Der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 1. Oktober 2020 wird aufgehoben.
Das Sozialgericht Neuruppin ist örtlich zuständiges Gericht der bei dem Sozialgericht Neuruppin zum Aktenzeichen S 14 SO 75/20 erhobenen Klage.
G r ü n d e
I.
Die Klägerin hat am 22. September 2020 bei dem Sozialgericht Neuruppin Klage gegen den Landkreis Oberhavel erhoben (S 14 SO 75/20). Dabei führte sie in der Klageschrift ausdrücklich an, das Sozialgericht Neuruppin sei zuständig. Denn sie lebe seit etwa einem Jahr in der Gemeinde G/N (Landkreis Oberhavel) als Mieterin in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, deren genaue Adresse sie auch angab. Aus Gründen des „Daten- und Gewaltschutzes“ solle postalisch aber eine von ihr angegebene Berliner Anschrift verwendet werden.
Unter dem 25. September 2020 hörte das Sozialgericht die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verweisung an das Sozialgericht Berlin an; für eine Stellungnahme wurde eine Frist von sechs Tagen eingeräumt. Mit Beschluss vom 1. Oktober 2020 erklärte das Sozialgericht Neuruppin sich sodann für örtlich unzuständig und verwies das Verfahren an das Sozialgericht Berlin (Aktenzeichen dort: S 146 SO 1401/20) mit der Begründung, die Klägerin habe ausweislich der Klageschrift ihren Wohnsitz in Berlin.
Ein gleichzeitig von der Klägerin beim Sozialgericht Neuruppin gestelltes einstweiliges Rechtsschutzverfahren wurde ebenfalls an das Sozialgericht Berlin verwiesen, welches in der Folge dieses Verfahren dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt hat; die Verweisung sei willkürlich.
Mit Beschluss vom 8. Februar 2021 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (L 15 SF 25/21) für das einstweilige Rechtschutzverfahren das Sozialgericht Neuruppin zum zuständigen Gericht bestimmt. Die Verweisung, da willkürlich, sei nicht bindend. Das Sozialgericht Neuruppin sei zuständig. Zwar sei die Klägerin in Berlin gemeldet. Diese Anschrift sei jedoch lediglich eine Postadresse. Der Wohnsitz der Klägerin sei hingegen eindeutig die Gemeinde G/N, die Klägerin habe ihre Wohnsituation nachvollziehbar geschildert. Für sich genommen, führe dies dennoch nicht zum Wegfall der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses. Denn das verweisende Gericht könnte möglicherweise den Begriff des Wohnsitzes verkannt und irrig angenommen haben, dass eine Postanschrift den Wohnsitz begründe. Hier komme aber hinzu, dass die Verweisung unter Verstoß gegen rechtliches Gehör ergangen sei. Der Vortrag der Klägerin sei ersichtlich nicht zur Kenntnis genommen worden.
Zu der hier in Rede stehenden Klage S 146 SO 1401/20 hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 5. August 2024 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg beantragt, die örtliche Zuständigkeit zu bestimmen. Zur Begründung verweist es auf den im einstweiligen Rechtschutzverfahren ergangenen Beschluss des Landessozialgerichtes vom 8. Februar 2021 (L 15 SF 25/21).
II.
1. Das Landessozialgericht ist als nächsthöheres gemeinsames Gericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts berufen, § 58 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Mit dem Sozialgericht Neuruppin und dem Sozialgericht Berlin sind zwei Sozialgerichte betroffen, die in dem Gerichtsbezirk des Landessozialgerichts ihren Sitz haben.
2. Auf den Antrag des Sozialgerichts Berlin auf Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichtes gemäß § 58 SGG ist das Sozialgericht Neuruppin als zuständiges Gericht zu erklären.
a. Nach dem allein in Betracht kommenden § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGG wird das innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit zuständige Gericht durch das gemeinsam nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Dies ist hier der Fall. Das Sozialgericht Neuruppin und das Sozialgericht Berlin halten sich beide für unzuständig.
Aus dem Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 1. Oktober 2020 ergibt sich, dass dieses Gericht das Sozialgericht Berlin für die Klage als örtlich zuständig ansieht, § 98 Satz 2 i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Das Sozialgericht Berlin hat sich mit dem Antrag an das Landessozialgericht nach § 58 SGG ebenfalls für unzuständig erklärt; eine förmliche „Rückverweisung“ an das abgebende Gericht ist für einen Antrag auf Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nicht erforderlich (Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 3. Dezember 2010 – B 12 SF 7/10 S –, Rn. 2, juris).
b. Das Sozialgericht Neuruppin ist örtlich zuständiges Gericht. Sein Verweisungsbeschluss vom 1. Oktober 2020 ist nicht bindend.
Nach § 98 Satz 2 SGG i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher Unzuständigkeit bindend für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist.
Die Bindungswirkung bei Verweisungen wegen örtlicher (oder sachlicher) Unzuständigkeit tritt grundsätzlich auch dann ein, wenn die Verweisung unrichtig gewesen sein sollte (BSG, Beschluss vom 14. Juni 2023 – B 11 SF 5/23 S –, juris Rn. 2; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. März 1988 - 1 A 23.85 -, juris Rn. 15; Beschlüsse vom 10. April 2019 - 6 AV 11.19 -, juris Rn. 9 und vom 10. März 2016 - 6 AV 1.16 -, juris Rn. 4 - jeweils zu der gleichlautenden Parallelvorschrift § 83 Verwaltungsgerichtsordnung -; siehe auch Wehrhahn, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand: 15.06.2022, § 98 SGG Rn. 24 ff; Haupt, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Auflage, § 98 SGG Rn. 9). Den Streit über die örtliche Zuständigkeit zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrundeliegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts (so BSG, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - B 12 SF 7/10 S -, juris Rn. 4), weil Verweisungen wegen örtlicher und sachlicher Unzuständigkeit gemäß § 98 Satz 2 SGG nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können (anders Rechtswegverweisungen, siehe § 17 Abs. 4 Satz 3 GVG).
Hiervon ist jedoch eine Ausnahme zu machen. Wenn es sich um einen offensichtlich unhaltbaren, objektiv unverständlichen oder sonst nicht mehr zu rechtfertigenden Verweisungsbeschluss handelt, wenn also Willkür vorliegt, kann dies in dem Verfahren nach § 58 SGG korrigiert werden (vgl. BSG, Beschlüsse vom 10. März 2010 – B 12 SF 2/10 S –, vom 16. September 2009 – B 12 SF 7/09 S – und vom 8. Mai 2007 – B 12 SF 3/07 S –, jeweils juris; siehe auch Wehrhahn, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, a. a. O. Rn. 27; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Januar 2024, § 83 Rn. 16 zu der Parallelvorschrift § 83 VwGO).
Willkür liegt vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird, wenn also die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr vertretbar ist. Eine willkürliche Missdeutung ist jedoch nicht gegeben, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273, 278; 112, 185, 216; stRspr). Dabei kommt es darauf an, ob die Entscheidung im Ergebnis nicht vertretbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10 März 2022 – 1 BvR 484/22 –, juris Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juli 2023 – 1 BvR 600/19 1 BvR 484/22 , Rn. 31). Es ist also nicht zu prüfen, ob die Entscheidung vom Fachgericht zutreffend begründet worden ist, sondern ob sie begründbar ist. Nicht erforderlich ist, dass das Gericht sich bewusst über eine Rechtsnorm hinweggesetzt hat, es genügt, dass die Entscheidung objektiv willkürlich ist. Folgerichtig kann objektive Willkür auch ohne weiteres vorliegen, wenn dem Gericht versehentlich ein nachvollziehbarer Fehler unterlaufen ist (BSG, Beschlüsse vom 14. Juni 2023 – B 11 SF 5/23 S – und vom 22. Februar 2023 – B 11 SF 1/23 S –, Rn. 8; anders noch Beschluss vom 5. Januar 2017 – B 4 SF 40/16 S –, jeweils juris).
Ein solcher Fall einer willkürlichen Verweisung liegt hier vor. Die Verweisung ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar.
Örtlich zuständig ist gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG das Gericht, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz oder Wohnsitz oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthaltsort hat; steht er in einem Beschäftigungsverhältnis, so kann er auch vor dem für den Beschäftigungsort zuständigen Sozialgericht klagen.
Der in diesem Fall zuständigkeitsbegründend allein in Betracht kommende Wohnsitz ist nach einheitlicher Rechtsprechung (vgl. etwa BSGE 49, 253 oder BSG, Beschluss vom 10. März 2010 – B 12 SF 2/10 S –, juris) und der übereinstimmenden Auffassung in der Kommentarliteratur (etwa Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 57 Rn. 6; Böttiger, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Auflage, § 57 Rn. 5; Groth, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 57 SGG [Stand: 15.06.2022], Rn. 29 ff; Schenk, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Januar 2024, § 52 Rn. 39 zu § 52 VwGO) der Ort, in dem jemand eine Wohnung als Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Eine ordnungsbehördliche Meldung ist hierfür nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 16. April 2013 – B 14 AS 81/12 R –, juris Rn. 17; Groth, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 57 SGG [Stand: 15.06.2022] Rn. 36). Umgekehrt genügt eine ordnungsbehördliche Meldung nicht. Denn diese macht für sich genommen einen Ort nicht zum Mittelpunkt der Lebensbeziehungen; entscheidend ist stets die vom Kläger bewohnte Wohnung. Gleiches gilt für eine Anschrift. Die Möglichkeit, an einem Ort über eine bestimmte Adresse Post zu erhalten, macht den Ort der postalischen Anschrift nicht zu einer eigenen Wohnung.
Nach diesen Maßgaben ist das Sozialgericht Neuruppin für die Klage zuständig. Die Klägerin wohnte zum Zeitpunkt des Verweisungsbeschlusses am 1. Oktober 2020 (wie schon bei Klageerhebung am 22. September 2020) in G/N und damit im Bereich des Sozialgerichts Neuruppin. Dies steht zur vollen Überzeugung des Gerichtes fest. Die Klägerin hat dem Sozialgericht Neuruppin einen sogenannten „Untermietvertrag“ über die Wohnung in G/N mit zwei Zimmern sowie eine Wohnungsgeberbescheinigung vorgelegt. Sie hat auch nachvollziehbar dargelegt, dass sie in Berlin gerade keine Wohnung mehr habe, aber vor dem Hintergrund bestimmter familiärer Auseinandersetzungen ihre neue Adresse nicht verwenden wolle, die Post solle sie vielmehr über eine bestimmte Vertrauensperson im Berlin erhalten. Vor diesem Hintergrund entbehrt die Annahme, das Sozialgericht Neuruppin, in dessen Bezirk der Landkreis Oberhavel mit der Gemeinde G/N liegt, sei für die Klage nicht zuständig, jeder rechtlichen Grundlage (zu der Zuordnung des Landkreises Oberhavel an das Sozialgericht Neuruppin siehe § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Brandenburgisches Sozialgerichtsgesetz); der Verweisungsbeschluss ist objektiv evident gesetzeswidrig (vgl. auch BSG, Beschluss vom 22. Februar 2023 – B 11 SF 1/23 S –, juris für den Fall der Verweisung an ein wegen fehlenden Wohnsitzes örtlich unzuständiges Gericht unter Wegfall der Bindungswirkung von § 98 Satz 2 SGG).
Willkür ist hier auch nicht deshalb zu verneinen, weil sich das Gericht bei der Verweisung mit den in Betracht kommenden Rechtsnormen und der herrschenden Ansicht hierzu ernsthaft auseinandergesetzt hat und dann von einem eigenen Wohnsitzbegriff ausgegangen ist. Das übernehmende Gericht ist an die Verweisung auch dann gebunden, wenn sich das abgebende Gericht zwar der herrschenden Meinung der Rechtsprechung entgegenstellt, sich aber mit dieser eingehend auseinandersetzt und auf dieser Grundlage eine neue, aber doch noch vertretbare Gegenposition entwickelt; wäre dies nicht möglich, drohte das Recht zu erstarren. Vorliegend hat das Sozialgericht jedoch ausweislich der knappen Gründe des Verweisungsbeschlusses keinerlei neues Verständnis, was als Wohnsitz i. S. des § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG zu verstehen ist, dargelegt und sodann darunter subsumiert, sondern schlicht und ohne weitere Ausführungen allein wegen der Anschrift der Klägerin auf einen vermeintlichen „Wohnsitz in Berlin“ abgestellt. Ohne dass das Gericht ein mögliches neues Verständnis im Einzelnen darlegt und entwickelt, kann von vornherein nicht eingeschätzt werden, ob eine möglicherweise vorstellbare neue Auffassung noch als vertretbar angesehen werden kann.
Abgesehen davon, wäre auch der Begriff des Wohnsitzes in § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG verkannt, wenn nicht auf die „eigenen vier Wände“, sondern ausschließlich auf postalische Erreichbarkeit, ordnungsbehördliche Meldung, Postfach, E-Mail-Adresse oder dergleichen mehr abgestellt werden würde. Dies wäre weder mit dem Wortlaut noch der Systematik oder mit Sinn und Zweck von § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG zu vereinbaren und deshalb unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar.
Klarstellend ist der Verweisungsbeschluss aufzuheben.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.