L 3 R 117/21

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 13 R 444/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 3 R 117/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Zu den an einen Versicherten zu stellenden Anforderungen, um einen Antrag nach § 109 SGG aufrechtzuerhalten, wenn der ursprünglich zu hörende Arzt verhindert ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 15. April 2021 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) hat.

Die am ... 1962 geborene Klägerin absolvierte erfolgreich zunächst eine Ausbildung zum Maschinisten im Ausbildungsberuf P. und ließ sich später zur Köchin umschulen. Vom 4. Mai bis zum 28. August 2015 nahm sie an einem Lehrgang zur Betreuungskraft für Pflegeeinrichtungen mit Praxistraining teil. Die Klägerin war als Integrationshelferin in einem Kindergarten (Unterstützung einer Putzkraft) versicherungspflichtig beschäftigt. Bis zur Ausschöpfung der jeweiligen Ansprüche am 18. Juni bzw. 31. August 2019 bezog die Klägerin Kranken- bzw. Arbeitslosengeld. Zuletzt war sie seit dem 1. September 2019 als Hilfskraft in einem Altenpflegeheim zunächst versicherungspflichtig im Umfang von 20 Wochenstunden an bis zu sieben Wochentagen und schließlich im Umfang von zwölf Wochenstunden an bis zu fünf Wochentagen (Vorbereitung und Verteilung des Abendbrotes für die Heimbewohner) beschäftigt. Ausweislich der von der Arbeitgeberin übersandten Stundenübersichten für Januar bis Dezember 2020, zu denen auf Blatt 142 bis 153 Bd. III der Gerichtsakte verwiesen wird, arbeitete die Klägerin an den Arbeitstagen regelmäßig im Umfang von bis zu 3,5 Stunden bis zur durchgehend bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ab dem 5. November 2020. Neben der ihr seit dem 1. Oktober 2010 bewilligten Witwenrente bezieht die Klägerin seit Januar 2021 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bürgergeld [SGB II]).

Die Klägerin beantragte am 27. Juni 2018 bei der Beklagten die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die von der Beklagten beauftragte Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie Dipl.-Med. H. erstattete ihr Gutachten vom 16./23. Oktober 2018 auf der Grundlage der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 18. September 2018. Bei der Klägerin lägen als Diagnosen auf psychiatrischem Fachgebiet eine remittierte rezidivierende depressive Störung sowie eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-vermeidenden, emotional-instabilen und gehemmt-aggressiven Zügen vor. Als somatische Diagnosen seien eine arterielle Hypertonie, eine Gonarthrose beidseits, eine nicht näher bezeichnete Hypothyreose und eine Einschränkung des Sehvermögens beidseits bekannt. In der letzten beruflichen Tätigkeit als Küchenhilfe und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein Leistungsvermögen der Klägerin von sechs bis acht Stunden täglich. Auf Grund der körperlichen Erkrankungen sei die Klägerin für mittelschwere Tätigkeiten ohne Zwangshaltung oder überwiegendes Stehen einsetzbar. Auf Grund der durchgemachten rezidivierten Depressionen sollte keine Nachschicht gearbeitet werden. Es sollten keine Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die geistig-psychische Belastbarkeit, an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen oder das Sehvermögen erfolgen sowie keine komplexen Arbeitsvorgänge zugemutet werden. Auf Grund der bekannten Gonarthrose sei die Klägerin nur begrenzt in der Lage, Lasten zu tragen oder zu bewegen, Treppen oder Leitern zu ersteigen oder Tätigkeiten mit häufigem Knien oder Bücken zu verrichten. Häufig wechselnde Arbeitszeiten und häufig wechselnde Einsatzorte seien zu vermeiden. Die Beklagte zog im Übrigen einen Befundbericht der die Klägerin behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. B. vom 10. Mai 2018 bei, dem als Anlage der vorläufige Behandlungsbericht des A.. Psychiatriezentrums H. vom 8. Mai 2019 über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 15. März bis zum 8. Mai 2019 (nach Einweisung durch die Hausärztin wegen zunehmender innerer Unruhe und damit zusammenhängenden Kopfschmerzen) beigefügt ist. Im Verlauf habe sich die Klägerin zunehmend stabilisiert. Im Rahmen der Belastungserprobung sei mehrfach die Beurlaubung in die Häuslichkeit erfolgt, welche die Klägerin als zunehmend positiv verlaufend beschrieben habe. Nach einer Änderung der Medikation bei zwar insgesamt weiterhin reduziertem Belastungsniveau und vorerst nicht gegebener Arbeitsfähigkeit habe schließlich die Entlassung in die Häuslichkeit vorgenommen werden können.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab. Bei der Klägerin liege ein Leistungsvermögen von sechs Stunden täglich für mittelschwere Arbeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen vor (Bescheid vom 17. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 2019).

Hiergegen hat die Klägerin am 25. Oktober 2019 Klage vor dem Sozialgericht Halle erhoben. Sie halte sich nicht für fähig, einer auch nur körperlich leichten Tätigkeit in einem regelmäßigen Umfang „von mehr als 6 Stunden täglich“ an fünf Tagen in der Woche nachzugehen.

Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte eingeholt. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. S.-G. hat unter dem 23. Dezember 2019 eine letzte Konsultation durch die Klägerin am 30. Januar 2019 mitgeteilt. Die Fachärztin für Augenheilkunde d. V. hat in ihrem Befundbericht vom 19. April 2019 angegeben, die Klägerin stelle sich in der Praxis halbjährlich auf Grund einer ausgeprägten Sicca-Symptomatik und ausgeprägtem Fundus myopicus zur Kontrolle vor. Auf Grund der Diagnosen komme es bei der Klägerin zum eingeschränkten Visus und zunehmender Beeinträchtigung bei längerem und konzentriertem Arbeiten zum Beispiel bei PC-Arbeitsplätzen oder längerem Lesen. Die Klägerin leide unter Epiphora (Tränenträufeln) und dauerhaftem Fremdkörpergefühl sowie einer hohen Blendempfindlichkeit. Eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag halte sie - die Unterzeichnerin - für nicht gesundheitsförderlich. Das Führen eines Pkw sei der Klägerin auf Grund der Visusminderung nicht möglich. Öffentliche Verkehrsmittel könne die Klägerin nutzen. Eine Wegstrecke von 500 m sei ihr auch mehrmals am Tag innerhalb von 20 Minuten möglich. Zu den Befundberichten wird im Übrigen auf Blatt 38 bis 40, 44 bis 45, 46 bis 48, 49 bis 55, 58 bis 59 und 65 Bd. I der Gerichtsakten Bezug genommen.

Die Klägerin hat sich während des Klageverfahrens vom 5. November bis zum 8. Dezember 2020 erneut in stationärer Krankenhausbehandlung, nun in der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum H., befunden. In dem Kurzbrief der Klinik vom 8. Dezember 2020 werden als Diagnosen auf psychiatrischem Fachgebiet eine kombiniere Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen Zügen und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode, aufgeführt. Der Absetzversuch bei unzureichender Wirkung eines der Arzneimittel der bestehenden antidepressiven Medikation sei von der Klägerin gut toleriert worden. Eine Somatisierungstendenz für die von der Klägerin angegebenen abdominellen Beschwerden könne abschließend nicht ausgeschlossen werden. Zur langfristigen Stabilisierung sei die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie empfohlen worden.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. April 2021 abgewiesen. Die als relevant festgestellten Gesundheitsstörungen schränkten die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin zwar in qualitativer, nicht aber in quantitativer Hinsicht ein. Aus medizinischer Sicht seien ihr noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes über sechs Stunden täglich zumutbar. Bei der Klägerin seien keine so wesentlichen Funktionsstörungen festgestellt worden, die eine Leistungsfähigkeit unter sechs Stunden hätten begründen können. Auch könne sie Wege in gefordertem Maß zurücklegen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 23. April 2021 zugestellte Urteil am 20. Mai 2021 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Sie fühle sich durch die Einschätzung der behandelnden Ärzte und Einrichtungen bestätigt, von Seiten der Beklagten in ihrer Leistungsfähigkeit zu positiv beurteilt worden zu sein.

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt:

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 15.04.2021 wird aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten vom 17.01.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2019 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin antragsgemäß eine Rente wegen Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte hat sinngemäß beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 15. April 2021 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie hat den Versicherungsverlauf der Klägerin vom 13. Februar 2023 übersandt, zu dem auf Blatt 309 bis 312 Bd. II der Gerichtsakte Bezug genommen wird.

Bei der letzten Arbeitgeberin sind die eingangs genannten Stundenübersichten abgefordert worden.

Die Klägerin hat sich während des Berufungsverfahrens vom 6. September bis zum 12. November 2021 in tagesklinischer Behandlung bei der Klinik und Tagesklinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Diakonie Krankenhaus H. befunden. In dem Entlassungsbericht vom 12. November 2021 werden als Diagnosen auf psychiatrischem Fachgebiet eine rezidivierende depressive Episode, gegenwärtig mittelgradige Episode, und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit vermeidenden und emotional-instabilen Anteilen mitgeteilt. Die depressive Symptomatik sei im Verlauf rückläufig gewesen. Diese Symptomatik sei leicht beeinflussbar durch äußere Faktoren. Eine Entlassung sei arbeitsunfähig in stabilisiertem Zustand erfolgt.

Vom Senat sind von der Hausärztin der Klägerin der Befundbericht vom 17. Dezember 2021 und von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am C.-Klinikum S. der Befundbericht vom 30. Dezember 2021 eingeholt worden, zu dem auf Blatt 175 bis 204 und 205 Bd. II der Gerichtsakte Bezug genommen wird.

Die Klägerin hat sich vom 11. Oktober bis zum 29. November 2022 und 21. Dezember 2022 bis zum 18. Januar 2023 erneut in stationärer Behandlung, nun im Bereich Psychotherapie/Psychosomatik des C.-Klinikums, befunden. Als Diagnosen werden in dem Entlassungsbericht vom 29. November 2022 eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, Hypothyreose und arterielle Hypertonie angegeben. In dem Bericht über den zweiten Teil der stationären Behandlung vom 16. Januar 2023 wird, bei im Übrigen denselben Diagnosen, eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, mitgeteilt. Auf Grund der derzeitig anhaltenden Symptomatik vor dem Hintergrund der fortbestehenden Belastungsfaktoren werde die Klägerin „als langfristig nicht arbeitsfähig“ eingeschätzt. Man unterstütze den gestellten Rentenantrag, der sich „momentan in Widerspruch vor Sozialgericht“ befinde. Zu den beiden Berichten wird im Übrigen auf Blatt 298 bis 304 Bd. II der Gerichtsakten Bezug genommen.

Dem Antrag der Klägerin, den Facharzt f. Psychiatrie Dr. S. nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu hören, hat auf Grund des Eintritts dieses Sachverständigen in den Ruhestand nicht entsprochen werden können. Die Klägerin hat am 6. Oktober 2022 erklärt, an der Beauftragung von Dr. S. werde nicht mehr festgehalten. Sie sei zurzeit damit befasst, bei einem neuen als Sachverständigen in Betracht kommenden Mediziner nach dessen Bereitschaft zur Erstellung eines Gutachtens nachzufragen. Die Aufhebung der Beweisanordnung nach § 109 SGG ist mit Beschluss vom 28. Februar 2023 unter Hinweis darauf erfolgt, eine Beweiserhebung von Amts wegen werde als geboten erachtet und der benannte Gutachter sei verhindert. Zu dem Beschluss wird auf Blatt 319 der Gerichtsakten Bezug genommen. Der Kostenvorschuss ist der Klägerin sodann erstattet worden.

Der Senat hat mit Beweisanordnung vom 6. Juli 2023 die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. A. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Die richterliche Verfügung nach § 106 SGG ist von der Geschäftsstelle versehentlich mit der Angabe von § 109 SGG als Grundlage der Beweisanordnung ausgeführt worden. Das hat die Klägerin erstmals am 8. Mai 2024 beanstandet.

Die Beklagte hat der Klägerin mit Bescheid vom 9. Oktober 2023 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach der am 18. September 2023 durchgeführten Implantation einer Knie-Totalendoprothese rechts bewilligt. Aus der vom 24. Oktober bis 14. November 2023 in der M. Klinik stationär durchgeführten Maßnahme ist die Klägerin nach dem Entlassungsbericht vom 15. November 2023 mit einem vollschichtigen Leistungsvermögen für körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von sechs Stunden und mehr täglich entlassen worden. Die letzte Tätigkeit als Hilfsköchin (zu der die Klägerin dort insbesondere eine Belastung zur Hälfte der Arbeitszeit mit einem Heben und Tragen von Lasten von zehn bis 15 kg angegeben habe) könne sie nach erfolgreich abgeschlossener Rehabilitation und entsprechender Rekonvaleszenzzeit drei bis sechs Stunden täglich ausüben.

Dr. A. hat ihr Gutachten vom 15. Februar 2024 auf der Grundlage der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 30. August 2023 unter Einbeziehung des vorgenannten Rehabilitationsentlassungsberichtes erstattet. Zur aktuellen Lebenssituation habe die Klägerin mitgeteilt, allein in einer Mietwohnung zu wohnen und Einkäufe und Kochen ohne Hilfe zu bewältigen. Sie fahre viel Fahrrad, unternehme Spaziergänge und lese gern. Sie sei gern in der Natur, am Wasser. Sie könne sich bei Musik und Meditation entspannen. Sie bemühe sich um regelmäßige soziale Kontakte. Ihr psychisches Befinden erlebe sie als wechselhaft und instabil. Sie sei schon immer empfindlich gewesen und gerate leicht in Konflikt mit anderen Menschen. Im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen und psychosozialen Belastungssituationen und Konflikten komme es zu depressiven Stimmungseinbrüchen. Sie fühle sich schnell überfordert, leide unter Unruhe, Nervosität und Spannung, habe oft „Herzklopfen“ und Druck auf der Brust. Der Kopf sei voll. Sie sei vergesslich und unkonzentriert. Daneben habe sie körperliche Beschwerden. Das Laufen falle ihr schwer. Aus Sicht der Sachverständigen sei bei der vorliegenden psychischen Symptomatik aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht eine Anpassungsstörung mit rezidivierenden ängstlich-depressiven Verstimmungszuständen, einem anhaltenden Gefühl der Unzufriedenheit und Minderbelastbarkeit sowie diffusen körperlichen Beschwerden zu diagnostizieren. Getragen werde dies von einer Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlich-vermeidenden, aggressiv-gehemmten und emotional-instabilen Strukturanteilen. Die Klägerin sei in ihrer Lebensaktivität und -bewältigung sicherlich beeinträchtigt und eingeschränkt. Es werde auch in Zukunft für die Klägerin schwierig bleiben, mit Konflikten, Verletzungen und Enttäuschungen adäquat umzugehen. Die Hauptschwierigkeit liege darin, dass sie sich mit den Krankheitserscheinungen seit Jahren eingerichtet habe. Es ergäben sich Diskrepanzen zwischen subjektivem Beschwerdevortrag und objektiven klinisch-psychiatrischen Befunden, die sich sowohl in der psychiatrischen Exploration als auch in den testpsychologischen Zusatzuntersuchungen niederschlügen. Es müsse hier der Verdacht auf Aggravation und Verdeutlichung geäußert werden. Aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht bestünden für eine regelmäßige Erwerbstätigkeit Einschränkungen in Bezug auf besondere Anforderungen an Konflikt-, Umstell-, Anpassungsfähigkeit, besonderen Zeit-, Leistungs- und Termindruck sowie ständigen Publikumsverkehr. Notwendig sei ein gut strukturiertes und überschaubares Arbeitsumfeld mit durchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit. Günstig sei die Arbeit in einem kleinen und stabilen Arbeitsteam. Zusätzlich müssten die in dem Rehabilitationsentlassungsbericht vom 15. November 2023 genannten Beeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet berücksichtigt werden. Mit den vorgenannten Einschränkungen sei die Klägerin noch in der Lage, die zumutbaren Arbeiten in zeitlicher Hinsicht für mehr als sechs Stunden täglich (vollschichtig) zu verrichten. Auf Grund der Diagnosen und spezifischen Zusammenhänge sei auch weiterhin mit krankheitsbedingten Ausfallzeiten zu rechnen, insbesondere in Konflikt- und Überforderungssituationen. Aus psychiatrischer Sicht bestünden keinerlei Einschränkungen der Geh- und Wegefähigkeit. Die Klägerin sei auch in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Seit dem Jahr 2016 zeige sich bei der Klägerin eine zunehmende Symptommanifestation und Chronifizierung.

 

Der Klägerin ist das Gutachten von Dr. A. als Anlage zum gerichtlichen Schreiben vom 23. Februar 2024 übersandt worden verbunden mit der Bitte, eine Rücknahme der Berufung zu prüfen. Am 1. März 2024 hat die Klägerin mitgeteilt, die Berufung nicht zurückzunehmen, und ausgeführt: „Es macht sich somit eine gerichtliche Entscheidung erforderlich“. Zu dem Gutachten solle von Seiten der Klägerin eine ausführliche Stellungnahme abgegeben werden.

 

Mit gerichtlichem Schreiben vom 2. April 2024, der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis zugestellt am Folgetag, sind die Beteiligten zu einer Entscheidung des Senats gemäß § 153 Abs. 4 SGG angehört worden. Es ist Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Anschreibens gegeben worden.

 

Die Klägerin hat in der von ihr selbst verfassten Stellungnahme vom „4.03.2024“, die ihr Prozessbevollmächtigter dem Senat am 3. April 2024 zur Kenntnis gegeben hat, die Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen dahingehend kritisiert, dass offenbleibe, ob sie - die Klägerin - arbeitsunfähig sei. Sie fühle sich sinngemäß durch die Feststellungen in dem Gutachten herabgesetzt. Eine (Anm: nicht zur Akte gereichte) Einschätzung einer „Gutachterin, von B.“ vom 15. Februar 2018, die Leistungen der medizinischen Rehabilitation empfohlen habe, sei nicht berücksichtigt worden. Die Klägerin hat (nun durch ihren Prozessbevollmächtigten) am 8. Mai 2024 mitgeteilt, dass sie „an ihrem Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG nach ihrer Wahl eines Sachverständigen festhält“. Sie habe ihren Antrag nach § 109 SGG „bis heute nicht zurückgenommen“. Im Übrigen heißt es dort: „Die Klägerin hat weiter die Absicht, ein solches Gutachten in Auftrag zu geben“. Sollte das Gericht, wie mitgeteilt, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, werde sie - die Klägerin - „zwangsläufig in eine Nichtzulassungsbeschwerde gedrängt“.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese Akten haben bei der Entscheidungsfindung des Senats vorgelegen.

II.

Der Senat hat nach § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entscheiden können, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher gehört worden.

Der Senat hat ohne weitere Ermittlungen entscheiden können. Soweit die Klägerin nunmehr mitteilt, das Gutachten von Dr. A. sei vom Senat nach § 109 SGG eingeholt worden, dürfte es sich um den Versuch handeln, mit Blick auf die angekündigte Nichtzulassungsbeschwerde einen Verfahrensfehler zu finden. Es fehlt an Ausführungen der Klägerin, wieso der Senat - unter Rückzahlung des Kostenvorschusses - ein Gutachten nach § 109 SGG von einem nicht von ihr benannten Arzt eingeholt haben könnte, ohne dass sie dies beanstandet hat. Der Senat hätte der Klägerin eine berichtigte Beweisanordnung übersandt, wenn diese auf den offenkundigen Fehler zeitnah hingewiesen hätte. Ein Antrag nach § 109 SGG bezieht sich auf den zu hörenden Arzt (vgl. Pitz in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, Stand 5. Juli 2022, § 109 RdNr. 10; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 109 RdNr. 4). Soweit die Klägerin zuletzt ihre Auffassung mitgeteilt hat, ihr Antrag nach § 109 SGG sei nicht verbraucht, trägt dies diesem Gesichtspunkt nicht hinreichend Rechnung. Mit der Erklärung, an dem Antrag, Dr. S. als Gutachter nach § 109 SGG zu hören, werde nicht mehr festgehalten, ist der Antrag nach § 109 SGG wirksam zurückgenommen worden. Selbst wenn man dies anders sehen wollte, hätte die Klägerin seit ihrer Mitteilung im Schriftsatz vom 6. Oktober 2022, einen anderen Gutachter suchen zu wollen, keinen Arzt, von dem ein Gutachten nach § 109 SGG hätte eingeholt werden können, benannt. Der Senat muss sich damit nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob ein nach dem 8. Mai 2024 gestellter Antrag nach § 109 SGG als verspätet zurückzuweisen gewesen wäre.

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der mit der Berufung angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin deshalb nicht in ihren Rechten (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Sie hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung. 

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Versicherte sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI teilweise erwerbsgemindert, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, bzw. nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI voll erwerbsgemindert, wenn sie unter diesen Bedingungen außer Stande sind, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es demgegenüber auf die Frage ihrer Arbeitsunfähigkeit am Maßstab der gesetzlichen Krankenversicherung nicht an. Es ist im Übrigen davon auszugehen, dass die Klägerin auf Befragen regelmäßig eine vergleichbare körperliche Belastung wie gegenüber der M. Klinik B. K. angibt, die in Heben und Tragen von Lasten von zehn bis 15 kg zu 50 Prozent der Arbeitszeit bestanden haben soll.

Ein rentenrelevant gemindertes Leistungsvermögen der Klägerin ist hier nicht erkennbar. Der Senat ist überzeugt, dass die Klägerin im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich geistig einfache und körperlich leichte Arbeiten bei überwiegendem Sitzen verrichten könnte, die den rechtlichen Maßstab der Prüfung bilden. Aus orthopädischer Sicht ist von der M. Klinik noch im November 2023 ein oberhalb dieses Maßstabes liegendes Leistungsvermögen auch für körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten festgestellt worden. Die gerichtliche Sachverständige Dr. A. hat als bei der Klägerin gesicherte Diagnose auf psychiatrischem Fachgebiet eine Anpassungsstörung mit rezidivierenden ängstlich-depressiven Verstimmungszuständen, einem anhaltenden Gefühl der Unzufriedenheit und Minderbelastbarkeit sowie diffusen körperlichen Beschwerden mitgeteilt, die in der Darstellung durch die Klägerin im Rahmen der Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlich-vermeidenden, aggressiv-gehemmten und emotional-instabilen Strukturanteilen zu bewerten ist. Daraus ergibt sich nach der überzeugenden Begründung der gerichtlichen Sachverständigen ein auch auf psychiatrischem Fachgebiet nicht quantitativ gemindertes Leistungsvermögen, sondern eine auch auf diesem Fachgebiet den gerichtlichen Maßstab übersteigende vollschichtige Einsatzfähigkeit der Klägerin. Die qualitativen Einschränkungen in Bezug auf besondere Anforderungen an Konflikt-, Umstell-, Anpassungsfähigkeit, besonderen Zeit-, Leistungs- und Termindruck sowie ständigen Publikumsverkehr und die Notwendigkeit eines gut strukturierten und überschaubaren Arbeitsumfeldes in einem kleinen und stabilen Arbeitsteam mit durchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit berücksichtigen die Beeinträchtigung der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet in ausreichendem Umfang. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens ist Dipl.-Med. H. in ihrem Gutachten vom 16./23. Oktober 2018 zu einer vergleichbaren Einschätzung gelangt. Soweit von Seiten des C.-Klinikums unter dem 16. Januar 2023 „vor dem Hintergrund der fortbestehenden Belastungsfaktoren“ ausgeführt worden ist, die Klägerin sei längerfristig nicht arbeitsfähig, ist nicht angegeben worden, ob von dem letzten Arbeitsverhältnis oder sogar von dem Rentenverfahren als Belastung der Klägerin ausgegangen worden ist. Beides wäre für das vorliegende Rentenverfahren als Anknüpfungspunkt ebenso ungeeignet wie die Arbeitsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Klägerin hat selbst gegenüber der gerichtlichen Sachverständigen angegeben, noch zu lesen, sodass auch keine tragfähigen Hinweise dafür vorliegen, dass sie Arbeiten mit einfachen Anforderungen an die Sehfähigkeit nicht mehr gewachsen sein könnte.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet gewesen, der Klägerin einen konkreten Arbeitsplatz auf Grund einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu benennen (vgl. zu den maßgebenden Kriterien den Beschluss des Großen Senats [GS] des Bundessozialgerichts [BSG] vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -, BSGE 80, 24, 33 f.; zur aktuellen Rechtslage BSG, Urteil vom 11. Dezember 2019 - B 13 R 7/18 R -, juris, RdNr. 22ff.). Der Senat ist auch nicht davon überzeugt, dass bei der Klägerin ein Katalog- oder Seltenheitsfall vorliegt, der zu einer Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen könnte. Der Arbeitsmarkt gilt auch dann als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt; zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können (vgl. GS BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996, a.a.O., zu Katalogfall 2). Dabei ist ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ein Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Mobilitätshilfen benutzen kann. Eine Feststellung, die dem Senat die Grundlage bieten könnte festzustellen, dass die Klägerin die Voraussetzungen einer rentenrelevanten Einschränkung ihrer Wegefähigkeit im Sinne dieser durch Richterrecht überzeugend festgelegten Voraussetzungen erfüllt, liegt nicht vor. Aus der Rehabilitationsmaßnahme in der M. Klinik nach der Implantation der Totalendoprothese am rechten Knie ist die Klägerin am 14. November 2023 mit einem sicheren und zügigen Gangbild an zwei Unterarmgehstützen im Drei-Punktegang unter Vollbelastung entlassen worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.

Rechtskraft
Aus
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