L 9 AS 322/19

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Meiningen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 4 AS 1312/18
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 322/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die vom Veranstalter geltend gemachten Kosten für die Teilnahme an einer Jugendweihefeier sind nach dem SGB II grundsätzlich zu übernehmen; die Jugendweihe ist eine vergleichbare angeleitete Aktivität der kulturellen Bildung nach § 28 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 SGB II.

2. Bei vorläufigen Bewilligungen mit einem üblichen Bewilligungszeitraum von lediglich sechs Monaten (§ 41 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II) ist für die Bewilligung von Teilhabeleistungen am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft der Regelbewilligungszeitraum von einem Jahr (§ 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II) in den Blick zu nehmen. Kosten, die über dem Pauschalbetrag für sechs Monate liegen, sind in diesem Fall vom Grundsicherungsträger zu tragen, wenn sie den Pauschalbetrag für ein Jahr nicht übersteigen.

3. Macht der Leistungsberechtigte von der Möglichkeit ermäßigter Teilnahmekosten an der Jugendweihefeier für SGB 2 - Empfänger keinen Gebrauch, so hat er für die dadurch entstehenden Kosten selbst aufzukommen.

für Recht erkannt:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 04. Februar 2019 wie folgt abgeändert: Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2018 verpflichtet, den Bescheid vom 08. März 2017 aufzuheben und dem Kläger EUR 60,00 für die Teilnahme des Klägers an der Jugendweihe zu bewilligen. Im Übrigen wird die Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger 3/5 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem Sozialgericht und 5/6 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem Landessozialgericht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren wird abgelehnt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens um die Übernahme der Kosten für die Teilnahme des Klägers an der Jugendweihe.

Der am …. geborene Kläger und seine im Jahre …. geborene Mutter sowie sein im Jahre …. geborener Bruder bezogen im Jahre 2017 vom Beklagten Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), wobei der Kläger in einzelnen Monaten aufgrund des den Bedarf übersteigenden Einkommens, das bei der Mutter berücksichtigt wurde, keine Leistungen erhielt. Mit Bescheid vom 20. Dezember 2016 (vgl. Schreiben des Beklagten vom 11. März 2019, Berechnungsbögen Beiakte Nr. 3) wurden der Bedarfsgemeinschaft Leistungen für Januar 2017 bis Juni 2017 im Hinblick auf schwankendes Erwerbseinkommen der Mutter lediglich vorläufig bewilligt.

Dem Kläger wurden mit Bescheid vom 08. März 2017 (Bl. 18 f. d. VwA.) Leistungen in Höhe von EUR 60,00 für die Teilnahme an einem Trainingslager (Dauer vom 06. bis 09. Februar 2017) bewilligt. Derartige Leistungen wurden im 2. Halbjahr nicht beantragt. Der Antrag des Klägers auf Übernahme der bis zum 17. Februar 2017 fälligen Kosten für die Teilnahme an der am 13. Mai 2017 stattfindenden Jugendweihefeier in Höhe von EUR 100,00 (die mögliche Reduzierung des Beitrages auf EUR 70,00 wurde vom Kläger nicht beantragt) wurde ebenfalls mit Bescheid vom 08. März 2017 (Bl. 16 f. d. VwA.) abgelehnt. Dieser Bescheid wurde zunächst bestandskräftig. Überprüfungsanträge vom 04. Mai 2017 und vom 19. Mai 2017 wurden mit Bescheid vom 30. August 2017 abgelehnt, der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Gegen den Widerspruchsbescheid erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht (Az.: S 4 AS 1799/17). Diese wurde zurückgenommen (vgl. S. 2 des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2018, Bl. 45 f. d. VwA.). Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 24. Mai 2018 (Bl. 41 d. VwA.) beantragte der Kläger erneut die Überprüfung des Bescheides. Dieser Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 27. Juni 2018, Bl. 40 d. VwA.). Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 23. Juli 2018 Widerspruch (Bl. 43 d. VwA.), der durch Widerspruchsbescheid vom selben Tage zurückgewiesen wurde (Bl. 45 f. d. VwA.).

Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 23. August 2018 Klage zum Sozialgericht. Nach teilweiser Beschränkung des Klageantrages hob das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 04. Februar 2019 auf und verpflichtete den Beklagten antragsgemäß, dem Kläger die Aufwendungen für die Teilnahme an der Jugendweihefeier in Höhe von EUR 70,00 zu erstatten. Die Berufung wurde zugelassen. Gegen das am 12. Februar 2019 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, die am 11. März 2019 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der der Beklagte die Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und die Abweisung der Klage begehrt. Der Kläger habe den geltend gemachten Anspruch nicht, da sein Budget an Teilhabeleistungen aufgrund der bewilligten Kosten für die Teilnahme am Trainingslager aufgebraucht sei.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 04. Februar 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des Urteils des Sozialgerichts, die er für zutreffend hält.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte entscheiden, obwohl die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten waren. Denn in der Ladung wurde auf diese Möglichkeit hingewiesen. Die Berufung ist nur zu einem geringen Teil begründet.

Die Berufung ist nach § 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, nachdem sie durch das Sozialgericht zugelassen wurde und das Landessozialgericht an die Zulassung gebunden ist (§ 144 Abs. 3 SGG). Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

Die Berufung ist bezüglich eines Betrages von EUR 10,00 begründet, im Übrigen unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung entgegenstehender Bescheide verpflichtet, dem Kläger die Kosten für die Teilnahme an der Jugendweihefeier zu erstatten. Allerdings hat der Kläger lediglich Anspruch auf Gewährung eines Betrages von EUR 60,00. Soweit die Gewährung dieses Betrages abgelehnt wurde, sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).

Der rückwirkenden Gewährung der mit Bescheid vom 08. März 2017 abgelehnten Leistungen für die Teilnahme an der Jugendweihefeier am 13. Mai 2017 steht die Jahresfrist des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II (i. d. F. vom 24. März 2011, BGBl. I 2011, S. 453) i. V. m. § 44 Abs. 4 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht entgegen.

Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X gilt: Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Abs. 1 Satz 2). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (Abs. 1 Satz 3). Abweichend von der Vierjahresfrist des Abs. 4 Satz 1 bestimmt § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der hier anwendbaren Fassung (vgl. oben), dass anstelle des Vierjahreszeitraums des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ein Zeitraum von einem Jahr tritt. Der Zeitpunkt des Antrages im Mai 2018 (§ 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X) liegt damit innerhalb der Jahresfrist des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 28 Abs. 7 SGB II (in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung vom Dezember 2016, BGBl. I 2016, S. 3159). Nach Satz 1 wird bei Leistungsberechtigten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ein Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft in Höhe von insgesamt 10 Euro monatlich berücksichtigt für 1. Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, 2. Unterricht in künstlerischen Fächern (zum Beispiel Musikunterricht) und vergleichbare angeleitete Aktivitäten der kulturellen Bildung und 3. die Teilnahme an Freizeiten.

Den berücksichtigungsfähigen Bedarfen gemeinsam ist die institutionell organsierte Teilhabeform (Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, Rn. 193 zu § 28), nicht erfasst sind daher Bedarfe für eine rein individuelle Freizeitgestaltung oder die familiäre Freizeitgestaltung (z. B. ein Zoobesuch mit der Familie). Die Jugendweihefeier ist im Rahmen des J. O. e. V. institutionell organisiert. 

Der Jugendweihefeier, die nach Angaben des Veranstalters den symbolischen Schritt ins Erwachsenenleben unvergesslich machen soll, geht ein mehrmonatiges Vorbereitungsprogramm voraus. Dieses umfasst vielfältige Angebote, die sich mit den unterschiedlichsten Facetten des Erwachsenwerdens befassen und Möglichkeiten bieten, Neues zu entdecken, andere Menschen zu treffen oder sich besser kennenzulernen, Fähigkeiten zu entwickeln und Vertrautes kritisch zu hinterfragen (vgl. Margrit Witzke: Den eigenen Weg finden: Humanistische Jugendarbeit und JugendFEIER, in: Humanismus ist die Zukunft. Festschrift 100 Jahre Humanistischer Verband Berlin 2006, zitiert nach Wikipedia „Jugendweihe“, Stand 01. November 2019). An der Jugendweihe nimmt insbesondere in den neuen Bundesländern ein Großteil der Jugendlichen im Alter von 14 Jahren teil. Eine Nichtteilnahme an der Feier allein aus finanziellen Gründen könnte eine deutlich ausgrenzende Wirkung bereits im Vorfeld und auch im Nachhinein für einen Jugendlichen haben. Die Jugendweihe ist demnach eine vergleichbare angeleitete Aktivität der kulturellen Bildung i. S. v. § 22 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 SGB II. Die Kosten für die Teilnahme sind demnach grundsätzlich zu übernehmen.

Dass der Kläger im Bewilligungszeitraum Januar bis Juni 2017 sein Budget von monatlich EUR 10,00 durch die Gewährung von Leistungen für die Trainingslager (bewilligt wurden hierfür EUR 60,00) bereits ausgeschöpft hatte, steht der weiteren Bewilligung eines Betrages von EUR 60,00 nicht entgegen. Denn der Zeitraum für die Ausschöpfung des nach § 28 Abs. 7 Satz 1 SGB II möglichen maximalen Betrages ist auf den Regelbewilligungszeitraum von zwölf Monaten (dem Kläger wurden demgegenüber lediglich für sechs Monate vorläufig bewilligt, § 41 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II) zu erstrecken, nicht zuletzt, um eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Leistungsberechtigten zu verhindern, die kein Erwerbseinkommen bzw. Erwerbseinkommen in monatlich gleicher Höhe erzielen und denen daher von vornherein für den Regelzeitraum von zwölf Monaten Leistungen gewährt werden. Damit steht dem Kläger ein weiterer Betrag in Höhe von EUR 60,00 zu, nachdem er im zweiten Halbjahr 2017 keine Teilhabeleistungen in Anspruch genommen hat (vgl. hierzu Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Rn. 209 zu § 28). Das monatliche Budget kann mit dem für weitere Monate zu einem jährlichen zusammengefasst werden. So stehen bis zu EUR 120,00 zur Verfügung, die auf einmal verwendet werden können. Hiervon hat der Kläger bereits EUR 60,00 erhalten, sodass ihm (nur) noch weitere EUR 60,00 zustehen. Den monatlichen Teilbetrag in Höhe von 10,- EUR im Jahr 2017 hält der Senat auch nicht für verfassungswidrig zu niedrig bemessen (vgl. bereits das Senatsurteil vom 5. März 2020 - L 9 AS 314/19 -).

Eine Erweiterung des § 28 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 SGB II dahingehend, dass Bedarfe durch Anhebung der Pauschale auf EUR 30,00 monatlich gedeckt werden, um einen verfassungswidrigen Ausschluss von Teilhabe zu vermeiden (so das Sozialgericht Detmold im Urteil vom 27. September 2016, Az.: S 7 AS 2145/13 für die Kosten der Teilnahme an einer sogenannten “Bläserklasse“) ist bereits deshalb kein Raum, weil es sich bei den hier geltend gemachten Kosten nicht um einen laufenden, sondern um einen einmaligen Bedarf handelt. Insoweit kann der noch offene Betrag von EUR 10,00 einmalig aus der Regelleistung bestritten werden. Diese berücksichtigt auch Bedarfe für die Teilnahme am kulturellen Leben.

Der noch offene Betrag kann auch nicht nach § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II berücksichtigt werden. Danach können neben der Berücksichtigung von Bedarfen nach Satz 1 auch weitere tatsächliche Aufwendungen berücksichtigt werden, wenn sie im Zusammenhang mit der Teilnahme an Aktivitäten nach Satz 1 Nummer 1 bis 3 entstehen und es den Leistungsberechtigten im begründeten Ausnahmefall nicht zugemutet werden kann, diese aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Im Regelbedarf, wie er nach § 6 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (RBEG) vom 01. Januar 2017 (BGBl. I 2016, S. 3159) bemessen ist, ist bereits ein Anteil für die ergänzenden Bedarfe i. S. d. § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II vorgesehen. Die Gewährung von Mitteln nach § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II ist an eine besondere Bedarfslage geknüpft. Die Bestreitung des offenen Betrages von EUR 10,00 aus dem Regelsatz ist daher zumutbar. Keine Berücksichtigung kann hier finden, dass der Kläger für die Teilnahme an der Jugendweihefeier insgesamt EUR 100,00 aufwenden musste. Er hat die mögliche Ermäßigung der Kosten auf EUR 70,00 nicht beantragt und daher eine zumutbare Möglichkeit, die erforderliche Hilfe von anderen zu erhalten (§ 9 Abs. 1 SGB II), nicht in Anspruch genommen. Hätte er dies getan, wären von vorneherein lediglich Kosten in dieser Höhe angefallen. Er hätte es daher in der Hand gehabt, den nicht durch Leistungen gedeckten Eigenanteil auf EUR 10,00 zu beschränken, dessen Bestreitung aus dem Regelsatz - wie ausgeführt - zumutbar ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen. Der Kläger hat trotz Hinweises der Berichterstatterin nicht die nach § 73a SGG i. V. m. § 117 Abs. 2 Zivilprozessordnung vorgeschriebene Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Gericht eingereicht. Ein bewilligungsreifer Antrag auf Prozesskostenhilfe lag damit im Berufungsverfahren nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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