die Klägerin klar auf eine Erörterung des Anspruchs eingelassen habe. Im Schreiben vom 15. April 2018 werde der Anspruch auch nicht „komplett abgelehnt“, vielmehr werde eine genaue Aufschlüsselung der zitierten Forderungen verlangt. Es möge das Geheimnis des SG bleiben, wie die konkrete Aufforderung zur weiteren Aufschlüsselung des geltend gemachten Anspruchs und Hinweise zum weiter erwarteten Schriftverkehr in der Sache als endgültige Ablehnung ausgelegt werden könnten. Die Betreuerin der Klägerin habe zwar die Begründetheit des Anspruchs in Frage gestellt und sich über die Umstände der Geltendmachung beschwert. Eine endgültige und jegliche weitere Verhandlung ausschließende Ablehnung könne dem Schreiben aber weder objektiv noch aus der hier allein maßgeblichen Sicht des Beklagten entnommen werden. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass bei schwebenden Verhandlungen die Hemmung grundsätzlich auf den Zeitpunkt zurückwirke, in dem der Gläubiger seinen Anspruch gegenüber dem Schuldner geltend gemacht habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Februar 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und teilt weiter mit, dass weder sie noch der Leistungsberechtigte Kenntnis davon gehabt hätten, dass ein Antrag auf Sozialhilfe gestellt worden sei. Dies sei weder ihr noch dem Leistungsberechtigten von Seiten der Reha-Einrichtung mitgeteilt worden. Aus diesem Grunde sei sie der Ansicht, dass ein Anspruch nicht gegeben sei

Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 14. März 2024 einen Erörterungstermin durchgeführt, auf dessen Protokoll Bezug genommen wird. Die Klägerin hat mit Schreiben vom 15. April 2024 und der Beklagte mit Schreiben vom 28. Mai 2024 das jeweilige Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze und hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts auf die Prozessakten beider Instanzen sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.




Entscheidungsgründe

Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten, über welche der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist auch im Übrigen zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstands den Betrag von 750 Euro übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Die Berufung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet und das Urteil des SG vom 23. Februar 2023 entsprechend abzuändern. Denn die zulässige Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) der Klägerin ist nur in diesem Umfang begründet und der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2018 im Übrigen rechtmäßig.

Anspruchsgrundlage des seitens des Beklagten geltend gemachten Kostenersatzes ist § 102 SGB XII in der seit dem 7. Dezember 2006 gültigen Fassung (BGBl. I S. 3022). Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist u.a. der Erbe einer leistungsberechtigten Person zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe – von hier nicht streitigen, in § 102 Abs. 5 SGB XII aufgeführten Leistungen abgesehen – verpflichtet. Die Ersatzpflicht besteht nur für die Kosten der Sozialhilfe, die innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII übersteigen (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Die Ersatzpflicht gehört nach § 102 Abs. 2 SGB XII zu den Nachlassverbindlichkeiten, wobei die Haftung des Erben auf den Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalles beschränkt ist. Der Anspruch auf Kostenersatz ist nicht geltend zu machen, (1.) soweit der Wert des Nachlasses unter dem Dreifachen des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII liegt, (2.) soweit der Wert des Nachlasses unter dem Betrag von 15.340 EUR liegt, wenn der Erbe der Ehegatte oder Lebenspartner der leistungsberechtigten Person oder mit dieser verwandt ist und nicht nur vorübergehend bis zum Tod der leistungsberechtigten Person mit dieser in häuslicher Gemeinschaft gelebt und sie gepflegt hat, (3.) soweit die Inanspruchnahme des Erben nach der Besonderheit des Einzelfalles eine besondere Härte bedeuten würde.

Der Beklagte, der für die Erbringung der Eingliederungshilfeleistungen im hier maßgeblichen Zeitraum gemäß §§ 3, 97 Abs. 1, 98 Abs. 1 SGB XII i.V.m. §§ 1 Abs. 1 und 3, 2 SGB XII-Ausführungsgesetz Baden-Württemberg zuständig gewesen war, ist auch für die Geltendmachung des streitgegenständlichen Kostenersatzanspruchs zuständig. Dies ergibt sich – ohne besonders geregelt sein zu müssen und mangels anderweitiger Regelungen – aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass der Erstattungsanspruch als actus contrarius die Kehrseite des Leistungsanspruchs darstellt (BSG, Urteil vom 23. August 2013 – B 8 SO 7/12 R –, SozR 4-5910 § 92c Nr. 2, juris Rdnr. 14). Eine Änderung der Zuständigkeit hat sich vorliegend auch nicht daraus ergeben, dass das Recht der Eingliederungshilfe zum 1. Januar 2020 aus dem Sozialhilferecht herausgelöst und in das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) überführt worden ist, da der Anspruch noch nach altem Recht entstanden ist und auch bereits vor dem 1. Januar 2020 gegenüber der Klägerin geltend gemacht worden ist (vgl. dazu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 6. Dezember 2023 – L 2 SO 843/23 – juris Rdnrn. 28 f.).

Weiter ist der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2018 formell rechtmäßig. Er ist nach Anhörung der Klägerin ergangen und genügt den Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit eines Verwaltungsakts (vgl. § 33 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]). Das Bestimmtheitserfordernis verlangt, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsakts nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen muss, sein Verhalten daran auszurichten (BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 196/11 R –, SozR 4-1300 § 33 Nr. 2, juris Rdnr. 16 m.w.N.). Ein Bescheid über den Kostenersatz durch Erben nach § 102 SGB XII genügt dabei den Bestimmtheitsanforderungen, wenn der Adressat des Verwaltungsakts die Höhe der Haftungsschuld erkennen kann (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 2010 – B 8 SO 2/09 R –, SozR 4-5910 § 92c Nr. 1, juris Rdnr. 11). Dies ist vorliegend der Fall, auch wenn der Bescheid vom 18. Juni 2018 einen konkreten vorangestellten Verfügungssatz vermissen lässt und die Verpflichtung der Klägerin dahingehend formuliert, dass diese zum Ersatz der aufgewandten Kosten in Höhe von 105.122,94 Euro verpflichtet „wäre“. Denn der Beklagte hat die tatsächliche Ersatzforderung im Übrigen hinreichend deutlich gemacht, indem er insbesondere auf seine Verpflichtung zur Geltendmachung des Anspruchs hingewiesen und hervorgehoben hat, dass keine Gründe ersichtlich seien, die ein Absehen von der Kostenerstattung rechtfertigen würden. Inwieweit wegen der engen Verzahnung von § 33 SGB X und § 35 SGB X aus dem Bescheid erkennbar sein muss, dass ein Ersatzanspruch gegen den Erben geltend gemacht wird, kann dahingestellt bleiben, weil der Beklagte die Klägerin ausdrücklich als Erbin in Anspruch genommen hat. Ein Ermessensfehler in der Auswahl des Ersatzpflichtigen ist vorliegend bereits deswegen nicht gegeben, da einzig die Klägerin Erbin des Leistungsberechtigten geworden ist und mithin keine Auswahl zu treffen gewesen ist.

Der Beklagte hat den Kostenersatz allerdings unzutreffend beziffert. Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 SGB XII besteht die Ersatzpflicht für die Kosten der Sozialhilfe, die innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII übersteigen. Die Zehnjahresfrist bemisst sich dabei nach § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB, so dass das mit dem Tag des Erbfallseintritts gleichlautende Datum zehn Jahre vorher maßgebend (Wendtland in Ehrmann u.a., 3. Aufl. 2023, SGB XII § 102 Rdnr. 11) und hier mithin als Fristbeginn der 2005 zugrunde zu legen ist. Der Beklagte hat dagegen den 19. Mai 2005 als Fristbeginn angesetzt und die aufgewandten Kosten mit 105.122,95 Euro beziffert. Bei Ansatz des 2005 ergibt sich dagegen ein Betrag von 105.150,95 Euro, wobei sich der Senat zur Berechnung insbesondere auf die dem Bescheid vom 18. Juni 2018 beigefügte Aufwandszusammenstellung stützt, an der er im Übrigen keinen Anlass zu zweifeln hat und die auch klägerseits nicht konkret in Zweifel gezogen worden ist. Auf der anderen Seite hat der Beklagte zwar darauf hingewiesen, dass die Ersatzpflicht nur für die den dreifachen Grundbetrag nach § 85 Abs. 1 SGB XII übersteigenden Sozialhilfeaufwendungen bestehe, diesen Betrag – im Jahr 2015 2.394,00 Euro – aber nicht von der Ersatzforderung in Abzug gebracht. Bei diesem Betrag handelt es sich jedoch um einen echten Freibetrag, der von der Ersatzpflicht ausgenommen ist (Jenak in beckOGK, Hrsg. Knickrehm u.a., Stand 1. März 2024, SGB XII § 102 Rdnr. 40), so dass der Kostenersatzanspruch vorliegend mit 102.756,95 Euro zu bemessen ist.

Die von dem Beklagten an den Leistungsberechtigten erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe sind auch rechtmäßig erbracht worden, wobei insoweit lediglich maßgeblich ist, ob dem Leistungsberechtigten die fraglichen Leistungen nach den materiell-rechtlichen Vorschriften des SGB XII zugestanden haben, während reine Formverstöße ohne Bedeutung sind (BSG, Urteil vom 23. März 2010 – B 8 SO 2/09 R –, SozR 4-5910 § 92c Nr. 1, SozR 4-3500 § 102 Nr. 1, juris Rdnr. 17). Vorliegend hat der Beklagte dem Leistungsberechtigten, bei dem eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (ICD-10: F20.0) vorlag, in nicht zu beanstandender Weise für seinen Besuch des Arbeitsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen vom 5. Juni 2002 bis zum 31. Oktober 2014 Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß § 19 Abs. 3 i.V.m. §§ 53, 54 SGB XII, § 41 Abs. 1 SGB IX in der Fassung vom 27. Dezember 2003 (a.F.) erbracht. Vermögen ist hierbei von dem Leistungsberechtigten nicht einzusetzen (§ 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Abs. 2 Satz 2 SGB XII a.F.) und aus dem Einkommen lediglich ein – von dem Beklagten berücksichtigter – Kostenbeitrag für das Mittagessen zu fordern gewesen (§ 92 Abs. 2 Satz 4 und 5 SGB XII a. F.). Soweit klägerseits geltend gemacht wird, dass dem Leistungsberechtigten unbekannt gewesen wäre, dass er Leistungen der Sozialhilfe, hier in Form von Eingliederungshilfe, erhalten habe, vermag dies – ungeachtet der Frage, ob hieraus eine Rechtswidrigkeit der im fraglichen Zeitraum nicht antragsabhängigen Leistungen folgen würde – bereits deswegen nicht zu überzeugen, da der Leistungsberechtigte die Leistungen selbst am 10. Mai 2002 beantragt hat und auch im Weiteren in wiederholtem Schriftverkehr mit der Beklagten bezüglich der Leistungen gestanden hat.

Die Geltendmachung des Kostenersatzes ist gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB XII auf den Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalls beschränkt. Ausweislich des Erbschaftssteuerbescheides des Finanzamts F1-Land vom 19. Dezember 2017 betrug der Reinnachlass des Leistungsberechtigten nach Abzug der Nachlassverbindlichkeiten 210.196,00 Euro, so dass auch bei Berücksichtigung der von der Klägerin zu entrichtenden Erbschaftssteuer von 12.111,00 Euro ein zur Deckung des Kostenersatzes ausreichender Nachlass vorhanden gewesen ist.

Die Geltendmachung des Kostenersatzes ist auch nicht nach § 102 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen, da der Wert des Nachlasses – wie gezeigt – über dem Dreifachen des Grundfreibetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII gelegen hat, dieser auch den Wert von nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII maßgeblichen Betrag von 15.340,00 Euro überstiegen hat – weswegen dahinstehen kann, ob der Leistungsempfänger vor seinem Tod nicht nur vorübergehend mit der Klägerin in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat und diesen gepflegt hat, wofür der Senat allerdings keine Anhaltspunkte hat – und schließlich das Vorliegen einer besonderen Härte nicht ersichtlich ist und auch nicht geltend gemacht worden ist.

Der Anspruch des Beklagten auf Kostenersatz gegen die Klägerin ist schließlich auch nicht erloschen.

Gemäß § 102 Abs. 4 Satz 1 SGB XII erlischt der Anspruch auf Kostenersatz in drei Jahren nach dem Tod der leistungsberechtigten Person, ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners. Nach § 103 Abs. 3 Satz 2 SGB XII, den § 102 Abs. 4 Satz 2 SGB XII für entsprechend anwendbar erklärt, gelten für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des BGB sinngemäß.

Vorliegend ist der Leistungsberechtigte 2015 verstorben, weswegen der Kostenersatzanspruch des Beklagten nach § 102 Abs. 4 Satz 1 SGB XII hätte mit Ablauf des 2018 erlöschen können. Die Erlöschensfrist ist jedoch durch die zwischen den Beteiligten jedenfalls seit dem Zugang des Bescheides vom 21. März 2018 aufgrund der zwischen den Beteiligten schwebenden Verhandlungen gemäß § 102 Abs. 4 Satz 2, § 103 Abs. 3 Satz 2 SGB XII i.V.m. § 203 BGB gehemmt gewesen.

Wie bereits des SG ausgeführt hat, ist der Begriff der Verhandlungen weit auszulegen. Der Gläubiger muss nur klarstellen, dass er einen Anspruch geltend machen und worauf er ihn stützen will. Im Hinblick auf den Schuldner genügt es, wenn er deutlich macht, sich auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang einzulassen. Der ernsthafte Meinungsaustausch über den Anspruch und seine tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen genügt dem Begriff der Verhandlung (Meller-Hannich in BeckOGK, Hrsg. Gsell u.a., Stand 1. Juli 2024, BGB § 203 Rdnr. 16). Bei bloßen Aufforderungen des Berechtigten fehlt es an einem Verhandlungselement (Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 20. Februar 2001 – VI ZR 179/00 –, juris). Fragt der Schuldner aber nach, welche Ansprüche geltend gemacht werden, beginnen Verhandlungen (BGH a.a.O.; Schmidt-Räntsch in Erman, BGB, § 203, 17. Auflage 2023, Rn. 5c). Genauso liegt es, wenn der Schuldner sich nach anfänglicher Ablehnung wieder gesprächsbereit zeigt (Schmidt-Räntsch a.a.O.). Verhandlungen schweben danach also schon dann, wenn der Verpflichtete Erklärungen abgibt, die den Geschädigten zu der Annahme berechtigen, der Verpflichtete lasse sich jedenfalls auf Erörterungen über die Berechtigung von Schadensersatzansprüchen ein. Nicht erforderlich ist, dass dabei eine Vergleichsbereitschaft oder eine Bereitschaft zum Entgegenkommen signalisiert wird (vgl. BGH a.a.O., Rdnr. 13 m.w.N.). Dabei wirkt bei schwebenden Verhandlungen die Hemmung grundsätzlich auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Gläubiger seinen Anspruch gegenüber dem Schuldner geltend gemacht hat (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2013 – IX ZR 120/11 –, juris Rdnr. 2; Anschluss an BGH, Urteil vom 11. November 1958, VI ZR 231/57, VersR 1959, 34, 36; vom 13. Februar 1962, VI ZR 195/61, VersR 1962, 615). Im Rahmen des § 102 SGB XII ist dabei auch zu berücksichtigen, dass gem. § 102 Abs. 4 Satz 2 SGB XII i.V.m. § 103 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XII die Verjährungsregelungen des BGB entsprechend anzuwenden sind, d.h. sie müssen nach Sinn und Zweck des sozialhilferechtlichen Kostenersatzanspruchs inkorporiert werden (vgl. zu § 202 SGG Fock/Schreiber in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 202 Rdnr. 6). Insofern ist bei der Auslegung des Begriffs der Verhandlungen einzubeziehen, dass der Beklagte nicht frei über die Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs befinden kann, ihm hierzu das Mittel des Verwaltungsaktes vorgegeben ist und ihm diesbezüglich auch Amtsermittlungspflichten auferlegt sind (§ 20 SGB X). Die Einhaltung dieser Maßgaben steht daher nach Auffassung des Senats der Annahme von Verhandlungen nicht entgegen, sondern folgt aus dem Wesen des sozialhilferechtlichen Kostenersatzanspruchs.

Es kann dahinstehen, ob als Verhandlungsbeginn bereits das Schreiben des Beklagten vom 2. Januar 2018 in Betracht kommt, nachdem auf dieses (zunächst) keine Reaktion der Klägerin erfolgte. Jedenfalls mit dem Bescheid vom 21. März 2018 – mit dem der Beklagte die Klägerin unter Androhung eines Zwangsgeldes dazu aufgefordert hat, Auskunft über den Nachlass des Leistungsberechtigten zu erteilen und auch auf die von dem Leistungsberechtigten bezogenen Leistungen sowie die Prüfung eines Kostenersatzes hingewiesen hat – haben Verhandlungen zwischen den Beteiligten begonnen, nachdem die Klägerin hierauf mit dem Widerspruch vom 15. April 2018 reagiert hat. Entgegen der Auffassung des SG kann das Widerspruchsschreiben vom 15. April 2018 nicht als eine bloße Verweigerung von Verhandlungen gewertet werden, denn die Klägerin hat in diesem nicht lediglich den Bezug von Eingliederungshilfeleistungen durch den Leistungsberechtigten verneint, sondern zunächst eine genaue Aufschlüsselung der von dem Beklagten zitierten Forderungen angefordert und mitgeteilt, vorher würden auch keine Formulare oder Erhebungsbögen eingesandt. Hierin liegt jedoch keine Ablehnung von Verhandlungen, sondern ein Eingehen auf den Bescheid vom 21. März 2018 und Stellung einer Bedingung für die weitere Mitwirkung und somit die Fortführung von Verhandlungen.

Selbst wenn man aber in dem Widerspruchsschreiben der Klägerin vom 15. April 2018 ein reines Ablehnen von Verhandlungen sehen wollte, hat der Beklagte die Klägerin erneut mit dem Schreiben vom 24. April 2018, mit welchem der Ersatzanspruch erläutert wurde, auf Verhandlungen hingewirkt, worauf die Klägerin auch mit der Übersendung der gewünschten Unterlagen mit dem am 14. Mai 2018 zugegangenen Schreiben vom 10. Mai 2018 reagiert hat. Auch in diesem Fall ist eine Hemmung der Erlöschensfrist nach § 102 Abs. 4 SGB XII aufgrund schwebender Verhandlungen eingetreten.

Während dieser Hemmung der Erlöschensfrist hat der Beklagte den Kostenersatzbescheid vom 18. Juni 2018 erlassen, welcher zu einer weiteren und – durch das sich anschließende vorliegende Gerichtsverfahren – fortdauernden Hemmung geführt hat (§ 102 Abs. 4 Satz 2, § 103 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XII i.V.m. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB).

Die Kostenentscheidung beruht, da Klägerin und Beklagter nicht gemäß § 183 SGG kostenprivilegiert sind (vgl. BSG, Urteil vom 27. Februar 2019 – B 8 SO 15/17 R – juris Rdnr. 28), auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Der Senat hat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens aufgrund des nur geringfügigen Unterliegens des Beklagten von einer Kostenquotelung abgesehen (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG) liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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