L 4 AY 19/24 B ER, L 4 AY 22/24 B

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 35 AY 21/24 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 19/24 B ER, L 4 AY 22/24 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze


1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs erfasst bei zwischenzeitlich ergangenem Widerspruchsbescheid jenen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der später erhobenen Klage (Anschluss an: Bayerisches LSG, Beschluss vom 14. Mai 2009 – L 8 AS 215/09 B ER –, juris m. w. N.). Es ist daher unschädlich, wenn der Antragsteller auch die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage beantragt, obwohl weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass das Widerspruchsverfahren abgeschlossen und gegen einen Widerspruchsbescheid fristgerecht Klage erhoben worden ist. Maßgeblich ist, dass keine Bestandskraft (§ 77 SGG) des Verwaltungsakts eingetreten ist. 

2. Vor Erlass eines Verwaltungsakts, mit dem Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 7 AsylbLG festgestellt wird, ist die betroffene Person zu den für die Leistungeinschränkung erheblichen Tatsachen anzuhören. Fehlt die erforderliche Anhörung liegt hierin ein wesentlicher Verfahrensfehler, der zur formellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakt führt, wenn er nicht nach § 45 HVwVfG geheilt wurde oder nach § 446 HVwVfG unbeachtlich ist. 
 


Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 25. Juli 2024 aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22. Mai 2024 wird angeordnet. 

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach § 3, 3a AsylbLG für die Zeit vom 17. Juni 2024 bis 30. November 2024, längstens jedoch bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens oder bis zu seiner Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland zu gewähren.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Straße, B-Stadt gewährt.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten. Kosten für das Beschwerdeverfahren L 4 AY 22/24 B werden nicht erstattet.


Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz über höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der 1999 geborene ledige Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste am 26. September 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 21. November 2022 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 28. November 2022 wurde er dem Antragsgegner zugewiesen und dort in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. Mit Bescheid vom 29. November 2022 bewilligte der Antragsgegner ihm für die Zeit vom 28. November 2022 bis zum 31. Mai 2023 Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG unter Berücksichtigung eines Regelbedarfssatzes von 330,00 Euro. Mit Bescheid vom 30. Dezember 2022 bewilligte der Beklagte rückwirkend für die Zeit ab 1. Dezember 2022 Leistungen nach § 3 AsylbLG nach der Regelbedarfsstufe 1.

Am 28. November 2022 wurde ein Übernahmeersuchen nach der der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (VO (EU) 604/2013 – Dublin III-VO) an Kroatien gerichtet. Die kroatischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 27. Januar 2023 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gem. Art. 13 Abs. 1 VO (EU) 604/2013. Mit Bescheid vom 24. Februar 2023 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Kroatien an. Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht Wiesbaden und stellte gleichzeitig einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gem. § 80 Abs. 7 VwGO. Den Antrag lehnte das zuständige Verwaltungsgericht Wiesbaden mit Beschluss vom 7. Dezember 2023 ab. Das Gericht stellte fest, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt einer Überstellungsmaßnahme am 21. August 2023 flüchtig gewesen war und sich die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) 604/2013 auf 18 Monate und damit bis zum 21. September 2024 verlängerte.

Bereits mit Bescheid vom 30. November 2023 hatte der Antragsgegner laufende Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit vom 1. Dezember 2023 bis 31. Mai 2024 bewilligt. Mit Bescheid vom 22. Mai 2024 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller nur noch eingeschränkte Leistungen für die Zeit vom 1. Juni 2024 bis zum 31. November 2024 nach § 1a Abs. 7 AsylbLG. Er erfülle die Voraussetzungen der Anspruchseinschränkung. Ihm würden bis zu seiner Abschiebung oder Ausreise nur noch Leistungen zur Deckung seines Bedarfes für Ernährung und Körper- und Gesundheitspflege als Geldleistung gewährt. Unterkunft und Heizung sowie Krankenhilfe werde ihm weiter als Sachleistung gewährt. Die Anspruchseinschränkung werde vorerst für die Dauer von sechs Monaten – bis zum 30. November 2024 – befristet. Nach dem dem Bescheid beigefügten Berechnungsbogen für den Monat Juni 2024 zahlte der Antragsgegner ausgehend von einem Regelbedarf i. H. v. 460,00 Euro abzüglich der Kürzung nach § 1a AsylbLG i. H. v. 204,00 Euro Leistungen i. H. v. 256,00 Euro.

Am 7. Juni 2024 legte der Antragsteller gegen den Bescheid vom 22. Mai 2024 Widerspruch ein. Er rügte, dass die erforderliche Anhörung und Fristsetzung nicht durchgeführt worden sei. Eine nachträgliche Anhörung dürfe rechtswidrig sein und sei denklogisch nicht möglich. Die vorgenommene Anknüpfung an den bloßen Aufenthaltsstatus ohne vorwerfbares Verhalten widerspreche einer verfassungskonformen Auslegung des § 1a AsylbLG. Gegen diese Anknüpfung spreche schon die vom Gesetzgeber vorgesehen Befristung, die impliziere, dass ein änderbares Verhalten zugrunde liegen müsse. Die vorgenommene Kürzung könne auch in ihrer Höhe nicht nachvollzogen werden. 

Am 17. Juni 2024 hat er einen Eilantrag beim Sozialgericht Wiesbaden gestellt.

Er ist der Ansicht gewesen, die Anspruchseinschränkung des § 1a Abs. 7 AsylbLG sei verfassungs- und europarechtswidrig. Der EuGH nehme einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-GRC an, wenn essentielle Bedarfe nicht mehr gedeckt seien. Hierzu zähle auch Bekleidung. Bei der Kürzung der Leistungshöhe würden aber die Bedarfe für Bekleidung nicht mehr gedeckt. Aufgrund der Kürzung des Regelbedarfes um mehr als 30% sei die Norm nicht mit der verfassungsrechtlich garantierten Menschenwürde zu vereinbaren. Da es sich bei Leistungen nach § 3 AsylbLG wegen des angenommenen vorübergehenden Aufenthaltes um bereits gekürzte Leistungen handele, dürfe Bezugspunkt einer möglichen Kürzung nach § 1a AsylbLG nur der Regelbedarf gem. SGB II/SGB XII sein und 30% nicht übersteigen. Die Kürzung um 204,00 Euro bedeute eine Kürzung in Höhe von 54,53% des notwendigen Existenzminimums, bei isolierter Betrachtung von Leistungen nach § 3, 3a AsylbLG 44,35%. Die vorgenommene Kürzung könne auch in ihrer Höhe nicht nachvollzogen werden. Sofern man die Bedarfe aus den EVS-Abteilungen 1 und 11 (Ernährung), 6 (Gesundheitspflege) und 12 (Körperpflege) addiere, summiere sich der notwendige Bedarf auf 258,00 Euro und nicht wie vorgenommen auf 256,00 Euro. Durch den Ausschluss der Leistungen nach § 6 AsylbLG, die im Einzelfall auch zur Gesundheitspflege dienten, müsse sich der Gesamtbetrag des notwendigen Bedarfs weiterhin auf 266,00 Euro erhöhen.

Der Antragsgegner ist der Ansicht gewesen, die Anspruchseinschränkung ergebe sich aus § 1a Abs. 7 AsylbLG und genüge den gesetzlichen Voraussetzungen. Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Antragstellers hinsichtlich dieser Ermächtigungsgrundlage teile der Antragsgegner nicht.

Mit Beschluss vom 25. Juli 2024 hat das Sozialgericht den Antrag als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Antragsteller habe das Vorliegen des Anordnungsgrundes nicht glaubhaft gemacht. Allein der Umstand, dass existenzsichernde Leistungen betroffen seien, genüge nicht, um das Vorliegen eines Anordnungsgrundes zu bejahen. Vielmehr müssten durch eine spätere Entscheidung nicht mehr korrigierbare, irreparable Schäden drohen. Dazu sei vorliegend nichts vorgetragen worden. Der Antragteller habe lediglich ausgeführt, dass die Unterdeckung seines Existenzminimums das Vorliegen des Anordnungsgrundes rechtfertigen würde. Welche konkreten erheblichen wirtschaftlichen Nachteile dem Antragsteller durch die hier vorliegende Kürzung von Leistung i. H. v. 460,00 Euro um 204,00 Euro und damit um ca. 44% drohten, sei weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Dem Antragsteller sei daher zuzumuten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Gegen den am 25. Juli 2024 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am Montag, den 26. August 2024, Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt und klargestellt, dass er auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 7. Juni 2024 bzw. einer nach Ergehen des Widerspruchsbescheids ggf. fristgemäß erhobenen Klage begehre.

Der Antragsteller nimmt Bezug auf seinen erstinstanzlichen Vortrag und beanstandet, dass sich das Sozialgericht nicht mit dem voraussichtlichen Ausgang des Hauptsacheverfahrens auseinandergesetzt habe. Weiterhin seien nach der Rechtsprechung des Beschwerdesenats in Sanktionsfällen die Darlegungserfordernisse dann nicht hoch, wenn sich Bedarfe der betroffenen Personen aufdrängten und teilweise auch unterstellt werden müssten. Die drohende unmittelbare Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ergebe sich bereits aus der außerordentlichen Höhe der Sanktion bzw. Unterdeckung. 

Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 25. Juli 2024 aufzuheben, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 7. Juni 2024 bzw. einer nach Ergehen des Widerspruchsbescheids ggf. fristgemäß erhobenen Klage anzuordnen, 
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab dem 17. Juni 2024 (Tag der vorliegenden Antragstellung) vorläufig bzw. bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren, dem am 7. Juni 2024 eingeleiteten Widerspruchsverfahren, bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender fristgerechter Klageerhebung gegen den insoweit zu erteilenden Widerspruchsbescheid darüber hinaus, längstens jedoch solange der Antragsteller von dem Antragsgegner Leistungen nach dem AsylbLG erhält, Leistungen nach § 3, 3a AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren,
ihm Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Straße, B-Stadt, zu bewilligen 

Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Antragsgegner teilt die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die streitgegenständliche Ermächtigungsgrundlage nicht. Die Voraussetzungen der Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG seien gegeben. Höhere Leistungen stünden dem Antragsteller nicht zu. Dieser versäume weiterhin darzulegen, weshalb ihm durch eine spätere Entscheidung nicht mehr korrigierbare, irreparable Schäden drohen sollten. 


II.

Die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde des Antragstellers ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn die Beschwer des Antragstellers übersteigt jedenfalls den Betrag von 750 Euro. Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 7. Juni 2024, mit dem der Antragsgegner die Leistungen nach dem AsylbLG gem. § 1a Abs. 7 AsylbLG für den Zeitraum vom 1. Juni 2024 bis zum 30. November 2024 um 204 Euro monatlich auf 256 Euro monatlich eingeschränkt hat. 

Die Beschwerde ist begründet. Der Eilantrag ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 7. Juni 2024 ist statthaft und hätte bereits vom Sozialgericht als Kombination eines Antrages nach § 86b Abs. 1 und § 86b Abs. 2 SGG ausgelegt werden müssen. Denn nach der Konzeption der Leistungsabsenkung (§ 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG und § 14 AsylbLG i.d.F. des Art. 4 des Gesetzes vom 31. Juli 2016, BGBl I 2016, 1939) sind die Verfügungssätze der Feststellung der Pflichtverletzung und der Einschränkung des Leistungsanspruchs einerseits und der Verfügung der leistungsrechtlichen Umsetzung andererseits (entweder durch Änderungsbescheid oder einen Neubewilligungsbescheid in abgesenkter Höhe) zu unterscheiden. Da der Widerspruch gegen die Feststellung der Einschränkung des Leistungsanspruchs keine aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG), wäre der Senat ohne Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs am Erlass einer einstweiligen Anordnung gehindert, mit der Leistungen in einer die festgestellte Einschränkung übersteigenden Höhe gewährt werden. Umgekehrt ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht hinreichend, da es in dieser Konstellation keine Leistungsbewilligung in beanspruchter Höhe gibt, die wiederaufleben könnte (vgl. Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1a AsylbLG [Stand: 3. September 2024], Rn. 258). Statthaft ist daher allein eine Kombination beider Anträge (Senatsbeschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER –, Rn. 4 - 5, juris m. w. N.). Der Antrag des Antragstellers ist aufgrund der Bezugnahme auf die Widerspruchseinlegung am 7. Juni 2024 und des ausweislich der erstinstanzlichen Antragsbegründung erkennbar insgesamt auf die Abwehr der Leistungsabsenkung und die Durchsetzung des Anspruchs auf Leistungen nach § 3, 3a AsylbLG gerichteten Begehrens einer solchen Auslegung zugänglich, nicht zuletzt, weil der Antragsteller dies auch mit der Beschwerdebegründung klargestellt hat.

Da der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bei zwischenzeitlich ergangenem Widerspruchsbescheid zugleich jenen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der später erhobenen Klage erfasst (Bayerisches LSG, Beschluss vom 14. Mai 2009 – L 8 AS 215/09 B ER –, juris m. w. N.), ist unschädlich, wenn der Antragsteller auch die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage beantragt, obwohl weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass das Widerspruchsverfahren abgeschlossen und gegen einen Widerspruchsbescheid fristgerecht Klage erhoben worden ist. 

Maßgeblich ist, dass keine Bestandskraft (§ 77 SGG) des streitgegenständlichen Verwaltungsakts eingetreten ist, wofür der Senat keine Anhaltspunkte hat.

Der Antrag ist begründet.

Zunächst war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 22. Mai 2024 nach § 86b Abs. 1 SGG anzuordnen. 

Die bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86 Abs. 1 SGG gebotene Interessenabwägung muss sich auf alle öffentlichen und privaten Interessen erstrecken, die im Einzelfall von Bedeutung sind. Den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, also namentlich der Rechtmäßigkeit beziehungsweise der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, kommt dabei, soweit sie sich im Rahmen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung beurteilen lässt, erhebliche Bedeutung zu (vgl. zu dem im Einzelnen umstrittenen Maßstab für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung: Hessisches LSG, Beschluss vom 26. März 2007 – L 9 AS 387/07 ER – sowie Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 86b Rn. 12 ff.). So hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne Weiteres zu erfolgen, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig (und die Klage zulässig) ist, während sie ausscheidet, wenn dieser offensichtlich rechtmäßig (oder die Klage offensichtlich unzulässig) ist. Insbesondere wenn die Erfolgsaussichten offen sind, hat eine umfassende Folgenabwägung stattzufinden, in deren Rahmen namentlich die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen sind, sofern sie durch die Entscheidung berührt werden. Schließlich ist die der gesetzlichen Anordnung des regelmäßigen Sofortvollzugs zu entnehmende Wertung zu beachten.

Das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 7 AsylbLG im Bescheid vom 22. Mai 2024 hat vorliegend hinter dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers zurückzutreten, denn ein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts ist nicht gegeben. Der Bescheid vom 22. Mai 2024 stellt sich als bereits formell rechtswidrig dar, denn es fehlt an der nach § 28 Abs. 1 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG) erforderlichen Anhörung vor Erlass des Verwaltungsakts. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller vor Erlass des Bescheids nicht die Möglichkeit gegeben, sich zu den für die Leistungseinschränkung erheblichen Tatsachen zu äußern. Da die Anhörung auch nicht nach § 28 Abs. 2 oder 3 HVwVfG entbehrlich war, liegt hierin ein wesentlicher Verfahrensfehler. Der Verfahrensfehler ist bislang nach Aktenlage nicht nach § 45 HVwVfG geheilt; anderes hat der Antragsgegner weder vorgetragen noch bestehen hierfür Anhaltspunkte für den Senat. Bei summarischer Prüfung ist der Verfahrensfehler auch nicht nach § 46 HVwVfG unbeachtlich.

Fehlt es indessen an einer vollziehbaren Entscheidung über die Absenkung der Leistungen nach dem AsylbLG, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b) AsylbLG. Danach erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts (notwendiger Bedarf). Zusätzlich werden ihnen Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens gewährt (notwendiger persönlicher Bedarf). Dabei beläuft sich die Höhe des Regelbedarfssatzes für den notwendigen Bedarf auf 256 Euro monatlich und für den persönlichen Bedarf auf 204 Euro monatlich (vgl. Bekanntmachung über die Höhe der Leistungssätze nach § 3a Absatz 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes für die Zeit ab 1. Januar 2024 vom 19. Oktober 2023, BGBl. I 2023, Nr. 288).

Die Anspruchsvoraussetzungen liegen vor. Der Antragsteller ist leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG und lebt in einer Sammelunterkunft.

Auch der Anordnungsgrund ist gegeben. Er ergibt sich aus dem existenzsichernden Charakter der mit Bescheid vom 22. Mai 2024 vorenthaltenen Leistungen des persönlichen Bedarfs unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Höhere Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes sind vorliegend nicht zu stellen. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr verhalten sich beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Hessisches LSG, Beschlüsse vom 21. Dezember 2009, L 4 KA 77/09 B ER, juris; vom 21. März 2013, L 1 KR 32/13 B ER; vom 17. Januar 2018, L 1 KR 496/17 B ER; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 27 und 29, 29a m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen solchen verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, hat das Gericht im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Diese Anforderungen sind sowohl für Anfechtungs- wie für Vornahmesachen im Lichte der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) zu konkretisieren (zum Folgenden: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. August 2014, 1 BvR 1453/12, juris). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzungen entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt. Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird (Hessisches LSG, Beschluss vom 26. Februar 2020, L 4 AY 14/19 B ER, juris). Die Verpflichtung der Behörde auf der Basis einer reinen Folgenabwägung ist zudem regelmäßig nicht zulässig, wenn der Antragsteller nicht ausreichend an der Sachverhaltsaufklärung (vom Gericht aufgegebene Mitwirkungshandlungen) mitgewirkt hat (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. Februar 2010, 1 BvR 20/10, juris).

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass nach Ablauf der Überstellungsfrist nach Kroatien am 21. September 2024 gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (VO (EU) 604/2013, ABl. 2013 L 180 S. 31, ber. 2017 L 49 S. 50 – Dublin III – VO) eine weitere Verlängerung der Frist nicht Betracht kommt, so dass ab diesem Zeitpunkt der Anwendungsbereich von § 1a Abs. 7 AsylbLG nicht mehr eröffnet ist.

Nach alledem hat der Antragsteller auch Anspruch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren. Hinreichende Erfolgsaussichten i. S. v. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) sind gegeben. Ausweislich der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse für das erstinstanzliche Verfahren ist der Antragsteller weiterhin nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung selbst aufzubringen.

Die Kostengrundentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung von § 193 bzw. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
 

Rechtskraft
Aus
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