S 5 AY 11/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
Abteilung
5
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 AY 11/21
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AY 76/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I.   Der Bescheid des Beklagten vom 19.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.2021 wird für den Dezember 2019
   aufgehoben.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Der Beklagte hat den Klägern 1/5 der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

IV. Für die Kläger wird die Berufung zugelassen.


Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) von 01.12.2019 bis 31.07.2020; dabei geht es um Leistungen nach § 2 AsylbLG für den Zeitraum von 01.12.2019 bis 30.04.2020 (anstelle von Leistungen nach § 1a AsylbLG) und um Leistungen von 01.05.2020 bis 31.07.2020 (anstelle von Leistungen nach § 3 AsylbLG).

Die Kläger - der Kläger zu 1. geboren am xx.xx.xxxx), die Klägerin zu 2. geboren am (xx.xx.xxxx) - sind p. Staatsangehörige; sie haben die gemeinsamen Kinder
 U. (geb. xx.xx.xxxx) , D. (geb.xx.xx.xxxx) und S.B. (geb. xx.xx.xxxx). Die Kläger halten sich seit September 2012 im Bundesgebiet auf. Sie sind Inhaber von Duldungen. Zuletzt bezogen sie Analogleistungen gem. § 2 AsylbLG, bewilligt mit Bescheid des Beklagten vom 21.03.2019 (für den Zeitraum von 01.01.2019 bis 31.12.2019 in Höhe von zuletzt 1.436,27 € (Bl. 455 der Akten des Beklagten).

Mit Formblatt-Schreiben 09.10.2019 teilte das Sachgebiet Personenstands- & Ausländerwesen des Beklagten dem Sozialamt mit, die Leistungsberechtigten hätten eine Duldung (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylblG) und aufenthaltsbeendende Maßnahmen könnten aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden (Blatt 497 der Akten des Beklagten).

Der Beklagte teilte jeweils mit Anhörungsschreiben vom 28.10.2019 (Blatt 498 der Akten des Beklagten) den Klägern mit, er beabsichtige, laufende Leistungen nach dem AsylbLG ab 01.12.2019 um 172,40 € gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG zu kürzen.

Die Kläger teilten mit Schreiben vom 13.11.2019 (Blatt 500 der Akten des Beklagten) mit, die gesamte Familie sei am 21.08.2019 in der p. Botschaft in Fr. gewesen, um die Reisepässe zu beantragen. Beigefügt waren ein Zugsticket und Nachweise über die Vorsprache im p. Generalkonsulat Fr..

Der Beklagte hielt in einem Vermerk vom 18.11.2019 fest, dass die Kläger in der Botschaft zwar vorgesprochen bitten, jedoch keine Reisepässe beantragt und kein "NICOP-Verfahren" eingeleitet hätten.

Der Beklagte teilte dem Kläger zu 1. unter dem 19.11.2019 mit, die Familie habe zwar am 02.08.2019 bei der p. Botschaft in Fr. vorgesprochen, doch seien damals wieder Reisepässe beantragt noch ein entsprechendes NICOP-Verfahren eingeleitet worden. Somit lägen die Voraussetzungen für eine Leistungskürzung ab 01.12.2019 gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG vor.

Mit Bescheid vom 19.11.2019 - adressiert nur an den Kläger zu 1. - hob der Beklagte den Bescheid vom 19.03.2019 (Bl. 509 der Akten des Beklagten) die Leistungen für die Kläger nach § 1a Abs. 3 AsylbLG ab 01.12.2019 gekürzt; zur Begründung teilte der Beklagte mit, die Kläger hätten bei der Beschaffung erforderlicher Heimreisedokumente nicht mitgewirkt oder Ausweisdokumente verloren bzw. vernichtet und seien ihrer Mitwirkungspflicht nach § 82 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht nachgekommen. Für die Kinder wurden Leistungen nach § 3 AsylbLG bewilligt. Die Höhe der Leistungen betrage 1.057,76 €, wovon 200,00 € (jeweils 100,00 € für die Kläger) in Form von Lebensmittel-Gutscheinen gewährt würden.

Mit Bescheid 05.12.2019 (Bl. 516 der Akten des Beklagten) teilte der Beklagte den Klägern mit, ab 01.01.2020 betrage der Leistungsbetrag 1.132,20 €, wovon 932,20 € als Geldleistung und 200,00 € (jeweils 100,00 € für die Kläger) in Form von Lebensmittel-Gutscheinen gewährt würden

Gegen den Bescheid vom 19.11.2019 erhob die Bevollmächtigte - formal nur für den Kläger zu 1, aber gegen den gesamten Bescheid - mit Schriftsatz vom 13.12.2019 Widerspruch, der zunächst - weil elektronisch erhoben - nicht zu den Akten des Beklagten gelangte. Die gesamte Familie habe am 21.08.2019 bei der p. Botschaft Reisepässe beantragt. Sollte bis zum 18.12.2019 keine Abhilfeentscheidung vorliegen, werde ein Eilantrag bei Gericht gestellt werden.

Mit Schreiben vom 20.12.2019, das beim Sozialgericht Nürnberg an diesem Tag einging, stelle die Prozessbevollmächtigte der Kläger einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (S 5 AY 47/19 ER). Zur Begründung führte sie aus, die gesamte Familie habe am 21.08.2019 bei der p. Botschaft in Fr. vorgesprochen und Reisepässe beantragt. Dies sei dem Antragsgegner mitgeteilt worden. Eine Leistungseinschränkung bezüglich der Kinder sei ohnehin nicht gerechtfertigt.

Im Zuge dieses Verfahrens wurde dem Beklagten der Widerspruch vom 13.12.2019 positiv bekannt (Heftung I, Seite 1 der Akten des Beklagten). Mit Bescheid vom 30.12.2019 teilte der Beklagte dem Kläger zu 1. mit, aufgrund der erfüllten Voraussetzungen gemäß § 2 AsylbLG würden Leistungen in Höhe von 783,71 € für Dezember 2019, in Höhe von 800,71 € von Januar bis November 2020 und in Höhe von 855,72 € von Dezember 2020 bis Dezember 2021 bewilligt; aus diesem Bescheid war nicht unmittelbar ersichtlich, dass die Bewilligungen ausschließlich die Kinder der Kläger betrafen und nur den Kindern (weiterhin) Leistungen nach § 2 AsylbLG bewilligt wurden.

Mit gesondertem Bescheid vom 30.12.2019 (Bl. 535 der Akten des Beklagten) teilte der Beklagte den Kläger mit, eine Aufteilung der Bedarfsgemeinschaft sei aus verwaltungstechnischen Gründen notwendig geworden. Die Kläger - unter Zurücknahme der Bescheide vom 19.11.2019 und 05.12.2019 - erhielten ab 01.12,2019 gekürzte Leistungen entsprechend § 1a Abs. 3 AsylbLG in Höhe von monatlich 307,76 €, wovon 107,76 € als Geldbetrag und 200,00 als Sachleistung (gemeint: Lebensmittel-Gutscheine) gewährt würden.

Dagegen erhob die Bevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 09.01.2020 Widerspruch ein (Heftung II, Seite 1 der Akten des Beklagten). Zur Begründung des Widerspruchs teilte die Bevollmächtigte der Kläger mit, die Klägerin zu 2. leide an einer schwerwiegenden posttraumatischen Belastungsstörung nach Vergewaltigungen im Kindesalter durch männliche Verwandte. Im Mai 2019 sei eine Einweisung ins B. notwendig geworden, da Suizidgefahr bestanden habe. Auch der älteste Sohn der Kläger sei psychisch erheblich belastet und schildere in der Therapie mehrmals gewaltsame Ereignisse in seinem Herkunftsland, sodass die behandelnden Ärzte und Therapeuten für den Fall der Rückkehr in das Herkunftsland eine erhöhte psychische Instabilität bis hin zu akuter Suizidalität nicht ausschließen könnten. Vor diesem Hintergrund erscheine es menschlich verständlich, dass die Kläger nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren wollten. Den Akten des Beklagten sei nicht zu entnehmen, dass seitens der Ausländerbehörde ein Verpflichtungsbescheid erlassen worden sei, um zu erwirken, dass die Kläger einen Pass beantragen. Bloße Hinweise auf ausländerrechtliche Pflichten ersetzten nicht konkrete Handlungsaufforderungen.

Mit Bescheid vom 06.04.2020 hob der Beklagte den Bescheid vom 30.12.2019 gemäß § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. mit § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) "ab 01.05.2020" auf und bewilligte den Klägern Leistungen nach § 3 AsylbLG (Bl. 604 der Akten des Beklagten) "vom 01.05.2020 bis 28.02.2021" in Höhe von 632,00 € (jeweils 316,00 €) sowie für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 30.04.2020 monatlich 113,20 € (jeweils 56,60 €; der Regelungsgehalt für diesen Zeitraum erschließt dem Gericht nicht, insbesondere ist nicht erkennbar, ob und aus welchen Gründen - zusätzliche/abweichende - Leistungen gegenüber dem Bescheid vom 30.12.2019 bewilligt aber nicht zur Auszahlung gebracht werden).

Mit Bescheid vom 29.07.2020 hob der Beklagte den Bescheid vom 06.04.2020 gemäß § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. mit § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) "ab 01.08.2020" auf und bewilligte den Klägern wieder nur Leistungen nach § 1a AsylbLG (Bl. 647 der Akten des Beklagten) "vom 01.08.2020 bis 31.01.2021" in Höhe von 313,20 € (jeweils 56,60 € als Geldleistung und jeweils 100,00 € als Sachleistung/gemeint: Lebensmittel-Gutscheine).

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.2021 (Heftung III, Seite 2 der Akten des Beklagten)
 wies die Regierung von Mittelfranken die Widersprüche der Kläger vom 13.12.2019 und 09.01.2020 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, unter dem Aktenzeichen 24-413/AM-26615 sei dem Widerspruch vom 13.12.2019 in Bezug auf die Kinder der Kläger abgeholfen worden. Die Bescheide vom 19.11.2019 und 05.12.2019 seien zurückgenommen und den Kindern der Kläger rückwirkend für den Zeitraum vom 01.12.2019 bis 31.12.2021 Leistungen nach § 2 AsylbLG gewährt worden. Die Kläger seien als Inhaber von Duldungen leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG. Sie seien mit Schreiben der Ausländerbehörde des Beklagten aufgefordert worden, bis zum 16.08.2019 durch die Beantragung eines Passes oder Passersatzes ihre Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung der erforderlichen Heimreisedokumente zu erfüllen. Die Kläger seien diesen Pflichten nicht nachgekommen. Behördlicherseits sei die Beschaffung der erforderlichen Unterlagen nicht möglich, den Klägern aber möglich und zumutbar. Die geltend gemachte psychische Belastung der Klägerin zu 2. bewirke keine Unzumutbarkeit der Passbeschaffung. Die eingereichten Unterlagen seien nicht geeignet, einen Abschiebungsschutz zu begründen.

Die Bevollmächtigte der Kläger hat mit Schriftsatz vom 18.02.2021, der elektronisch beim Sozialgericht Nürnberg an diesem Tag eingegangen ist, Klage erhoben; der Klageschrift beigefügt hat die Bevollmächtigte den Bericht der B. über den Sohn der Kläger U. (geb. xx.xx.xxxx), in dem bei diesem eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, eine mittelgradige depressive Episode und der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wird; ferner der Bericht der Psychotherapeutischen Praxis M.H. vom 28.11.2019, in dem der Klägerin zu 2. eine posttraumatische Belastungsstörung und eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome bescheinigt werden. Zur Begründung der Klage die Bevollmächtigte der Kläger ausgeführt, die Kläger hielten sich seit September 2012 im Bundesgebiet auf und bezögen seit dem Bescheid vom 12.04.2017 ab 01.01.2017 Analogleistungen. Mit Bescheid vom 19.11.19 habe der Beklagte die Leistungen für die Kläger gem. § 1a Abs. 3
AsylbLG gekürzt. Den Klägern werde vorgeworfen, bei der Passbeschaffung nicht mitzuwirken. Dagegen sei Widerspruch erhoben worden. Gegen den im Nachgang erlassenen Änderungsbescheid vom 30.12.2019 sei mit Datum vom 09.01.2020 ebenfalls Widerspruch eingelegt worden. Es sei eine ablehnende Widerspruchsentscheidung ergangen. Entgegen den Ausführungen in den angegriffenen Bescheiden sei keine Befristung auf 6 Monate erfolgt; es entsteht der Eindruck, dass die Leistungseinschränkung letztendlich unbefristet bis zum Verlassen des Landes verfügt werde und nur der Nachweis der Mitwirkung eine Änderung herbeiführen könne. Hierfür spreche auch die Verbescheidung in den nachfolgenden Änderungsbescheiden vom 05.12.2019 (Blatt 516 der Akten des Beklagten) mit dem die Leistungskürzung für den Zeitraum 01.12.2019 bis 31.12.2020 verbeschieden wurde und im Bescheid vom 30.12.2019 (Blatt 535 der Akten des Beklagten), in dem gekürzte Leistungen bis einschließlich Dezember 2021 ausgewiesen werden. In allen drei genannten Bescheiden werde ausgeführt, dass die Entscheidung über die Höhe der vorzunehmenden Leistungskürzung eine Ermessensentscheidung sei, die unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles getroffen wurde. Ermessenserwägungen und Umstände des Einzelfalles seien jedoch nicht wiedergegeben bzw. ausgeführt. Seitens des Beklagten seien zu keinem Zeitpunkt den Klägern konkrete Mitwirkungshandlungen auferlegt worden, sondern lediglich auf Mitteilungen der Ausländerbehörde verwiesen worden. Bloße Hinweise auf ausländerrechtliche Pflichten ersetzten nicht konkrete Handlungsaufforderungen. Hierzu sei verweisen auf die Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts (BayLSG, Beschluss vom 24.01.2013 - L 8 AY 2/12 B ER - : "Denn auch das AsylbLG kennt einen Mindestbestand an Verfahrensschutzvorschriften (vgl. § 9 Abs. 3 AsylbLG). Hierzu zählen eine vorherige Anhörung und in den Fällen des § 1a Nr. 2 AsylbLG eine Fristsetzung zur Erfüllung der dem leistungsberechtigten aufgegebenen Mitwirkungspflicht. Eine auf Grund einer bloßen Meldung der Ausländerbehörde ohne eigenständige Prüfung der Sozialbehörde vorgenommene Leistungseinschränkung ist rechtswidrig (Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII, 18. Auflage, § 1a AsylbLG, Rn. 41).; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (VGH A-Stadt, Urteil vom 11.12.2006 - 24 B 06.2158 -: "Auf der anderen Seite bestehen auch Pflichten der Ausländerbehörde, Ausreisehindernisse zu beseitigen bzw. hieran mitzuwirken. Die zuständige Behörde hat, wie dies auch § 82 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorgibt, den
Ausländer auf seine Pflichten hinzuweisen. Sie hat ihm also grundsätzlich mitzuteilen,
dass und in welchem Umfang er zur Erbringung von Handlungen verpflichtet ist. Diese
Hinweise müssen so gehalten sein, dass es für den Ausländer hinreichend klar erkenn-
bar ist, welche Schritte er zu unternehmen hat. Ein bloßer allgemeiner Verweis auf bestehende Mitwirkungspflichten oder die Wiedergabe des Gesetzestextes wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Daneben ist die Behörde auch gehalten, von sich aus das Verfahren weiter zu betreiben und auf weitere, dem Antragsteller gegebenenfalls nicht bekannte Möglichkeiten aufmerksam zu machen und diese Möglichkeiten mit dem Ausländer bei Bedarf zu erörtern (Anstoßpflicht). Auch der Behörde obliegt es im Übrigen nachzuweisen bzw. zu belegen, dass sie ihren Pflichten (Hinweispflicht und Anstoßpflicht) nachgekommen ist. Gelingt dies nicht, so spricht vieles dafür, dass das Bestehen eines Ausreisehindernisses nicht vom Ausländer zu vertreten ist".; BayLSG, Beschluss vom 25.03.2019 - L 8 A Y 3/19 B ER - (zu einem Sachverhalt zu § 1a Abs. 4): "... ist zu beachten, dass der Antragsgegner ununterbrochen seit 01.11 .2017 eine Sanktionierung der Antragstellerin nach § 1a AsylbLG vornimmt, ohne dass sich aus den Akten ergibt, welche jeweils besonderen Anforderungen an Sanktionierung gestellt werden. Selbst wenn § 14 Abs. 2 AsylbLG eine Fortsetzung der Anspruchseinschränkung bei fortbestehender Pflichtverletzung vorsieht, gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen vorsichtigen Umgang mit der dauerhaften Leistungseinschränkung (Siefert, Kommentar, AsylbLG, § 1a Rn. 46, § 14 Rn.8). Zwar enthält§ 14 AsylbLG keine zeitliche Obergrenze. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet aber spätestens dann von einer Verlängerung der Sanktionierung abzusehen, wenn der Zweck der Anspruchseinschränkung (eine Verhaltenssteuerung) überhaupt nicht mehr erreicht werden kann oder der Hilfeempfänger sein in der Vergangenheit liegendes Verhalten überhaupt nicht mehr ändern kann. Vor diesem Hintergrund sind auch weitere Sanktionierungen nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG bei noch anhängigem Verwaltungsgerichtsverfahren gegen den Bescheid des BAMF vom 24.07.2017 und ohne entsprechendes konkretes Ausreiseverlangen mit Zielabsprache mit vorheriger Zielabsprache den italienischen Behörden nicht verhältnismäßig". Die Klägerin zu 2. leide an einer schwerwiegenden posttraumatischen Belastungsstörung nach Vergewaltigungen im Kindesalter durch männliche Verwandte. Im Mai 2019 sei eine Einweisung ins B. notwendig geworden, da Suizidgefahr bestanden habe, was das beigefügte Attest belege. Auch das älteste Kind der Kläger sei psychisch erheblich belastet und schildere in der Therapie mehrmals gewaltsame Ereignisse in seinem Herkunftsland, so dass die behandelnden Ärzte und Therapeuten für den Fall der Rückkehr in Herkunftsland eine erhöhte psychische Instabilität bis hin zur akuten Suizidalität nicht ausschließen könnten, was dem beigefügten Bericht zu entnehmen sei. Vor diesem Hintergrund erscheine es menschlich verständlich, dass die Familie nicht ins Herkunftsland zurückkehren wolle.
§ 1a AsylbLG sei zudem verfassungswidrig. Im Hinblick auf die gegenüber den Leistungssystemen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ohnehin reduzierten Leistungen nach dem AsylbLG gebiete das Grundrecht auf die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine restriktive Auslegung des § 1a AsylbLG (Hohm a.a.O. § 1a Rn. 41 ff, Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider SGB XII Kommentar, 19. Auflage, § 1a AsylbLG a.F. Rn. 6, Oppermann a.a.O. § 1a Rn.77; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf SGB XII Kommentar, 5. Auflage § 1a AsylbLG (a.F.) Rn. 2, Birk in LPK SGB XII, 9. Auflage § 1a AsylbLG Rn. 1). Die Leistungen für Bekleidung könnten lediglich im Fall besonderer Umstände des Einzelfalls als Ermessensentscheidung erbracht werden. Dies sei mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar, da
die Sicherung des Existenzminimums als Anspruch auszugestalten ist und nicht als
Ermessenleistung (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 - Abs. Nr. 115). § 1a AsylbLG genüge nicht den Anforderungen des BVerfG, wie es sie in den Urteilen vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 aufgestellt habe. Die Kürzung des kompletten Barbedarfes sei verfassungswidrig, da der persönliche Barbedarf zum verfassungsmäßig garantierten Existenzminimum zähle (LSG NRW, Beschluss vom 24.04.2013 - L 20 AY 153/12 B ER; BayLSG, Beschluss vom 24.01.2013 - L 8 AY 4/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.12.2013 - L 15 AY 23/13 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27.03.2013 - L 3 AY 2/13 B PKH; LSG Hessen, Beschluss vom 06.01.2014 - L 4 AY 19/13 B ER). Darüber hinaus verstoße die Neufassung des § 1a AsylbLG gegen Art. 20 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013, welcher die Kürzungstatbestände abschließend regele.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 15.03.2021 ablehnend Stellung genommen. Nach den anfänglich ab 11.12.2012 gewährten Leistungen gem. § 3 AsylbLG (Akte l Blatt 303 -306) seien den Klägern ab 01.11.2015 Leistungen gem. § 2 AsylbLG (Akte l Blatt 382 ff.) bewilligt worden. Mit Schreiben vom 09.10.2019 habe die Ausländerbehörde im Landkreis N. mitgeteilt, dass die Kläger eine Duldung hätten und aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden könnten (Akte ll Blatt 497). Nach erfolgter Anhörung (Akte II Blatt 498 und 499) und nochmaliger Rücksprache mit der Ausländerbehörde (Akte II Blatt 500 unten) sei festgestellt worden, dass die Kläger bei der Mitwirkung ihrer Passbeschaffung völlig unzureichend mitwirkten, was den Klägern nochmals mitgeteilt worden sei (Akte II Blatt 509).
Daraufhin seien mit Bescheid vom 19.11.2019 für die Zeit ab 01.12.2019 (zunächst fortlaufend, jedoch auf jeweils 6 Monate befristet) Leistungen nach § 1a Abs. 3 bzw. Abs.2 AsylbLG gewährt worden (Akte II Blatt 510 bis 512). Aufgrund der ministeriellen Anweisung vom 26.03.2020 (Akte II Blatt 603) seien die eingeschränkten Leistungen ab 01.01.2020 (gemeint: 01.05.2020) wieder zurückgenommen und Leistungen gem. § 3 AsylbLG gewahrt worden (Akte II Blatt 604 - 606). Nach Rücksprache vom 16.07.2020 habe die Ausländerbehörde mitgeteilt, dass die Ursachen für die Kürzungsvoraussetzungen nach § 1a AsylbLG weiterhin gegeben seien (Akte II Blatt 642), woraufhin mit Bescheid vom 29.07.2020 für die Zeit ab 01.08.2020 wieder gekürzte Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG gewährt worden seien, zunächst ebenfalls 6 Monate lang (Akte IIl Blatt 647 bis 649). Auch nach Rücksprache vom 25.01.2021 sei dies für den weiter geltenden Zeitabschnitt mitgeteilt worden (Akte III Blatt 744), woraufhin weiterhin gekürzte Leistungen nach § 1a AsylbLG gewährt worden seien (Akte III Blatt 745 bis 747). Mit Schreiben vom 09.10.2019 habe das Ausländeramt mitgeteilt, dass die Antragsteller eine Duldung hätten und aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden könnten. Auf eine Anhörung zur beabsichtigten Leistungskürzung vom 28.10.2019 hätten die Antragsteller mit Schreiben vom 13.11.2019 zwar mitgeteilt, sie hätten bei der Passbeschaffung ausreichend mitgewirkt. Nach nochmaliger Rücksprache mit dem Ausländeramt habe sich jedoch herausgestellt, dass die Mitwirkung bei der Passbeschaffung völlig unzureichend gewesen sei

In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten vereinbart, dass über den Zeitraum von 01.12.2019 bis 31.07.2020 entschieden werden soll. Die Beteiligten sind sich einig, dass der Zeitraum ab 01.08.2020 bis 31.07.2022 zunächst ausgeklammert wird; die Beteiligten sind sich auch insoweit einig, dass der Ausgang des Verfahrens S 5 AY 11/21 - in den rechtlichen Aspekten - auch für diese Zeiträume maßgeblich sein soll. Über den erhobenen Widerspruch vom 22.04.2022 brauche zunächst nicht entschieden werden.


Die Kläger beantragen,

   Die Bescheide des Beklagten vom 19.11.2019, 05.12.19 und 30.12.2020 in der Gestalt
   des Widerspruchsbescheids vom 19.01.2021 werden dahingehend abgeändert, dass
   den Klägern Leistungen gem. § 2 AsylbLG analog SGB XII für den Zeitraum vom
   01.12.2019 bis 31.07.2020 bewilligt werden.
 
Der Beklagte beantragt,


   die Klage abzuweisen.


Das Gericht den Klägern mit Beschluss vom 06.04.2021 2000 Prozesskosten ohne Ratenzahlung bewilligt. Dem Gericht lagen die Akten des Beklagten vor. Auf den Inhalt dieser Akten unterschreiben den Beteiligten wird Bezug genommen. Das Gericht hat der Bevollmächtigten der Kläger (im Verfahren S 5 AY 47/19 ER) Akteneinsicht in die Beklagtenakten gewährt und im vorliegenden Verfahren in die Ergänzungsheftung.

Dem Gericht lag die Verfahrensakte S 5 AY 47/19 ER vor; darin enthalten ist der Schriftsatz der Bevollmächtigten der Kläger vom 15.01.2020, wonach mit den Klägern inzwischen geklärt habe werden können, dass es sich tatsächlich nur um einen "Besuch" bei der Botschaft gehandelt habe und Pass- oder Passersatzanträge tatsächlich nicht gestellt worden seien. Gleichwohl sei den Akten des Beklagten nicht zu entnehmen, dass seitens der Ausländerbehörde ein Verpflichtungsbescheid erlassen worden sei, um zu erwirken, dass die Kläger einen Pass beantragen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Die zulässige Klage ist nur zu einem geringen Teil (für Dezember 2019) begründet, im Übrigen (von Januar 2020 bis Juli 2020) aber nicht begründet.

Für den Leistungszeitraum Dezember 2019 beruht die Aufhebung des von den Klägern - insoweit mit der Anfechtungsklage - angegriffenen Bescheides des Beklagten vom 19.11.2019 auf § 9 Abs. 4 AsylbLG i.V.m. mit § 45 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), welcher entsprechend anzuwenden ist. Diese Vorschrift bestimmt, dass ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er sich als rechtswidrig erweist, nur unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden darf. Das Gericht hat die rechtliche Auffassung gewonnen, dass die Voraussetzungen des § 1a Abs. 3 AsylbLG bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides vom 21.03.2019, der ausdrücklich den Bewilligungszeitraum bis Dezember 2019 erfasst, vorgelegen haben (vgl. dazu unten). Der Bescheid des Beklagten vom 19.11.2019, der auf die Problematik des § 45 SGB X nicht eingeht und auch keinerlei Ermessensausübung erkennen lässt, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.2021 war daher für den Dezember 2019 aufzuheben.

Für den Zeitraum von Januar 2020 bis Juli 2020 war die Klage abzuweisen aus folgenden Gründen: Die Kläger sind zwar gemäß § 1 AsylbLG leistungsberechtigt, nach § 1a Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 AsylbLG kann aber "bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt" werden, wenn die gesetzlich vorgesehenen Kürzungstatbestände des § 1a AsylbLG erfüllt werden.

§ 1a AsylbLG in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung ab 21.08.2019 bzw. 01.09.2019 (durch Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019, BGBl. I, S. 1294-1306 [Veröffentlichungsdatum:    20.08.2019] und Drittes Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 13.08.2019 [mit Wirkung ab 01.09.2019]) lautet:

(1) Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 und Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 6, soweit es sich um Familienangehörige der in § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5 genannten Personen handelt, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, erhalten Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.
(2) Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 5, für die ein Ausreisetermin und eine Ausreisemöglichkeit feststehen, haben ab dem auf den Ausreisetermin folgenden Tag keinen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6, es sei denn, die Ausreise konnte aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden. Ihnen werden bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 gewährt werden. Die Leistungen sollen als Sachleistungen erbracht werden.
(3) Absatz 2 gilt entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Für sie endet der Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 mit dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag. Für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 6, soweit es sich um Familienangehörige der in Satz 1 genannten Personen handelt, gilt Absatz 1 entsprechend.
(4) Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 oder 5, für die in Abweichung von der Regelzuständigkeit nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) nach einer Verteilung durch die Europäische Union ein anderer Mitgliedstaat oder ein am Verteilmechanismus teilnehmender Drittstaat, der die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 anwendet, zuständig ist, erhalten ebenfalls nur Leistungen nach Absatz 2. Satz 1 gilt entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 oder 5, denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von Satz 1 internationaler Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, wenn der internationale Schutz oder das aus anderen Gründen gewährte Aufenthaltsrecht fortbesteht.
(5) Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 oder 7 erhalten nur Leistungen entsprechend Absatz 2 Satz 2 bis 4, wenn sie
1. ihrer Mitwirkungspflicht nach § 15 Absatz 2 Nummer 4 des Asylgesetzes nicht nachkommen,
2. ihre Mitwirkungspflicht nach § 15 Absatz 2 Nummer 5 des Asylgesetzes verletzen, indem sie erforderliche Unterlagen zu ihrer Identitätsklärung, die in ihrem Besitz sind, nicht vorlegen, aushändigen oder überlassen,
3. den gewährten Termin zur förmlichen Antragstellung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge oder dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht wahrgenommen haben oder
4. den Tatbestand nach § 30 Absatz 3 Nummer 2 zweite Alternative des Asylgesetzes verwirklichen, indem sie Angaben über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit verweigern,
es sei denn, sie haben die Verletzung der Mitwirkungspflichten oder die Nichtwahrnehmung des Termins nicht zu vertreten oder ihnen war die Einhaltung der Mitwirkungspflichten oder die Wahrnehmung des Termins aus wichtigen Gründen nicht möglich. Die Anspruchseinschränkung nach Satz 1 endet, sobald sie die fehlende Mitwirkungshandlung erbracht oder den Termin zur förmlichen Antragstellung wahrgenommen haben.

Im Hinblick auf die vorbezeichnete gesetzliche Regelung war vom Gericht konkret zu prüfen, ob der Beklagte die Voraussetzungen des § 1a Abs.3 AsylbLG zu Unrecht bejaht hat, ob also die Kläger "aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können" und ob diese Vorschrift aus anderen Gründen - etwa aufgrund des Verstoßes gegen höherrangiges Recht - vom Beklagten nicht hätte angewendet werden dürfen.

Unstrittig sind die Kläger (bestandskräftig) ausreisepflichtig. Sie sind im Rahmen der ausländerrechtlichen Vorschriften - ebenfalls unstrittig - verpflichtet, an der Beschaffung von Pass- bzw. Heimreisedokumenten mitzuwirken. § 95 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und § 56 Abs. 1 Nr. 1 und 2 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) ist zu entnehmen, dass ein Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet ist, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken, es sei denn es liegen Ausnahmen von der Passpflicht vor (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG oder § 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 AufenthG) Die Kläger haben ihre ausländerrechtliche Mitwirkungshandlung (bei einer nachgewiesenen Vorsprache beim p. Generalkonsulat in Fr. am 21.08.2019) zwar behauptet, aber tatsächlich weder Pässe noch Passersatzpapiere beantragt. Dies hat die Bevollmächtigte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (S 5 AY 47/19 ER) eingeräumt. Die Kläger waren zu dieser Mitwirkungshandlung einerseits gesetzlich verpflichtet, andererseits durch die Ausländerbehörde konkret und mit Fristsetzung aufgefordert worden. Damit können zur Überzeugung des Gerichts aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von den Klägern zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden. Eines darüber hinaus gehenden ausländerrechtlichen Verpflichtungsbescheides bedurfte es nicht. Nachdem die Kläger konkret über die vorbezeichneten Mitwirkungspflichten (ausländerrechtlich) belehrt waren und darüber hinaus die äußeren Abläufe (Fahrt zum p. Generalkonsulat in Fr. kannten), brauchte der Beklagte keine (zusätzliche) detaillierte Belehrung über die ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten gegenüber den Klägern vornehmen.

In der vorliegenden Fallkonstellation war es den Klägern zuzumuten, einen Pass oder Passersatz zu beantragen. Das gilt unabhängig davon, welche Gesundheitsstörungen die Klägerin zu 2. (bzw. der älteste Sohn der Kläger) haben. Die Verfahrensweise der Kläger, die durch die Verletzung der ausländerrechtlichen Mitwirkungsverpflichtungen die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland so lange wie möglich ausdehnen wollen und bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, ist zwar menschlich verständlich, aber im Ergebnis nicht hinnehmbar. Die ausländerrechtliche Verpflichtung zur Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten wird von den persönlichen Befindlichkeiten der Kläger nicht berührt. Insbesondere haben die Kläger kein ihnen zustehendes Recht auf eigenständige Prüfung, ob ggf. aus anderen Gründen, etwa gesundheitlichen Gründen, ein Aufenthalt nicht beendet werden könnte - und sie deshalb keine Heimreisedokumente beantragen brauchen. Vor allen Dingen steht ihnen nach Auffassung des Gerichts kein Recht zu, den Umfang ihrer ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten im Hinblick auf vorliegende Gesundheitsstörungen selbst zu bewerten. Die vorgelegten ärztlichen Unterlagen allein sind nach Auffassung des Gerichts nicht geeignet die ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten entfallen zu lassen noch gar einen Abschiebeschutz zu begründen; die geltend gemachten psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin zu 2. und des ältesten Sohnes der Kläger gehen nicht über ein Maß hinaus, das eine Beendigung des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland verunmöglichen würde; dafür müssten die Tatbestandvoraussetzungen des § 56 Abs. 6 Satz 1 des Ausländergesetzes (AuslG) erfüllt sein, der bestimmt: Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat kann abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Die Kürzung der den Klägern gewährten Leistungen auf das Mindestmaß von Januar 2020 bis Juli 2020 erfolgte somit im Rahmen des geltenden Rechts (vgl. u.a. A. - BayLSG - Beschluss vom 13.09.2016 - B 8 AY 21/16 B ER -). Ebenso hat das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 12.05.2017 - B 7 AY 1/16 R - die Sanktionsnorm des § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. im Hinblick auf die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -). Das BSG hat selbst die durch die genannte Sanktionsnorm herbeigeführte jahrzehntelange "Dauerleistungsabsenkung" unter das Leistungsniveau des soziokulturellen Leistungsminimums als unbedenklich erachtet, da es der Betroffene selbst in der Hand gehabt habe, sein pflichtwidriges Verhalten abzustellen (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG; 2. Überarbeitung, Rd-Nr. 139.1). Auch das LSG Baden-Württemberg hält in seinem Urteil vom 27.04.2017 - L 7 AY 4898/15 - die komplette Streichung des Bargeldbedarfs zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (sog. Taschengeld) nach § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. und die damit verbundene Reduzierung der Leistungen auf das physische Existenzminimum für verfassungsrechtlich zulässig (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG: 2. Überarbeitung Rd-Nr. 139.2).

Auch ein die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 19.11.2019 begründender Anhörungsfehler liegt im konkreten Fall nicht vor. Die gleichlautenden Anhörungsschreiben des Beklagten vom 28.10.2019 (Bl. 498, 499 der Akten des Beklagten) sind zwar zu allgemein gehalten, wenn den Klägern lediglich mitteilt wird, sie hätten "es selbst zu vertreten, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können". Die Kläger hatten aber positive Kenntnis, welches Verhalten (welche Verletzung der Mitwirkungsverpflichtung) der Beklagte in Bezug nahm; denn die Kläger haben auf das Anhörungsschreiben mit einem Schreiben vom 13.11.2019 (Bl. 500 der Akten des Beklagten) reagiert, und dem Beklagten - wahrheitswidrig - mitgeteilt, sie wären "mit der ganzen Familie am 21.08.2019 in der p. Botschaft in Fr." gewesen, um "unsere Reisepässe zu beantragen". Einer konkretisierten (ggf. erneuten) Anhörung bedarf es nicht, wenn der konkrete Vorwurf des Verstoßes gegen ausländerrechtliche Vorschriften den Leistungsempfängern positiv bekannt ist. Insoweit musste der Beklagte als Sozialleistungsträger die Kläger nicht noch einmal auf die ausländerrechtlichen Verpflichtungen konkret hinweisen.

Auch aus höherrangigem Recht ist die Anwendung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht zu beanstanden. § 1a Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 AsylbLG ist auch nicht dahingehend verfassungskonform zu interpretieren, dass Leistungsberechtigten selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Absenkung der Leistungen das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum in dem Sinne erhalten bleiben müsse, dass Leistungen im Sinne des § 3 AsylbLG zu erbringen wären. Das hat das BSG (Urteil vom 12.05.2017 - B 7 AY 1/16 R -) zu der Vorgängervorschrift des § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. mit ausführlicher Begründung entschieden.

Von einer Verfassungswidrigkeit des § 1a AsylbLG war das Gericht - trotz eigener Zweifel - ebenfalls nicht voll überzeugt. Das BSG (Urteil vom 12.05.2017 - B 7 AY 1/16 R) hat die Vorgängervorschrift mit ausführlicher Begründung als verfassungsgemäß erachtet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die dagegen erhobene und unter dem Az. 1 BvR 2682/17 registrierte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen; der Orientierungssatz der vorbezeichneten Entscheidung lautet:

1a. Der Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel als Gewährleistung zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (vgl BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175 <223>). (Rn.17)

1b. Die Gewährleistung lässt sich nicht in einen "Kernbereich" der physischen und einen "Randbereich" der sozialen Existenz aufspalten, denn die physische und soziokulturelle Existenz werden durch Art 1 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG einheitlich geschützt (vgl. BVerfG, 23.07.2014, 1 BvL 10/12, BVerfGE 137, 34 <91 Rn 117f>; BVerfG, 05.11.2019, 1 BvL 7/16, BVerfGE 152, 68 <113f Rn 119>). (Rn.17)

1c. Die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist zudem auch zur Erreichung anderweitiger - wie migrationspolitischer (vgl. BVerfG, 18.07.2012, 1 BvL 10/10, BVerfGE 132, 134 <173 Rn 95>) - Ziele nicht zu relativieren (vgl. BVerfGE 152, 68 <114 Rn 120>). (Rn.17)

1d. Der Gesetzgeber verfügt insoweit allerdings über einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Art und Höhe der Leistungen. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten wird, die Höhe der Leistungen insgesamt tragfähig begründbar ist und die Ausgestaltung der Leistungen auch im Übrigen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. BVerfGE 152, 68 <115 Rn 122>). (Rn.18)

2. Die Norm des § 1a Nr. 2 AsylbLG i.d.F. vom 25.08.1998 ist in der Auslegung, die das BSG in der angegriffenen Entscheidung vorgenommen hat, mit diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen noch vereinbar.

2a. So stößt eine Verpflichtung der Behörden, das "unabweisbar Gebotene" zu leisten, nicht von vornherein auf durchgreifende Bedenken. Das gilt auch im Vergleich mit der Vorschrift des § 31a Abs. 3 S. 1 SGB II (juris: SGB 2; vgl. hierzu BVerfGE 152, 68 <143 Rn 197>). Anders als dort ist der zuständige Leistungsträger nach § 1a AsylbLG a.F. klar und gerichtlich voll überprüfbar verpflichtet, das unabweisbar Gebotene zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz bedarfsorientiert zu leisten. (Rn.21)

2b. Dem Gesetzgeber war es auch nicht verwehrt, in § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. eine Umstellung existenzsichernder Leistungen von einer pauschalen Gewährleistung auf eine im Einzelnen festzustellende Bedarfsdeckung vorzusehen. Entscheidend bleibt, dass der gesetzliche Leistungsanspruch so gefasst ist, dass der gesamte existenznotwendige Bedarf im Ergebnis stets gedeckt wird. (Rn.22)

2c. Insb. wird die Höhe der Leistungen mit § 1a AsylbLG a.F. nicht generell-abstrakt oder pauschal gemindert und die Leistungen werden, wie das BSG betont, auch nicht aus migrationspolitischen Gründen generell abgesenkt oder anderweitig relativiert. (Rn.23)

2d. Das BSG trennt in der angegriffenen Entscheidung zwar in seiner Betrachtung zwischen Leistungen zur Sicherung der physischen und der soziokulturellen Existenz, was auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt. Doch betont das BSG auch, dass Leistungen zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums gerade nicht von vornherein ausgeschlossen sind. Das BSG hat im Ergebnis nicht verkannt, dass weder Leistungen für physische noch solche für soziokulturelle Bedarfe frei verfügbar sind; sie können nicht beliebig gekürzt oder gestrichen werden. (Rn.24)".

Auch das LSG Berlin-Brandenburg hat (Beschluss vom 23.07.2013 - L 23 AY 10/13 B ER -) - ebenfalls zu § 1 Nr. 2 AsylbLG aF - entschieden: "Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 1a Nr. 2 AsylbLG bestehen nicht. (amtlicher Leitsatz)".

Soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, könnten die Kläger nach § 1a Abs. 2 Satz 3 AsylbLG auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG erhalten. Eine absolut starre Leistungsbegrenzung besteht somit nicht.

Nachdem die Voraussetzungen für die Leistungseinschränkung im Rahmen des § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG erfüllt sind, steht das "ob" der Kürzung nicht im Ermessen des Beklagten, sondern ist zwingende gesetzliche Folge. Das Existenzminimum wird durch die Gewährung der Sachleistung in Form von Wohnen, Energie und Strom gewährleistet, ebenso besteht die Versorgung im Krankheitsfall weiter, da der Anspruch auf Leistungen nach § 4 AsylbLG auch bei einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG uneingeschränkt fortbesteht. Die seitens der Bevollmächtigten der Kläger herangezogene Rechtsprechung trifft den vorliegenden Fall nicht; insbesondere erfolgten auch Geldleistungen an die Kläger und keine völlige Versagung von Geldleistungen.

Somit musste die Klage für die Zeiträume von Januar bis April 2020, in denen der Beklagte Leistungen nur nach § 1a AsylbLG bewilligt hat, ohne Erfolg bleiben. Für den Leistungszeitraum von Mai 202 bis Juli 2020 war die Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG folgerichtig, weil die Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG (Leistungen in besonderen Fällen) nicht möglich war: denn § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG bestimmt: Abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 sind das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Letzteres ist bei den Klägern aber der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); sie berücksichtigt das teilweise Obsiegen der Kläger.

Zur Rechtsmittelbelehrung siehe nächste Seite. Das Gericht hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache die Berufung für die Kläger (im Hinblick auf die jeweilig gesondert zu berechnende Beschwer des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2.) zugelassen. Für den Beklagten lagen Gründe für eine Zulassung der Berufung (betreffend den Dezember 2019, für den der Wert der Beschwer von 750,00 € nicht überschritten wird) nicht vor.

Zur Rechtsmittelbelehrung siehe nächste Seite.

Rechtskraft
Aus
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