L 4 KA 7/22

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 6 KA 45/18
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 7/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Sprachbarrieren in der Behandlungssituation sind keine Praxisbesonderheit, die eine überdurchschnittlich häufige Abrechnung der GOP 01435 EBM-Ä (Haus-/Fachärztliche Bereitschaftspauschale) durch den anderen BAG-Partner zu rechtfertigen vermag.

2. Das Abrechnungsverhalten für abgerechnete Einzelleistungen (GOP EBM-Ä) von Mitgliedern einer BAG aus Vertragsärzten ist nicht arztbezogen auf Wirtschaftlichkeit zu prüfen.

3. Bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung von Einzelleistungen (GOP EBM-Ä) ist als Vergleichsgruppe eine solche aus allen die geprüfte GOP EBM-Ä abrechnenden BAGen der Fachgruppe zu bilden und diese Ansatzfrequenz der gebildeten Vergleichsgruppe ist ins Verhältnis zu der Ansatzfrequenz der geprüften Praxis einer BAG zu setzen.

4. Wenn ein Vertragsarzt bereits über die unwirtschaftliche Abrechnung einer GOP EBM-Ä beraten wurde und später eine unwirtschaftliche Abrechnung einer anderen GOP EBM-Ä festgestellt wird, ist er vor einem Regress nicht erneut zu beraten.

 

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 30. März 2022 und der Beschluss des Beklagten vom 29. November 2017 aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, über die Wirtschaftlichkeit der von der Berufsausübungsgemeinschaft des Klägers in den Quartalen II/2015 und III/2015 abgerechneten GOPen 01435 EBM-Ä unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Vor-, Klage- und Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 1.127 Euro festgesetzt.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über eine Honorarkürzung für abgerechnete ärztliche Leistungen im Wege einer Wirtschaftlichkeitsprüfung.

 

Der Kläger ist als Arzt für Allgemeinmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen und betrieb mit der Ärztin für Allgemeinmedizin P____ I_____ eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) in K_________. Die beiden Ärzte wurden für das Quartal I/2006 dahingehend beraten, dass bei der Prüfung einzelner Gebührenordnungspositionen (GOPen) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für Ärzte (EBM-Ä) von einem offensichtlichen Missverhältnis ausgegangen werde, wenn der zweifache Gruppendurchschnitt der Abrechner überschritten werde und dass die Anzahl abgerechneter GOPen 03001 EBM-Ä (Koordination der hausärztlichen Betreuung mit mindestens einer der nachfolgenden – gelisteten – Indikationen) im Vergleich zur Gruppe diesen Grenzwert überschreite und dafür kein erkennbarer Grund vorliege.

 

Die Prüfungsstelle der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein (Prüfstelle) stellte für die Quartale II/2015 und III/2015 fest, dass der Kläger die GOP 01435 EBM-Ä („Haus/Fachärztliche Bereitschaftspauschale“) im Vergleich zum Fachgruppendurchschnitt öfter abgerechnet hatte (Mitteilung vom 24. November 2016). Nach Anhörung des Klägers setzte die Prüfstelle mit Bescheid vom 5. September 2017 einen Regress für das Quartal II/2015 iHv 356,20 Euro und für das Quartal III/2015 iHv 771,12 Euro fest. Unter Berücksichtigung der Ansatzfrequenzen der für diese Prüfung gebildeten Untergruppe der in einer BAG tätigen Hausärzte von 5,1 (Quartal II/2015) und 4,8 (Quartal III/2015) überschreite der Kläger den doppelten Untergruppenwert um 52 bzw 119 abgerechnete Leistungen der GOP 01435 EBM-Ä, die als unwirtschaftlich zu kürzen seien.

 

Dagegen legte der Kläger am 5. Oktober 2017 Widerspruch ein. Gegen einen Regress brachte er vor, die arztbezogene Wirtschaftlichkeitsprüfung sei in einer Gemeinschaftspraxis unzulässig, da eine BAG als Leistungserbringer abrechne und insoweit geprüft werden müsse. Eine arztbezogene Prüfung in einer BAG mache es unmöglich, in einer BAG die Abrede zu treffen, eine Leistung werde nur von einem BAG-Mitglied erbracht. Dieses werde dann auffällig, wenngleich die Praxis selbst nicht auffällig sei. Mit seiner BAG-Partnerin führe er eine überdurchschnittlich große BAG mit einem hohen Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund und geringem Einkommen. Dieser Umstand bedinge eine hohe Anzahl an Arzt-Patienten-Kontakten, die in der Regel mit demselben Behandler bestünden. Lediglich dann, wenn der Behandler sich in einer Untersuchung befinde oder einen Hausbesuch durchführe, übernehme das andere BAG-Mitglied die Befundung eines EKGs oder die Dosiseinstellung einer Blutdrucktherapie, wobei er auf die seit Jahren eingespielten Gepflogenheiten zur Dokumentation in der Praxis zurückgreife. Der BAG-Partner springe auch ein, wenn nach einem Arztbesuch eines Patienten mit geringen Deutschkenntnissen dessen Familienmitglied anrufe, um sich den Befund erklären zu lassen. Nur mit einer solchen Vorgehensweise könne die Praxis wiederholte Anrufe der Patienten vermeiden und letztlich die hohe Fallzahl (etwa 1.600 pro Arzt) bewältigen. Die gestiegene Anzahl von Telefonaten sei eine Folge der gestiegenen Anzahl von Flüchtlingen in K_________. Schließlich habe anstelle eines Regresses nach § 16 Abs 4 der Prüfvereinbarung vom 26. Juni 2012 eine Beratung durchgeführt werden müssen, da die GOP 01435 EBM-Ä bisher nicht Gegenstand einer Wirtschaftlichkeitsprüfung gewesen sei.

 

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Beschluss vom 29. November 2017 (ausgefertigt am 26. Februar 2018, zugestellt am 27. Februar 2018) zurück und bestätigte die von der Prüfungsstelle quartalsweise festgesetzten Regresse. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung werde seit 1. Januar 2011 arztbezogen durchgeführt. Die Verteilung innerhalb einer BAG werde ggfs im Rahmen des Ermessens berücksichtigt. Der hohe Anteil ausländischer Patienten sei keine anzuerkennende Praxisbesonderheit und der hohe Anstieg seit II/2015 sei nicht erklärlich. Im Übrigen sei nicht nachvollziehbar, dass bei hoher Patientenzahl und gleichzeitiger Anwesenheit beider BAG-Partner Telefonate durch den jeweils nicht behandelnden BAG-Partner geführt würden. Die telefonischen Patientenkontakte seien hin zu dem behandelnden Arzt zu steuern. Die hohe Anzahl an Telefonkontakten mit dem Praxispartner in den Quartalen II und III/2015 sei unwirtschaftlich und daher auf das doppelte des gebildeten Untergruppendurchschnitts zu kürzen. Eine Beratung vor Regress habe nicht zu erfolgen gehabt, da bereits für das Quartal I/2006 anlässlich der überhöhten Ansatzfrequenz der GOP 03001 EBM-Ä beraten worden sei.

 

Die dagegen am 15. März 2018 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Kiel mit Urteil vom 30. März 2022 abgewiesen. Das SG hat ausgeführt, die Kammer habe sich den Ausführungen des Beklagten im angefochtenen Beschluss im Ergebnis und in der Begründung angeschlossen.

 

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten am 26. August 2022 zugestellte Urteil richtet sich die am 13. September 2022 eingegangene Berufung des Klägers. Zur Begründung vertieft und ergänzt er sein Vorbringen im gerichtlichen Verfahren. Vergleichbar einem hohen Anteil von Rentnern sei auch die Personengruppe der Migranten mit geringen bis gar keinen Deutschkenntnissen als Praxisbesonderheit anzuerkennen. Die Sprachbarrieren würden den Aufwand erhöhen. Die Anzahl der von beiden Ärzten mit der GOP 01435 EBM-Ä abgerechneten Telefonate (576 im Quartal III/2015) betrage gerade einmal 10 vH der tatsächlichen Patientenkontakte für rund 2.700 Patienten im Quartal. Die für das Quartal I/2006 erfolgte Beratung entfalte keine Wirkung, da sie einen anderen Sachverhalt betroffen habe. Der Kläger verweist insoweit auch auf Rechtsgedanken der „Rahmenvorgaben nach § 106b Abs 2 SGB V für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen vom 30. November 2015“.

 

Der Kläger beantragt,

 

1. das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 30. März 2022 sowie den Bescheid des Beklagten vom 29. November 2017 aufzuheben,

 

2. hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, über die Wirtschaftlichkeit der vom Kläger in den Quartalen II/2015 und III/2015 abgerechneten GOP 01435 EBM-Ä unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Beklagte trägt im gerichtlichen Verfahren ergänzend zu den Einwänden des Klägers vor, der Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund sei mangels auf den Behandlungsscheinen erfasster Parameter nicht ermittelbar und überdies irrelevant. Telefonische Beratungen seien vorrangig von dem behandelnden Arzt zu übernehmen und mit der Versichertenpauschale abgegolten; die Abrechnung für Fälle seiner Abwesenheit werde mit dem doppelten Durchschnitt abgedeckt. Im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses sei nach der Rechtsprechung eine vorherige Beratung nicht notwendig. Ferner müsse nicht bei jeder neu aufgetretenen Auffälligkeit des Prozedere neu erklärt und jeweils beraten werden.

 

Die Beigeladenen stellen keine Anträge und tragen nicht in der Sache vor.

 

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die Gerichtsakten vorgelegen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die aktenkundigen Unterlagen und Schriftsätze Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingegangen und begründet.

 

1. Die ausschließlich gegen den Beschluss des Beklagten vom 29. November 2017 gerichtete Anfechtungs- und (Neu-)Bescheidungsklage des Klägers gemäß den §§ 54 Abs 1, 113 Abs 3 SGG (vgl zu dieser verfahrensrechtlichen Besonderheit der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 29. Juni 2011 – B 6 KA 16/10 R – juris mwN) ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Der Beschluss des Beklagten vom 29. November 2017 über eine Honorarrückforderung iHv insgesamt 1.127,32 Euro wegen einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise des Klägers in den Quartalen II/2015 und III/2015 ist methodisch teilweise fehlerhaft und daher aufzuheben.

 

2. Rechtsgrundlage für die Geltendmachung derartiger Honorarrückforderungen ist die Regelung in § 106 Abs 2 Satz 4 SGB V (hier anzuwenden idF des GKV-Wettbewerbs­stär­kungsgesetzes <GKV-WSG> vom 26. März 2007 <BGBl I 378>) iVm der ab 2012 jeweils gültigen Prüfvereinbarung (PrüfV). Dort haben die Landesverbände der Krankenkas­sen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der beigeladenen KÄV ua von der ihnen gesetzlich eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht, für Schleswig-Holstein über die in § 106 Abs 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen (Auffälligkeits- und Zufälligkeits-)Prü­fungen hinaus Prüfungen ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten zu vereinbaren (zur Berechtigung der Vertragspartner für den Abschluss solcher Prüfvereinbarungen vgl BSG, Urteil vom 9. April 2008 – B 6 KA 34/07 R – juris). Entsprechend werden nach den Vorgaben in § 9 Abs 2 Nr 3 der PrüfV 2012 auch die Honorarabrechnungen von Vertragsärzten in die Prüfung ärztlicher Leistungen einbezogen, „bei denen in einzelnen Leistungen der Fallwert der Vergleichsgruppe um mehr als 100 % überschritten wird.“ Dabei sind in die Ermittlung der statistischen Vergleichszahlen allerdings „nur die Abrechnungen einzubeziehen, in denen die betreffenden Leistungen enthalten sind.“

 

3. Der Beschluss des Beklagten ist allerdings formell rechtmäßig. Der Beklagte war zuständig (§ 106 SGB V iVm § 2 PrüfV 2012) und wahrte die Verfahrens- und Formvorschriften (§ 13 Abs 1 Satz 1 PrüfV 2012; § 13 Abs 1 und Abs 3 Satz 7 PrüfV 2012).

 

4. Die Anwendung der für die Wirtschaftlichkeitsprüfung von Einzelleistungen maßgeblichen Grundsätze <dazu a)> und der Maßstäbe für die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten <dazu b)> führen zwar dazu, dass der Beschluss des Beklagten vom 29. November 2019 methodisch dem Grunde nach zutreffend ist <dazu c)>. Dennoch ist der Beschluss gleichwohl rechtsfehlerhaft, weil der Regress hätte praxisbezogen geprüft und gegenüber der BAG hätte festgesetzt werden müssen <dazu d)>.

 

a) Nach den zur Wirtschaftlichkeitsprüfung von der Rechtsprechung entwickelten Grund­sätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe - bzw mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe - im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten bzw mehrerer zu Leistungssparten zusammengefasster Leistungspositionen der Bewertungsmaßstäbe in offensichtlichem Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, dh, ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit. Ein statistischer Einzelleistungsvergleich setzt voraus, dass davon Leistungen betroffen sind, die für die gebildete Vergleichsgruppe typisch sind und zumindest von einem größeren Teil der Fachgruppenmitglieder regelmäßig in nennenswerter Zahl erbracht werden. Dass die Leistungen nur für eine begrenzte Gruppe von Behandlungsfällen in Betracht kommen, schließt ihren Charakter als Standardleistungen nicht aus. In zahlenmäßiger Hinsicht hat das BSG diese Voraussetzungen bejaht, wenn über 50 % der Mitglieder der Vergleichsgruppe eine GOP EBM-Ä mindestens in 5 bis 6 % aller Behandlungsfälle abgerechnet haben. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine absolute Untergrenze, die eine Vergleichbarkeit ausschließt, wenn die Leistung in den geprüften Quartalen in der Fachgruppe lediglich durchschnittlich in 2 % bzw 1,98 % der Fälle abgerechnet wurde. Wenn der geprüfte Arzt nur mit den Mitgliedern seiner Arztgruppe verglichen wird, die die Leistung ebenfalls erbringen, liegt eine valide Vergleichsgruppe vor. Es ist auch - im Grundsatz - nicht zu beanstanden, wenn Prüfgremien im Rahmen einer Einzelleistungsprüfung die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bei einer Überschreitung des Durchschnitts der Vergleichsgruppe um 100 % festsetzen (grundlegend BSG, Urteil vom 16. Juli 2003 – B 6 KA 45/02 R – juris Rn 17 – 26; BSG, Urteil vom 30. November 2016 – B 6 KA 29/15 R – Rn 16, 24; BSG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 – B 6 KA 25/20 B – juris Rn 13).

 

b) Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung besteht ein Beurteilungsspielraum der Prüfgremien, soweit es um die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten geht (vgl hierzu BSG, Urteil vom 2. November 2005 – B 6 KA 63/04 R; BSG, Urteil vom 23. März 2011 – B 6 K 9/10 R – jeweils juris mwN). Dabei sind Praxisbesonderheiten anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf der jeweiligen Patientenklientel und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen werden (hierzu BSG, Urteil vom 23. März 2011, aaO mwN; BSG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 – B 6 KA 25/20 B – Rn 14). Die Darlegungs- und Feststellungslast für besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende atypische Umstände der Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen obliegt dabei regelmäßig dem Arzt. Er ist grundsätzlich gehalten, im Prüfungsverfahren die Umstände geltend zu machen, die sich aus der Atypik seiner Praxis ergeben, aus seiner Sicht auf der Hand liegen und den Prüfgremien nicht ohne Weiteres anhand der Verordnungsdaten und der Honorarabrechnung bekannt sind oder sein müssen (vgl hierzu BSG, Urteil vom 16. Juli 2008 – B 6 KA 57/07 R; Urteil vom 5. Juni 2013 – B 6 KA 40/12 R; jeweils juris mwN). Dass der Arzt seiner Darlegungs- und Beweislast nur nach einer - uU aufwendigen - Auswertung der gespeicherten Daten gerecht werden kann, steht dem nicht entgegen. Die Prüfgremien sind zu Ermittlungen von Amts wegen nur hinsichtlich solcher Umstände verpflichtet, die typischerweise innerhalb der Fachgruppe unterschiedlich und daher augenfällig sind (BSG, Urteil vom 13. Mai 2020 – B 6 KA 25/19 R – Rn 43). Der diesbezügliche Vortrag muss substantiiert sein, dh so genau wie möglich und plausibel sein (vgl hierzu BSG, Urteil vom 22. Oktober 2014 – B 6 KA 8/14 R - juris).

 

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist außerdem geklärt, dass Praxisbesonderheiten bereits gegenüber den Prüfgremien geltend gemacht werden müssen und erst im nachfolgenden Gerichtsverfahren geltend gemachter Vortrag insoweit als verspätet zurückzuweisen ist. Hintergrund ist, dass den fachkundig besetzten Prüfgremien ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Die gerichtliche Kontrolle ihrer Entscheidungen beschränkt sich deshalb auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (stRspr; vgl hierzu ua BSG, Urteil vom 8. Mai 1985 – 6 RKa 24/83 – juris). Das schließt es aus, im gerichtlichen Verfahren erstmals Umstände zu prüfen, auf die der Beschwerdeausschuss noch gar nicht eingehen konnte. Es würde auch Treu und Glauben widersprechen, wenn der Vertragsarzt im eigentlichen Prüfverfahren Gegebenheiten unerwähnt lässt, die auf eine Praxisbesonderheit hindeuten könnten, um sodann vor Gericht zu rügen, der Bescheid des Beschwerdeausschusses sei fehlerhaft, weil er diese Umstände nicht gewürdigt habe (so bereits BSG, Urteil vom 8. Mai 1985, aaO).

 

c) Das von dem Beklagten im Rahmen des statistischen Einzelleistungsvergleichs gewonnene Ergebnis, das Abrechnungsverhalten des Klägers bei der GOP 01435 EBM-Ä habe in den streitigen Quartalen zu den Durchschnittswerten seiner Fachkollegen in einem offensichtlichen Missverhältnis gestanden, begründe den Anschein der Unwirtschaftlichkeit und sei nicht durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt, ist dem Grunde nach zutreffend. Das Vorgehen des Beklagten zur Bildung der Vergleichsgruppe (nur Ärzte in BAGen, dh nur Abrechner der GOP EBM-Ä) und zur Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis (doppelter Vergleichsgruppendurchschnitt) weicht nicht von den oben dargestellten Rechtsgrundlagen und der Rechtsprechung des BSG zum zulässigen methodischen Vorgehen bei der Prüfung des Leistungsverhaltens von Ärzten nach Durchschnittswerten ab.

 

Sowohl vom Leistungsinhalt der GOP 01435 EBM-Ä als auch vom tatsächlichen Abrechnungsverhalten in der Vergleichsgruppe her ist eine für Allgemeinmediziner fachgruppentypische Leistung geprüft worden, die einem aussagekräftigen statistischen Vergleich zugänglich war. Die GOP 01435 EBM-Ä kann als fachgruppenübergreifende Leistung auch von Ärzten der Fachgruppe erbracht werden, der der Kläger angehört. Die GOP 01435 EBM-Ä zeichnet sich nicht durch eine spezielle, in bestimmter Weise fachlich qualifizierten Ärzten vorbehaltene Leistungslegende aus. Die Leistungen wurden in allen geprüften Quartalen von 588 bzw 619 Ärzten der Fachgruppe erbracht. Bei den nur aus diesen Leistungserbringern gebildeten Vergleichsgruppe betrugen die Ansatzfrequenzen der GOP 01435 EBM-Ä zwischen 4,8 % und 5,1 %. Demgegenüber lagen die Ansatzfrequenzen des Klägers für die GOP 01435 EBM-Ä zwischen 13,4 % und 16,9 %. Er überschritt damit den jeweiligen Vergleichswert der Gruppe um ein Mehrfaches.

 

Soweit der Beklagte nach Einsichtnahme in die Behandlungsausweise der Praxis des Klägers von Amts wegen auf der Grundlage ihm zur Verfügung stehender Daten und Unterlagen keinen überdurchschnittlichen Anteil an Patienten feststellen konnte, der ein solches Abrechnungsverhalten rechtfertigen konnte, ist das nicht zu beanstanden. Der Kläger hat auch keine Umstände vorgetragen, die den Schluss zulassen, dass er bzw seine Praxispartnerin in ihrem Patientenstamm Versicherte mit Diagnosen behandeln, die eine überdurchschnittlich häufige Anzahl an Telefonaten mit dem Praxispartner und damit die Abrechnung der GOP 01435 EBM-Ä rechtfertigen könnte. Auch die Lage der Praxis in K_______ bzw der vorgetragene überdurchschnittlich hohe Anteil an Versicherten mit Migrationshintergrund begründet keine berücksichtigungsfähige Praxisbesonderheit. Zwar kann der Senat nachvollziehen, dass Sprachbarrieren die Behandlung im Einzelfall erschweren und ein Arzt für die Behandlung eines der deutschen Sprache nicht ausreichend kundigen Patienten mehr Zeit aufwenden muss, als wenn die Behandlungssituation in deutscher Sprache stattfindet oder neben dem Kontakt mit dem Versicherten auch noch ein aufklärendes Gespräch mit sprachkundigen Angehörigen geführt werden muss. Jedoch handelt es sich nicht um eine anzuerkennende Praxisbesonderheit, da Sprachbarrieren – anders als Diagnosen oder Multimorbidität – keinen höheren Einsatz ärztlicher Arbeitsschritte oder einen telefonischen Kontakt zu dem Praxispartner zu rechtfertigen vermögen (vgl zur Nichtberücksichtigung von Sprachbarrieren als Praxisbesonderheit im Rahmen des Honorierungssystems Regelleistungsvolumen schon Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 17. Januar 2017 – L 4 KA 53/14 – juris Rn 65). Der Senat geht vielmehr davon aus, dass sich der Betreuungsaufwand für einen Versicherten faktisch erhöht, wenn im Anschluss an eine Untersuchung nicht der Behandler, sondern dessen BAG-Partner eingehende Telefonate annimmt und dieser Aufwand unwirtschaftlich ist.

 

d) Allerdings hätte der Beklagte berücksichtigen müssen, dass der Kläger in den geprüften Quartalen nicht in einer Einzelpraxis vertragsärztlich tätig war, sondern in einer Berufsausübungsgemeinschaft. In § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V ist seit der Fassung durch Gesetz vom 20. Dezember 1998 eine „arztbezogene Prüfung ärztlicher (…) Leistungen“ vorgesehen. Dabei sind sowohl die Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit in Einzelpraxis (§ 19 Zulassungsverordnung für Ärzte – Ärzte-ZV) als auch die gemeinsame Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit unter allen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringern als örtliche Berufsausübungsgemeinschaft oder als überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft zulässig (§ 33 Abs 2 Ärzte-ZV idF durch Gesetz vom 22. Dezember 2006; vgl auch bereits § 33 Abs 2 Ärzte-ZV idF durch Gesetz vom 20. Juli 1977). Mit den Vertragsärzten sind regelmäßig auch die in einer BAG verbundenen Vertragsärzte gemeint, ohne dass eine Aussage dazu getroffen wird, ob ein Anspruch der BAG oder dem einzelnen Arzt als deren Mitglied zusteht (vgl BSG, Urteil vom 4. Mai 2016 – B 6 KA 24/15 R – Rn 14)

 

aa) In der Rechtsprechung des BSG ist insoweit aber geklärt, dass Adressat des Honorarbescheides im Falle der gemeinschaftlichen Ausübung der ärztlichen Tätigkeit die nach § 33 Abs 3 iVm Abs 2 Ärzte-ZV genehmigte BAG und nicht der einzelne Arzt ist, der der BAG angehört. Die BAG tritt der KÄV wie ein Einzelarzt als einheitliche Rechtspersönlichkeit gegenüber und rechnet ihre Leistungen unter einer Abrechnungsnummer ab. Dementsprechend ist sie rechtlich gesehen eine Praxis. Sie erwirbt gegenüber der KÄV Honoraransprüche und ist ggf zur Rückzahlung überzahlten Honorars verpflichtet. Für die sachlich-rechnerische Richtigstellung der Honorarfestsetzung gilt im Grundsatz nichts anderes als für die erstmalige Festsetzung (BSG, Urteil vom 24. Januar 2018 – B 6 KA 48/16 R – juris Rn 26 mwN). Folglich wird auch die Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise nicht bezogen auf den einzelnen Arzt, sondern bezogen auf die Gemeinschaftspraxis als Einheit geprüft. Lösen die Abrechnungen oder Verordnungen der BAG Rückzahlungs- und Regressansprüche der Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung aus, hat dafür die Gemeinschaftspraxis einzustehen. Diese Einstandspflicht kann durch vertragliche Vereinbarung zwischen den Gesellschaftern der Gemeinschaftspraxis nicht im Außenverhältnis zu den Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Neben die Verpflichtung (bzw Haftung) der Gemeinschaftspraxis tritt somit eine solche ihrer Gesellschafter. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass für Regressansprüche der Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung nicht nur die Gemeinschaftspraxis selbst einzustehen hat, sondern auch jedes ihrer Mitglieder. Sie sind persönlich haftende Schuldner für Forderungen gegen die Gemeinschaftspraxis, die sich zB im Falle rechtswidrigen Behandlungs- oder Verordnungsverhaltens von Praxispartnern ergeben. Als Gesellschafter müssen sie für solche Forderungen gegen die Gemeinschaftspraxis auch in eigener Person einstehen; sie können jeder für sich in Anspruch genommen werden. Diese Einstandspflicht kann durch vertragliche Vereinbarung zwischen den Gesellschaftern der Gemeinschaftspraxis nicht im Außenverhältnis zu den Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Dementsprechend sind Regress- bzw Rückforderungsbescheide, die nur gegen einen Partner der Gemeinschaftspraxis gerichtet sind, nicht zu beanstanden (vgl BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – B 6 KA 41/03 R – juris Rn 36 – 39; BSG, Urteil vom 8. Dezember 2010 – B 6 KA 38/09 R – juris Rn 23 - 24).

 

Folglich kann ein Praxispartner Forderungen, die gegenüber der Gemeinschaftspraxis/BAG geltend gemacht werden, wahlweise zusammen mit seinen Praxispartnern gemeinschaftlich abwehren, oder er kann sie – sowohl wenn sie nur gegenüber der Gemeinschaftspraxis als auch wenn sie auch ihm selbst gegenüber geltend gemacht werden – allein abwehren (BSG, Urteil vom 3. Februar 2010 – B 6 KA 37/08 R – juris Rn 16; BSG, Urteil vom 8. Dezember 2010 – B 6 KA 38/09 R – juris Rn 24).

 

bb) Gemessen an diesen Grundsätzen ist es dem Grunde nach zulässig und rechtmäßig, dass die Prüfgremien sich an die Mitglieder einer BAG – vorliegend den Kläger - wenden und ihnen gegenüber einen Regress für von der BAG unwirtschaftlich erbrachte Leistungen geltend machen. Allerdings wurde der Kläger nicht als Gesamtschuldner für einen Regress in Anspruch genommen, der auf der Grundlage einer Prüfung der Abrechnungsdaten der BAG erfolgte, sondern lediglich aufgrund der unter seiner LANR abgerechneten Leistungen.

 

Das ist methodisch fehlerhaft und stellt auch kein rechtmäßiges „wesensgleiches Minus“ gegenüber einer Prüfung des Abrechnungsverhaltens der BAG für die GOP 01435 EBM-Ä dar, für das der Kläger als Praxispartner gesamtschuldnerisch anteilig in Anspruch genommen wird. Der Beschluss des Beklagten ist daher nach Auffassung des Senats unter diesem Gesichtspunkt aufzuheben und der Beklagte ist gleichzeitig zur Neubescheidung zu verpflichten.

 

cc) Da Rechtsgrundlage für die Festsetzung einer Prüfmaßnahme wegen Unwirtschaftlichkeit wegen der Maßgeblichkeit der im geprüften Zeitraum geltenden Rechtslage zum Gegenstand der Prüfung und den Grundsätzen der Prüfung (BSG, Urteil vom 6. April 2022 – B 6 KA 6/21 R – juris Rn 15; BSG, Urteil vom 22. Oktober 2014 – B 6 KA 3/14 R – juris Rn 37; Rn 39: anders bei Verfahrensvorschriften, die sofort wirksam werden) die PrüfV 2012 ist, kann die von dem Beklagten schriftsätzlich genannte Regelung in § 39 der PrüfV 2016 vom 31. Juli 2016 auf Prüfungen für die Quartale II und III/2015 keine Anwendung finden. Eine entsprechende gesetzliche Anordnung für eine solche Prüfung gibt es nicht. Der Beklagte kann einen Regressbescheid nach einer Prüfung nur der unter seiner LANR abgerechneten Leistungen eines BAG-Mitglieds daher nicht mit dieser Regelung rechtfertigen.

 

dd) Der Beklagte wird daher bei der Neubescheidung die Ansatzfrequenz der GOP 01435 EBM-Ä für die Vergleichsgruppe aller die GOP 01435 EBM-Ä abrechnenden BAGen aus Allgemeinmedizinern zu bilden und diese Ansatzfrequenz der gebildeten Vergleichsgruppe ins Verhältnis zu der Ansatzfrequenz der Praxis des Klägers und seiner BAG-Partnerin für diese GOP EBM-Ä zu setzen haben. Nur dann, wenn die Ansatzfrequenz der insoweit klägerischen Praxis das doppelte des für alle BAGen ermittelten Ansatzfrequenz überschreitet, liegt ein offensichtliches Missverhältnis bei der Abrechnung der GOP 01435 EBM-Ä vor, das gegenüber der im Prüfzeitraum noch existierenden BAG des Klägers und seiner Praxispartnerin unter Beachtung des Verböserungsverbots regressiert werden kann. Da eine BAG für die Zwecke der Prüfung und Geltendmachung von Rechten und Pflichten als fortbestehend gilt (vgl BSG, Urteil vom 7. Februar 2007 – B 6 KA 6/06 R – Rn 11), steht dem vorstehend beschriebenen Regress nicht entgegen, dass Frau I_____ zwischenzeitlich nicht mehr in der BAG tätig ist. Entscheidend ist, dass sie in den Prüfquartalen Mitglied der BAG war.

 

5. Bei einer Neubescheidung über die Unwirtschaftlichkeit der BAG hat der Beklagte jedoch nicht zu bedenken, vorrangig eine Beratung erteilen zu müssen.

 

Der Beschluss vom 29. November 2017 ist nicht deshalb materiell rechtsfehlerhaft, weil der Beklagte den Kläger bzw die BAG nach dem festgestellten unwirtschaftlichen Leistungsverhalten anstelle eines Regresses hätte beraten müssen. Der Kläger und seine BAG-Partnerin wurden bereits zu unwirtschaftlicher Abrechnung von Einzelleistungen beraten <dazu a)> und es lag ein offensichtliches Missverhältnis vor, das die Prüfstelle auch von einer Verpflichtung zur Beratung entbunden hätte <dazu b)>. Sonstige Hinderungsgründe liegen ebenfalls nicht vor <dazu c) und d)>.

 

a) Nach § 106 Abs 5 Satz 1 SGB V entscheidet die Prüfungsstelle, ob der Vertragsarzt, der ermächtigte Arzt oder die ermächtigte Einrichtung gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat und welche Maßnahmen zu treffen sind. Dabei sollen gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen in der Regel vorangehen (§ 106 Abs 5 Satz 2 SGB V). Nach dem einer anderweitigen Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut in § 16 Abs 4 der PrüfV 2012 gilt der Vorrang der Beratungspflicht nicht nur für Richtgrößenprüfungen, sondern auch für „Prüfungen nach Durchschnittswerten gemäß § 9 Abs 2 und 3“ der PrüfV, soweit die festgestellte Überschreitung „zu einer erstmaligen Regressfestsetzung führen“ würde. Diese Absätze beziehen sich ua auf die „Prüfung ärztlicher Leistungen“ (§ 9 Abs 2 der PrüfV 2012) – vorliegend die GOP 01435 EBM-Ä.

 

Der Kläger und seine BAG-Partnerin überschritten den Durchschnitt der Abrechnung ärztlicher Leistungen jedoch nicht erstmals in den hier verfahrensgegenständlichen Quartalen mit der Folge, dass diese Überschreitung „zu einer erstmaligen Regressfestsetzung führen würde“. Bereits für das Quartal I/2006 wurde festgestellt, dass der Anteil abgerechneter Gesprächsleistungen der Gemeinschaftspraxis, der der Kläger angehört, den doppelten Durchschnitt der Fachgruppe überschritt. Er war dementsprechend – gemeinsam mit seiner Praxispartnerin – Adressat der Beratung für die Abrechnung der GOP 03001 EBM-Ä in dem Quartal I/2006. Auf arztindividuelles Verschulden kommt es im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 106 SGB V nicht an (BSG, Urteil vom 5. November 2008 – B 6 KA 63/07 R – Rn 28; BSG, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – B 6 KA 57/11 B – Rn 9). Anhaltspunkte dafür, an dem Zugang der Beschlüsse bei der damaligen Gemeinschaftspraxis zu zweifeln, liegen nicht vor.

 

Die Beratung für das Quartal I/2006 gilt als Beratung nach „festgestellter Überschreitung (des Durchschnitts), die zu einer erstmaligen Regressfestsetzung führen“ würde iSv § 16 Abs 4 PrüfV. Dem steht nicht entgegen, dass § 16 Abs 4 Satz 2 SGB V vorsieht, dass dies – der Grundsatz Beratung vor Regress – für solche Prüfverfahren gilt, über welche ab dem 1. Januar 2012 entschieden wird. Diese Regelung lautet nicht dahingehend, dass der Wortlaut vorsieht „Dies gilt erstmals für die vorgenannten Prüfverfahren, über welche ab dem 01.01.2012 entschieden wird“ mit der Folge, dass immer dann, wenn ab dem 1. Januar 2012 über ein Prüfverfahren entschieden wird, zuerst eine Beratung erfolgt und dann erst bei wiederholter Überschreitung ein Regress festgesetzt werden kann. Der Bezug auf den Stichtag 1. Januar 2012 führt lediglich dazu, dass „eine individuelle Beratung erfolgt“, dh zwingend durchzuführen ist. Damit wird diese Prüfvereinbarung von der ab 1. Januar 2004 und der ab 1. Januar 2008 geltenden PrüfV abgegrenzt, wonach jeweils gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen lediglich „in der Regel vorangehen (sollen)“ (vgl § 6 Abs 3 Satz 3 PrüfV 2006 vom 5. Januar 2006). Zeitliche Grenzen für die Geltungsdauer einer Beratung nach wirtschaftlicher Auffälligkeit durch Überschreiten des doppelten Durchschnitts bei der Abrechnung einer Einzelleistung nach GOP EBM-Ä gelten weder nach dem Wortlaut der PrüfV oder dem SGB V noch nach der Rechtsprechung.

 

b) Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des BSG eine vorgängige Beratung gemäß § 106 Abs 5 Satz 2 SGB V dann nicht erforderlich, wenn dem Arzt ein Mehraufwand im Ausmaß eines sogenannten offensichtlichen Missverhältnisses anzulasten ist. Denn jeder Vertrags(zahn)arzt ist sogleich von Beginn seiner Tätigkeit an zur Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots verpflichtet (BSG, Urteil vom 28. April 2004 – B 6 KA 24/03 R – Rn 22; BSG, Urteil vom 13. Mai 2020 – B 6 KA 25/19 R – Rn 34). Allerdings lässt der Senat vorliegend offen, ob der Beklagte angesichts der früheren deutlichen Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts für Einzelleistungen durch den Kläger und seine BAG-Partnerin auf eine vorherige Beratung auch hätte verzichten können (vgl zu dieser Thematik auch das Senatsurteil vom 6. Juni 2023 – L 4 KA 43/19).

 

c) Schließlich liegen keine Anhaltspunkte für Vertrauensschutz vor. Vertrauensschutz in die Billigung eines Leistungs- und Abrechnungsverhaltens kann allenfalls durch eine explizite quartalsbezogene schriftliche verbindliche Einlassung der Prüfstelle als entscheidender Institution begründet werden (BSG, Urteil vom 5. November 2008 – B 6 KA 63/07 R – Rn 30; BSG, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – B 6 KA 57/11 B – Rn 9). Eine solche Erklärung lag für die verfahrensgegenständlichen Quartale nicht vor.

 

d) Der Kläger kann sich schließlich nicht auf die Regelung zu einer „erstmaligen Auffälligkeit bei statistischen Prüfungen“ iSv § 5 Abs 2 der „Rahmenvorgaben nach § 106b Abs 2 SGB V für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen vom 30. November 2015“ berufen, da diese nur für ärztlich verordnete Leistungen, nicht jedoch für nach dem EBM-Ä oder sonstiger Regelwerke abrechenbare erbrachte ärztliche Leistungen gelten. Sie kann auch nicht entsprechend oder in Form vereinzelter Rechtsgedanken herangezogen werden. Dafür gibt es weder eine Rechtsgrundlage noch eine ausfüllungsbedürftige Lücke bei der Regelung der Wirtschaftlichkeitsprüfung für ärztliche Leistungen in § 106 SGB V oder der PrüfV 2012.

 

Nach allem war die Entscheidung des Beklagten fehlerhaft und er zur Neubescheidung unter Beachtung der aufgezeigten Rechtsprechung des BSG zur Wirtschaftlichkeitsprüfung von Einzelleistungen sowie der Rechtsauffassung des Senats zur Vergleichsgruppenbildung, zur Anerkennung von Praxisbesonderheiten und zu der Frage „Beratung vor Regress“ zu verpflichten. Für die Geltendmachung des so berechneten Regresses haften neben der BAG der Kläger und seine BAG-Partnerin gesamtschuldnerisch.

 

6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 197a SGG, 154 Abs 1, 162 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass in Verfahren, die die Rechtmäßigkeit einer vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung zum Gegenstand haben, das (hier: in der Hauptsache beantragte und im Ergebnis auch erfolgreiche) Anfechtungsbegehren des Klägers dem Erlass eines (hier: zumindest hilfsweise beantragten) Neubescheidungsurteils iSv § 131 Abs 3 SGG nicht entgegensteht (vgl hierzu Landessozialgericht <LSG> Niedersachen-Bremen, Urteil vom 5. März 2014 – L 3 KA 14/12 – juris Rn 18 ff mwN).

 

7. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) lagen nicht vor. Der Senat weicht nicht von der Rechtsprechung des BSG ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und in diesem Verfahren wurden keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung geklärt (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

 

8. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs 1, 52 Abs 1 und Abs 3 Satz 1, 63 Abs 2 Gerichtskostengesetz (GKG).

Rechtskraft
Aus
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