Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2023 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Genehmigung der Versorgung mit Cannabis in Form standardisierter Vollpflanzenextrakte.
Der 1986 geborene und bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger beantragte am 15. Juni 2020 unter Vorlage eines Arztfragebogens der überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft des Medizinischen Versorgungszentrums zibp B vom 4. Juni 2020 (Kläger leide an gemischtem Kopfschmerz mit chronischem Schmerzsyndrom und chronisch rezidivierendem zervikozephalem Syndrom bei Dauerspannung, Behandlungsziel sei Schmerzreduktion, bisherige Maßnahmen <physikalische Therapie, Osteopathie, Schmerzmittel> hätten keinen gewünschten dauerhaften Therapieerfolg erzielt), eines ärztlichen Berichts des Privatarztes für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. S vom 24. Januar 2020 sowie eines Berichts der Privatärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M vom 6. Mai 2020 die Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit Cannabis. Auf den Inhalt der ärztlichen Unterlagen wird im Übrigen Bezug genommen.
Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes (MD) vom 19. Juni 2020 ab (Bescheid vom 3. Juli 2020). Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger Stellungnahmen von Dr. S vom 22. Juli 2020 bzw von seinem Hausarzt Dr. B vom 4. September 2020 vor, der im Wesentlichen auf den Bericht von Dr. S verweist und dessen Einschätzung unterstützt. Die Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer weiteren MD-Stellungnahme vom 15. September 2020 zurück (Widerspruchsbescheid vom 26. November 2020). Die Voraussetzungen einer Kostenübernahme für eine Cannabistherapie lägen nicht vor.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat, nachdem im Klageverfahren weitere Stellungnahmen von Dr. B vom 31. August 2021 bzw 26. Januar 2022 und von Dr. S vom 11. Februar 2022 und seitens der Beklagten MD-Gutachten vom 1. Juli 2021 bzw 7. Juli 2022 vorgelegt wurden, nach Anhörung des Klägers und Vernehmung von Dr. S die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide antragsgemäß verurteilt, die Kostenübernahme für Cannabis in Form standardisierter Vollpflanzenextrakte zu genehmigen und den Kläger nach vertragsärztlicher Verordnung damit zu versorgen (Urteil vom 13. Dezember 2023). Zur Begründung ist ua ausgeführt: Der Anspruch des Klägers ergebe sich aus § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V). Eine schwerwiegende Erkrankung liege bei dem Kläger nach dessen Schilderungen und denen von Dr. S vor. Nach der begründeten Einschätzung von Dr. S insbesondere vom 11. Februar 2022 könne zudem eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende andere Leistung nicht zur Anwendung kommen. Auch die weiteren Voraussetzungen einer Genehmigung der Cannabisversorgung seien erfüllt.
Mit ihrer Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil und rügt einen Verstoß gegen § 31 Abs. 6 SGB V. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 SGB V seien nicht erfüllt. Eine schwerwiegende Erkrankung iS der Vorschrift liege nicht vor. Zudem genüge die begründete Einschätzung von Dr. S, der kein Vertragsarzt sei, schon deshalb nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil nicht dargelegt werde, wann für die bei dem Kläger vorliegenden Symptomgruppen konkret und mit welchem Erfolg die in Betracht kommenden Standardtherapien, zB eine multimodale Schmerztherapie, angewandt worden seien bzw weshalb diese nicht in Betracht kämen. Die Beklagte legt ergänzend ein MD-Gutachten vom 14. März 2024 vor, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Akten der Beklagten und die Gerichtsakten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist begründet. Die statthafte kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) auf Erteilung einer Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisprodukten (vgl insoweit Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 29. August 2023 – B 1 KR 26/22 R – juris – Rn 8) ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer entsprechenden Genehmigung durch die Beklagte liegen nicht vor.
Nach § 31 Abs. 6 SGB V, eingefügt durch Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes vom 6. März 2017 (BGBl I 403) mWv 10. März 2017, haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon (nachfolgend zusammengefasst Cannabis), wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden (Satz 1), eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (Satz 1 Nr 1) und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Satz 1 Nr 2). Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der KK, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2).
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens fehlt es bereits an einer schwerwiegenden Erkrankung des Klägers.
Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R = SozR 4-2500 § 31 Nr 31 – Rn 11 mwN aus der Rspr). Der Kläger leidet an einer chronischen Schmerzerkrankung. Anhaltspunkte für eine Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung in dem Sinne, dass die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs nach allgemeiner Erkenntnis oder nach der Beurteilung im konkreten Einzelfall innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums drohen würde (vgl BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R = SozR 4-2500 § 31 Nr 8 – Rn 19), bestehen nicht und sind auch vom Kläger selbst nicht aufgezeigt worden.
Ist die Erkrankung nicht lebensbedrohlich, besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis nur, wenn die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist. Von einer dauerhaften Beeinträchtigung der Lebensqualität ist in Anlehnung an entsprechende Regelungen in §§ 43, 101 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI), § 2 Abs. 1 Satz 1 – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (SGB IX), § 14 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI), § 30 Abs. 1 Satz 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab einem Zeitraum von (voraussichtlich) sechs Monaten auszugehen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich nicht aus der gestellten Diagnose, sondern aus den konkreten Auswirkungen der Erkrankung. Diese müssen den Betroffenen überdurchschnittlich schwer beeinträchtigen, wofür die GdS(Grad der Schädigungsfolgen)-Tabelle aus Teil 2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anhaltspunkt dienen kann.
Die Lebensqualität wird im Wesentlichen nicht durch die Diagnose einer Erkrankung beeinflusst, sondern durch die Auswirkungen der Erkrankung auf das Leben der Betroffenen. Lebensqualität umschreibt das Vermögen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen selbst zu gewährleisten, soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen. Ob und inwieweit eine erkrankte Person noch dazu in der Lage ist, hängt von der Art und Schwere der durch die Erkrankung verursachten Gesundheitsstörungen ab. Die dauerhafte und nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich deshalb nicht allein aus einer ärztlich gestellten Diagnose. Entscheidend sind die durch die Erkrankung hervorgerufenen Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen. Die Auswirkungen der Krankheit mit den sich aus dieser ergebenden Beeinträchtigungen müssen sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben. Nur dann liegt auch eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität vor. Insoweit ist es nach der Rspr des BSG, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt (vgl BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – Rn 15ff) gerechtfertigt, sich an die Bewertung der Auswirkungen von Krankheiten in Teil 2 der Anlage zu § 2 VersMedV anzulehnen. Diese dient zur Beurteilung des GdS (§ 30 Abs. 1, Abs. 16 BVG) sowie des Grades der Behinderung (GdB) als Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe an der Gesellschaft (§ 2 Abs. 2, § 153 Abs. 2, § 241 Abs. 5 SGB IX) und stellt einen sozialrechtlichen Maßstab für die Schwere krankheitsbedingter Beeinträchtigungen dar. Sowohl GdS als auch GdB stellen auf die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in der Gesellschaft ab (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG; § 2 Abs. 1 SGB IX). Davon sind neben Arbeit und Beruf auch die Stellung des Betroffenen in der Gesellschaft und seine sozialen Beziehungen umfasst. Dies deckt sich mit dem medizinisch geprägten Begriff der Lebensqualität, der die Wahrnehmung des Betroffenen zu seiner Position im Leben im Blick hat.
Unter Zugrundelegung der aufgezeigten Maßstäbe ist zur Überzeugung des Senats nicht feststellbar, dass die Lebensqualität des Klägers durch die Erkrankung auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt wäre. Die im Vordergrund stehenden spannungsartigen Kopfschmerzen des Klägers sind in der VersMedV nicht abgebildet. Ein Rückgriff auf die Angaben zur Migräne (Anlage zu § 2 VersMedV Teil A 2.3) verbietet sich schon deshalb, weil der Kläger an einer „echten“ Migräne nicht leidet. Eine plausible Schmerzanamnese lässt sich den vorliegenden Unterlagen seiner Behandler schon nicht entnehmen. In Bezug auf die Funktionsbeeinträchtigungen in der Gesellschaft sind auch in Ansehung des Vorbringens des Klägers im Verhandlungstermin bei dem SG zwar Beeinträchtigungen, aber keine wesentlichen Einschränkungen belegt. Es wurde bislang kein GdB festgestellt. Der Kläger steht voll im Berufsleben und ist auch ehrenamtlich tätig. Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen der Schmerzerkrankung sind nicht dokumentiert wie auch ansonsten längere Arbeitsunfähigkeitszeiten ebenso wenig vorliegen wie stationäre bzw rehabilitative Behandlungen, die Anhalt für eine – nachhaltige - Beeinträchtigung der Lebensqualität sein könnten. Ersichtlich sind auch weder ein Antrag auf eine kognitive Verhaltenstherapie noch eine fortgesetzte physiotherapeutische Behandlung. Schließlich ist nach Auskunft der Beklagten seit Versicherungsbeginn bei ihr (1. April 2017) auch keine Verordnung von Schmerzmedikamenten zu ihren Lasten erfolgt, ohne dass sich der Kläger hierzu verhalten hätte.
Ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis setzt ferner voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr 1a SGB V). Vorliegend steht - worauf der MD in seinen gutachterlichen Stellungnahmen, zuletzt vom 14. März 2024, nachvollziehbar und unter Würdigung der vorliegenden Befunde überzeugend hingewiesen hat - eine allgemein anerkannte Standardtherapie zur Behandlung der Schmerzerkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels der Schmerzlinderung zur Verfügung. Für den Kläger besteht danach die Möglichkeit einer schmerztherapeutischen Vorstellung zur Abklärung/Differenzierung der Schmerzen und zur Einleitung einer ggf stationären multimodalen, interdisziplinären, komplexen Schmerztherapie (MMST). Die bisherige Durchführung einer solchen Schmerztherapie wurde weder vom Kläger oder seinem behandelnden Vertragsarzt bzw seinen behandelnden Privatärzten behauptet noch ist sie sonst ersichtlich. Das Einsetzen einzelner Therapieelemente einer MMST im ambulanten Bereich ist nicht mit einer stationär durchgeführten MMST gleichzusetzen. Denn diese sieht im Rahmen eines interdisziplinär-multimodalen schmerztherapeutischen Settings auch den Einsatz nicht-medikamentöser, psychotherapeutischer und körperlich aktivierender Verfahren vor, ergänzt durch physikalische Maßnahmen und Entspannungstechniken. Eine solche MMST ist bei dem Kläger bisher nicht erfolgt, so dass bereits aus diesem Grund die Annahme der behandelnden Ärzte, es bestünden außer der begehrten Cannabisversorgung keine weiteren Behandlungsalternativen bzw diese seien ausgeschöpft, nicht zutreffend ist. Für den daneben vorliegenden Schwindel und die Schlafstörungen kommen nach eingehender neurologischer und HNO-ärztlicher Diagnostik, die bislang ebenfalls nicht erfolgt ist, als Standardtherapien Physiotherapie, Gleichgewichtstraining, kognitive Verhaltenstherapie bzw medikamentöse Therapie in Betracht.
Stehen für die Behandlung der Erkrankungen – wie dargelegt - Methoden zur Verfügung, die dem medizinischen Standard entsprechen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr 1b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind indes hohe Anforderungen zu stellen. Diese muss enthalten (vgl zum Ganzen BSG, Urteil vom 29. August 2023 – B 1 KR 26/22 R – Rn 14 mwN): (1) die Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte, (2) die Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels, (3) bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen; die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen, und (4) die Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis; in die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.
Die Genehmigung der Verordnung kann zwar gemäß § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden. Ein begründeter Ausnahmefall setzt voraus, dass über die Anspruchsvoraussetzungen nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V hinausgehende, besondere Umstände vorliegen. Jegliche Umstände, die bereits in die Abwägung des Vertragsarztes zur Abgabe der begründeten Einschätzung (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V) einzustellen sind, sind nicht geeignet, als begründeter Ausnahmefall eine Ablehnung der Genehmigung zu rechtfertigen. Sollte der Vertragsarzt die notwendige Abwägung nicht auf vollständiger und zutreffender Tatsachengrundlage unter Berücksichtigung der Gründe, die einer Therapie mit Cannabis entgegenstehen können, vorgenommen haben, scheitert der Genehmigungsanspruch indes bereits an der unzureichend begründeten Einschätzung (vgl dazu BSG, Urteil vom 10. November 2022 - B 1 KR 28/21 R – Rn 38), die vom Versicherten bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz beizubringen ist (BSG aaO Rn 39), ohne dass das Gericht verpflichtet wäre, selbst beim behandelnden Vertragsarzt eine begründete Einschätzung anzufordern bzw ihre Ergänzung um bisher nicht berücksichtigte Tatsachen zu erbitten. Die vorliegend eingereichte(n) Einschätzung(en) der behandelnden Ärzte des Klägers sind nach den genannten Maßstäben unzureichend begründet.
Es fehlt an einer den genannten Anforderungen genügenden begründeten Einschätzung zur Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie durch einen Vertragsarzt. Dr. S ist bereits kein Vertragsarzt, ebensowenig Dr. M. Soweit sich der behandelnde Hausarzt, der Vertragsarzt Dr. B, in seiner Stellungnahme vom 4. September 2020 der Beurteilung von Dr. S „vollumfänglich anschließt“ und den Einsatz von 5%-igem CBD-Öl befürwortet, ist diese Stellungnahme einerseits überholt (weil der Kläger eine Versorgung mit diesem Rezepturarzneimittel nicht mehr anstrebt), zum anderen aber auch unvollständig, weil Dr. B in seinem Bericht vom 26. Januar 2022 gegenüber dem SG zugleich erklärt, über Behandlungsalternativen sollte der behandelnde Schmerztherapeut befragt werden. Er hatte bereits zuvor (vgl Stellungnahme vom 31. August 2021) betont, „die Hoheit der spezifischen Schmerzbehandlung“ liege bei Dr. S. Eine eigenständig begründete Einschätzung zur Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie durch einen Vertragsarzt entsprechend der vom BSG geforderten inhaltlichen Anforderungen liegt daher schon deshalb nicht vor, weil Dr. B weder vollständig bereits angewendete Standardtherapien und deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen beschreibt noch die weiter verfügbaren Standardtherapien, insbesondere eine MMST, und deren zu erwartenden Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen konkret aufzeigt.
Selbst wenn durch die pauschale Bezugnahme des Hausarztes auf die Einlassungen von Dr. S auf dessen Einschätzung(en) abzustellen wäre, ergäbe sich keine andere Beurteilung. Auch dieser Arzt hat nicht nachvollziehbar und inhaltlich vollständig begründet, warum eine MMST bei dem Kläger nicht zur Anwendung kommen kann und welchen Erfolg sie absehbar hätte. Die Stellungnahmen von Dr. S enthalten bereits keine genügende und vollständige Darstellung der in die Abwägung einzustellenden Tatsachen. So fehlt es bereits an einer vollständigen Darlegung, wann und für welchen Zeitraum und mit welchem Erfolg insbesondere nicht-medikamentöse Standardtherapien, namentlich eine hier nach den überzeugenden Stellungnahmen des MD vorrangig als Therapie der Wahl anzusehende MMST, ggf mit welchen Nebenwirkungen, durchgeführt wurden. Zwar führt Dr. S in der Zeit von „2014 bis 2018“, ohne dies im Einzelnen näher zu umreißen, für die von ihm detailliert genannten Medikamente Therapieschemata, Behandlungsverlauf und Behandlungserfolg auf, ohne dass eine entsprechende Verordnung zu Lasten der Beklagten seit 1. April 2017 ersichtlich wäre. Eine Konkretisierung nicht-medikamentöser Standardtherapien erfolgt indes nur unzureichend und unvollständig, weder sind konkrete Zeiträume für die genannten Therapien aufgeführt noch Einzelheiten zu einem zwar benannten, allerdings nicht datierten stationären Aufenthalt in einer namentlich nicht bezeichneten Klinik und einer „Kopfschmerz-Klinik“ aufgeführt. Gleiches gilt für die in Bezug auf die weiteren Symptomgruppen (Schwankschwindel, Schlafstörungen) in Betracht zu ziehenden Standardtherapien. Dr. S beschränkt sich im Ergebnis im Wesentlichen auf die detaillierte Beschreibung angewandter medikamentöser Therapieverfahren, ohne plausibel darzulegen, weshalb „zusammenfassend die nichtoperativen Behandlungsmaßnahmen ausgeschöpft“ seien (vgl zuletzt Stellungnahme vom 11. Februar 2022). Eine neue, den oben genannten Anforderungen entsprechende, begründete vertragsärztliche Einschätzung hat der Kläger bis zuletzt nicht vorgelegt.
Die Beklagte hat schließlich auch die Frist zur Entscheidung über den Antrag nach Einholung der MD-Stellungnahme gewahrt (vgl § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V; seit 27. Juli 2023 nunmehr § 31 Abs. 6 Sätze 11 und 12 SGB V). Eine Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V scheidet damit aus.
Bei dieser Sach- und Rechtslage war vom Senat nicht zu entscheiden, ob die vom SG ausgeworfene Genehmigung einer weitreichenden Kostenübernahme ohne Differenzierung auf das kostengünstigste Mittel zutreffend gewesen wäre. Die Krankenkasse kann nämlich trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der vom Vertragsarzt beabsichtigten Verordnung verweigern und auf ein günstigeres, voraussichtlich gleich geeignetes Mittel oder eine voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform verweisen (vgl BSG aaO Rn 54).
Ergänzend ergeht der Hinweis, dass durch die mWv 27. Juli 2023 durch Art. 2 Nr. 1d des Gesetzes vom 19. Juli 2023 (BGBl I Nr 197) in § 31 Abs. 7 SGB V eingefügte Verpflichtung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Nr. 6 SGB V bis zum 1. Oktober 2023 das Nähere zu einzelnen Facharztgruppen und den erforderlichen ärztlichen Qualifikationen zu regeln, bei denen der Genehmigungsvorbehalt nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V entfällt, künftig ggf auch eine Verordnung durch Dr. B als Facharzt für Allgemeinmedizin ohne vorherige Genehmigung in Betracht kommt (vgl Beschluss des GBA über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie: Abschnitt N § 45 <Genehmigungsvorbehalt Cannabisarzneimittel> vom 18. Juli 2024, noch nicht in Kraft). Allerdings setzt der Versorgungsanspruch des Versicherten, dh sein Sachleistungsanspruch und damit die für den Bezug von Cannabis erforderliche, nach der derzeit noch geltenden Rechtslage (bei der ersten Verordnung) genehmigungspflichtige und nach Inkrafttreten der og Richtlinie genehmigungsfreie vertragsärztliche Verordnung (vgl zur Ausgestaltung des Sachleistungsanspruchs bei Cannabisprodukten zB BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2023 – B 1 KR 32/23 BH – juris – Rn 13) auch weiterhin die Erfüllung der – hier nicht gegebenen - tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V voraus. Ggf kann daher trotz des Wegfalls des Genehmigungserfordernisses der Vertragsarzt freiwillig die Genehmigung der Krankenkasse beantragen, um finanziellen Rückforderungen (Regress) vorzubeugen (vgl I.2. der genannten Richtlinie).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.