L 20 AL 201/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 12 AL 161/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AL 201/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 22.09.2022 wird zurückgewiesen.

 

Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

 

Tatbestand:

 

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines erheblichen Arbeitsausfalls und der betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kurzarbeitergeld (Kug) für den Monat April 2020.

 

Die Klägerin (vormals B.) mit Sitz in Q. produziert im Auftrag Dritter Geldgewinnspielgeräte und andere Produkte einschließlich Vertrieb und Service. Sie beschäftigte im Jahr 2020 in der Betriebsabteilung „Vertrieb“ zunächst 72 Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen betriebsüblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden. Am 23.03.2020 vereinbarte die Klägerin mit ihren Arbeitnehmern für diese Betriebsabteilung Kurzarbeit unter Herabsetzung der Arbeitszeit auf null ab dem 01.04.2020 bis voraussichtlich Dezember 2020.

 

Mit Schreiben vom 21.04.2020 zeigte die Klägerin bei der Agentur für Arbeit K. einen Arbeitsausfall und die Reduzierung der regelmäßigen betriebsüblichen Wochenarbeitszeit auf null für voraussichtlich 41 Beschäftigte an. Zu den Ursachen des Arbeitsausfalls verwies sie auf Einschränkungen wegen der Covid-19-Pandemie und damit verbundene finanzielle Einbußen. Verwertbarer Resturlaub stehe den betroffenen Arbeitnehmern nicht zur Verfügung. Die Anzeige über Arbeitsausfall wurde am 23.04.2020 als Einwurf-Einschreiben zur Post gegeben; sie ging am 02.05.2020 bei der Agentur für Arbeit in K. ein.

 

Durch Bescheid vom 07.05.2020 stellte die Beklagte fest, dass bei der Klägerin vom 01.05.2020 bis (längstens) zum 31.12.2020 ein erheblicher Arbeitsausfall vorliege und die betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug ab Mai 2020 erfüllt seien. Für den Kalendermonat April 2020 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Anzeige über Arbeitsausfall erst im Mai 2020 bei ihr eingegangen sei. Kug könne gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III frühestens von dem Kalendermonat an geleistet werden, in dem die Anzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei. Dagegen legte die Klägerin am 02.06.2020 Widerspruch ein. Einen Leistungs- sowie einen Korrekturantrag auf Kug für den Kalendermonat April 2020 über insgesamt 29.834,96 € bzw. 30.070,81 € lehnte die Beklagte ebenfalls unter Hinweis auf die verspätete Anzeige über den Arbeitsausfall ab (Bescheide vom 19.06.2020 und 08.07.2020). Gegen den – den Korrekturantrag ablehnenden – Bescheid vom 08.07.2020 erhob die Klägerin Widerspruch.

 

Durch Widerspruchsbescheid vom 19.06.2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Anerkennungsbescheid vom 07.05.2020 als unbegründet zurück. Entscheidend sei nach § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III der Eingang der Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit, nicht hingegen der Zeitpunkt der Versendung der Anzeige. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X komme nicht in Betracht. Die Klägerin sei auch nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie die Anzeige über Arbeitsausfall rechtzeitig erstattet.

 

Dagegen hat die Klägerin am 14.07.2020 vor dem Sozialgericht Detmold Klage erhoben. Ihr sei Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren. Bei der Anzeigefrist des § 99 Abs. 2 SGB III handele es sich um eine gesetzliche Frist im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB X. Nach dem Wortlaut der Vorschrift und dem Willen des Gesetzgebers sei eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zudem nicht nach § 27 Abs. 5 SGB X ausgeschlossen. Während § 325 Abs. 3 SGB III seit 2006 ausdrücklich eine „Ausschlussfrist“ für den Leistungsantrag auf Kug vorsehe, habe der Gesetzgeber eine solche Regelung für die Anzeige über Arbeitsausfall in § 99 Abs. 2 SGB III gerade nicht getroffen. Die Sozialgerichte Nürnberg (Urteil vom 25.11.2020 – S 19 AL 182/20) und Landshut (Urteil vom 29.10.2021 – S 16 AL 66/21) stützten ihre gegenteilige Auffassung auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 14.02.1989 – 7 RAr 18/87, die vor der Änderung des § 325 Abs. 3 SGB III ergangen und daher nicht einschlägig sei. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X seien erfüllt. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen sei die am 23.04.2020 aufgegebene Anzeige über Arbeitsausfall erst am 02.05.2020 bei der Agentur für Arbeit eingegangen. Die Klägerin habe die späte Zustellung nicht verschuldet; denn sie habe die Anzeige über Arbeitsausfall am 23.04.2020 (einem Donnerstag) und damit mehr als sieben Tage vor Fristablauf zur Post gegeben. Nach den Vorgaben der Deutschen Post AG (vgl. § 2 Nr. 3 Post-Universaldienst­leistungsverordnung – PUDLV) habe sie vielmehr davon ausgehen dürfen, dass der Agentur für Arbeit die Anzeige spätestens zwei Werktage nach Aufgabe zur Post vorliege. Ohne konkrete Anhaltspunkte sei nicht mit Postlaufzeiten von – wie hier – sechs Arbeitstagen zwischen Einwurf der Postsendung und Zustellung zu rechnen. Es könne nicht Sinn und Zweck des § 99 Abs. 2 SGB III sein, gänzlich außerhalb der Norm liegende Postlaufzeiten der Deutschen Post AG der Klägerin zuzurechnen. Abgesehen davon sei die Beklagte ihren Aufklärungs- und Beratungspflichten nach §§ 13, 14 SGB I nicht nachgekommen, weil sie eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand pauschal abgelehnt habe. Schließlich könne sich die Beklagte unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht auf die Versäumung der Anzeigefrist berufen.

 

Die Klägerin hat (in der Fassung durch das Sozialgericht) beantragt,

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2020 zu verurteilen, bereits ab dem 01.04.2020 bis längstens 31.12.2020 Kug zu bewilligen.

 

Die Beklagte hat schriftlich beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat die angefochtenen Bescheide für zutreffend erachtet. Der rechtzeitige Eingang der Anzeige über Arbeitsausfall sei materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung; eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs. 5 SGB X sei daher ausgeschlossen. Dass die Klägerin die Anzeige für April 2020 rechtzeitig zur Post gegeben habe und der Eingang bei der Beklagten erst am 02.05.2020 eventuell auf einem Verschulden der Post beruhe, sei daher unerheblich.

 

Durch Urteil vom 22.09.2022, das im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Für den Monat April 2020 könne Kug gemäß § 99 Abs. 3 SGB III nicht gewährt werden, weil die Anzeige über Arbeitsausfall erst im Mai 2020 bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheide schon deshalb aus, weil es sich bei § 99 Abs. 2 SGB III nicht um eine gesetzliche Frist i.S.v. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X, sondern um eine materielle Anspruchsvoraussetzung handele. Als solche könne die rechtzeitige Anzeige über Arbeitsausfall auch nicht im Wege eines sozialrechtrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe der Entscheidung Bezug genommen.

 

Gegen das ihr am 20.10.2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15.11.2022 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18.01.2011 – B 4 AS 99/10 R, auf welche das Sozialgericht seine abweichende Auffassung stütze, verhalte sich lediglich zu § 37 Abs. 2 SGB II und kategorisiere diese Vorschrift zudem nicht als materiell-rechtliche Ausschlussfrist. Selbst wenn § 99 Abs. 2 SGB III – wie § 37 Abs. 2 SGB II – als materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung zu qualifizieren wäre, wäre die Wirkung jener Vorschrift mit einer gesetzlichen Frist i.S.v. § 27 Abs. 1 SGB X vergleichbar.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 22.09.2022 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 07.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2020 dahingehend zu ändern, dass ein erheblicher Arbeitsausfall und die betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug auch für den Monat April 2020 festgestellt wird.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

 

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

 

Die Beteiligten haben sich in der nichtöffentlichen Sitzung vom 13.05.2024 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt liegt der vorliegenden Entscheidung zugrunde.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

A) Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung über die Berufung der Klägerin entscheiden, weil die Beteiligten sich zuvor mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

B) Die Berufung der Klägerin, die in zulässiger Weise Rechte der Arbeitnehmer ihres Betriebs auf Kug im Wege der Prozessstandschaft geltend macht, ohne dass deren Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG notwendig wäre (vgl. nur BSG, Urteil vom 14.09.2010 – B 7 AL 21/09 R Rn. 10 m.w.N.), ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen; denn ein Anspruch auf Feststellung eines erheblichen Arbeitsausfalls und der betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug für den Kalendermonat April 2020 besteht nicht.

 

I. Streitgegenstand ist ausschließlich der Bescheid vom 07.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2020, mit dem die Beklagte einen erheblichen Arbeitsausfall und die betrieblichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Kug für den Kalendermonat April 2020 im Anerkennungsverfahren – als erster Stufe des Verwaltungsverfahrens – abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich die Klägerin zulässigerweise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1, § 56 SGG) mit dem Ziel, einen Anerkennungsbescheid gemäß § 99 Abs. 3 SGB III zu erhalten (vgl. zur Klageart BSG, Urteil vom 28.07.1987 – 7 RAr 92/85 Rn. 14). Dieses Klageziel hat die Klägerin mit dem zweitinstanzlich zuletzt gestellten Klageantrag unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Gegen die im Leistungsverfahren – der zweiten Stufe des Verwaltungsverfahrens – ergangenen Bescheide vom 19.06. und 08.07.2020, mit denen die Beklagte die Zahlung von Kug für den Kalendermonat April 2020 abgelehnt hat, wendet sich die Klägerin hingegen mit ihrer Klage und Berufung nicht (zum zweistufig gestalteten Verwaltungsverfahren bei der Bewilligung von Kug vgl. Urteil des Senats vom 30.10.2023 – L 20 AL 174/22 Rn. 44 f. und Rn. 48).

 

II. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht gemäß § 54 Abs. 2 SGG in ihren Rechten. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, einen erheblichen Arbeitsausfall und die betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug für den Monat April 2020 festzustellen.

 

1. Eine etwaige Bestandskraft der im Verlauf des Widerspruchsverfahrens ergangenen Bescheide, mit denen die Beklagte im Leistungsverfahren die Zahlung von Kug für den Monat April 2020 abgelehnt hat, hat keinen Einfluss auf das Anerkennungsverfahren. Selbst wenn jene Verwaltungsakte bestandskräftig geworden sein sollten, wäre die Beklagte verpflichtet, die im Leistungsverfahren ergangenen Bescheide nach § 44 Abs. 1 SGB X von Amts wegen zu überprüfen (arg. ex § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X), sofern die Klägerin im vorliegenden Verfahren obsiegen sollte (vgl. Urteil des Senats vom 30.10.2023 – L 20 AL 174/22 Rn. 51). Zudem hat die Klägerin ggf. die Möglichkeit, die Überprüfung jener Verwaltungsakte innerhalb der Ausschlussfrist von vier Jahren (§ 44 Abs. 4 SGB X) zu beantragen.

 

2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 95 Satz 1 SGB III. Danach haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Kug, wenn ein erheblicher Arbeitsausfall mit Entgeltausfall vorliegt (Nr. 1), die betrieblichen (Nr. 2) sowie die (allerdings erst im Leistungsverfahren zu prüfenden) persönlichen Voraussetzungen (Nr. 3) erfüllt sind und der Arbeitsausfall der Agentur für Arbeit angezeigt worden ist (Nr. 4). Erheblich ist ein Arbeitsausfall nach § 96 Abs. 1 Satz 1 SGB III, wenn er auf wirtschaftlichen Gründen (Alt. 1) oder einem unabwendbaren Ereignis (Alt. 2) beruht, vorübergehend (Nr. 2) und nicht vermeidbar (Nr. 3) ist sowie im jeweiligen Kalendermonat (Anspruchszeitraum) mindestens ein Drittel der in dem Betrieb der beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von einem Entgeltausfall von jeweils mehr als zehn Prozent ihres monatlichen Bruttoentgelts betroffen ist (Nr. 4); der Entgeltausfall kann auch jeweils 100 Prozent des monatlichen Bruttoentgelts betragen (Nr. 4 letzter HS).

 

a) Zwischen den Beteiligten ist insofern zu Recht unstreitig, dass die betrieblichen Voraussetzungen (§ 95 Satz 1 Nr. 2 SGB III) erfüllt sind, weil in der Betriebsabteilung „Vertrieb“ der Klägerin, die i.S.d. §§ 95 ff. SGB III als Betrieb anzusehen ist (§ 97 Satz 2 SGB III), bereits im April 2020 mindestens ein Arbeitnehmer beschäftigt war (vgl. § 97 Satz 1 SGB III).

 

b) Es lag – dies wird von der Beklagten ebenfalls zu Recht nicht in Abrede gestellt – ferner ein erheblicher Arbeitsausfall (§ 95 Satz 1 Nr. 1 SGB III) vor.

 

aa) Der Arbeitsausfall ab dem 01.04.2020 beruhte auf staatlichen Auflagen infolge der Covid-19-Pandemie und damit auf einem für die Klägerin unabwendbaren Ereignis i.S.v. § 96 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 96 Abs. 3 Satz 2 SGB III. Ein unabwendbares Ereignis liegt danach auch vor, wenn ein Arbeitsausfall durch behördliche oder behördlich anerkannte Maßnahmen verursacht ist, die vom Arbeitgeber nicht zu vertreten sind. Dies war hier der Fall. Denn die Klägerin musste die Betriebsabteilung „Vertrieb“ wegen fehlender Aufträge ihrer Kunden, die ihre Gast- bzw. sonstigen Betriebsstätten aufgrund der Corona-Schutzverordnung – d.h. die am 23.03.2020 in Kraft getretene Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 22.03.2020 (GV. NRW. S. 178a), geändert bzw. neugefasst durch Verordnungen vom 30.03.2020 (GV. NRW. S. 202), 16.04.2020 (GV. NRW. S. 222a) und 24.04.2020 (GV. NRW. S. 333b) und aufgehoben durch Verordnung vom 08.05.2020 (GV. NRW. S. 340a) zum 11.05.2020 – schließen mussten, im gesamten, hier betroffenen Kalendermonat April 2020 erheblich einschränken und die Arbeitszeit zahlreicher Mitarbeiter herabsetzen.

 

bb) Der Arbeitsausfall war vorübergehend und betraf laut (korrigiertem) Kug-Antrag für April 2020 insgesamt 40 Arbeitnehmer, also mehr als ein Drittel der dort insgesamt beschäftigten 72 Mitarbeiter mit einem Entgeltausfall von ca. 46.000 €.

 

cc) Der Arbeitsausfall war nicht vermeidbar (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III). Insbesondere stand verwertbarer Resturlaub (vgl. § 96 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III) für die Arbeitnehmer nicht zur Verfügung.

 

dd) Die Klägerin hat den Arbeitsausfall schließlich auch bei der Agentur für Arbeit K., in deren Bezirk der Betrieb seinen Sitz hat, schriftlich angezeigt (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB III).

 

ee) Die Anzeige vom 21.04.2020 ist jedoch erst am 02.05.2020 bei der Beklagten eingegangen mit der Folge, dass ein erheblicher Arbeitsausfall und die betrieblichen Voraussetzungen für Kug nach § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III – wie im angefochtenen Anerkennungsbescheid auch geschehen – erst ab dem 01.05.2020, nicht hingegen schon für den Kalendermonat April 2020 festzustellen sind – dazu unter (1) –. Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung in § 99 Abs. 2 Satz 2 SGB III sind nicht erfüllt – dazu unter (2) –. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht, weil § 27 SGB X auf die Anzeige über Arbeitsausfall i.S.v. § 99 Abs. 1 SGB III bereits nicht anwendbar ist – dazu unter (3) –. Eine sog. „Nachsichtgewährung“ (§ 242 BGB) kommt nicht in Betracht – dazu unter (4) –. Die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind schon mangels eines Beratungsfehlers der Beklagten nicht erfüllt – dazu unter (5) –.

 

(1) Gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III wird Kug frühestens von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist, hier also – ausgehend vom Zeitpunkt des Eingangs am 02.05.2020 – ab dem 01.05.2020. Maßgeblich ist der tatsächliche Zeitpunkt des Eingangs bei der Agentur für Arbeit. Das ergibt sich unmissverständlich aus dem Wortlaut des § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III („eingegangen ist“), der deutlich macht, dass die Rechtsfolge der Anzeige, nämlich die Entstehung des Kug-Anspruchs, erst mit Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit eintreten soll (so u.a. Bieback in Gagel, SGB III, Arbeitsförderung, Großkommentar, 89. Ergänzungslieferung, 2023, § 99 Rn. 23). Auf die in der Literatur umstrittene Frage, ob es sich bei der Anzeige über den Arbeitsausfall um eine Tatsachenerklärung handelt (vgl. dazu ausführlich Estelmann in Eicher/Schlegel, SGB III, Loseblatt, § 99 Rn. 42 m.w.N., sowie Lüdtke in LPK-SGB III, 2. Aufl. 2015, § 98 Rn. 4), oder ob die Anzeige als empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung zu qualifizieren ist (so Bieback, a.a.O., § 99 Rn. 11; vgl. ferner BSG; Urteil vom 21.01.1987 – 7 RAr 76/85 Rn. 18 zu § 64 Abs. 1 Nr. 4 AFG), auf welche die allgemeinen Grundsätze des Bürgerlichen Rechts und damit auch die Regelung des § 130 Abs. 1 BGB unmittelbar oder zumindest entsprechend Anwendung finden, kommt es daher nicht an (so auch ausdrücklich Estelmann, a.a.O., Rn. 43). Im hier betroffenen Monat April 2020 ging eine Anzeige der Klägerin über Arbeitsausfall nicht ein.

 

(2) Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 99 Abs. 2 Satz 2 SGB III sind nicht erfüllt. Danach gilt die Anzeige für den entsprechenden Kalendermonat als erstattet, wenn der Arbeitsausfall auf einem unabwendbaren Ereignis beruht und die Anzeige unverzüglich erstattet worden ist.

 

Der Arbeitsausfall bei der Klägerin im April 2020 beruht jedoch nicht im Sinne jener Vorschrift auf einem unabwendbaren Ereignis, welches sie an der rechtzeitigen Anzeige des Arbeitsausfalls gehindert hat. § 99 Abs. 2 Satz 2 SGB III nimmt Rücksicht darauf, dass ein Betrieb – etwa aufgrund eines Brandes oder einer Naturkatastrophe – so weit beeinträchtigt ist, dass nicht einmal die Mindestangaben für die Anzeige gemacht werden können oder sogar niemand in der Lage ist, Kurzarbeit innerbetrieblich wirksam anzuordnen und die Erstattung der Anzeige vorzunehmen (Petzold in Hauck/Noftz, SGB III, 2. Ergänzungslieferung 2024, § 99 Rn. 16). Die Klägerin war jedoch – unstreitig – nicht gehindert, die Anzeige rechtzeitig auf den Weg zu bringen und hat diese auch am 23.04.2020 – also deutlich vor Ende des vom Arbeitsausfall betroffenen Monats – bei der Post aufgegeben. Die anschließend verzögerte Übermittlung durch die Post ist von vornherein kein unabwendbares Ereignis, das die zeitgerechte Versendung der Anzeige unmöglich machte.

 

(3) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist der Klägerin nicht zu gewähren. § 27 Abs. 1 SGB X ist auf die Anzeige über Arbeitsausfall von vornherein nicht anwendbar. Nach jener Vorschrift ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III bestimmt aber schon keine gesetzliche Frist im Sinne jener Vorschrift.

 

(a) Zwar erfasst § 27 Abs. 1 SGB X (seit Inkrafttreten am 01.01.1981) nicht nur die Versäumung von Verfahrensfristen, sondern auch die Versäumung materieller Fristen (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 05.02.2004 – B 11 AL 47/03 R Rn. 12; ferner BSG, Urteile vom 16.12.1999 – B 14 EG 3/98 R Rn. 28 und vom 25.08.1993 – 13 RJ 27/92 Rn. 27). Nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut lässt die Vorschrift die Nichteinhaltung einer gesetzlichen „Frist“ genügen, wohingegen die prozessuale Wiedereinsetzungsvorschrift des § 67 Abs. 1 SGG die Versäumung einer gesetzlichen „Verfahrensfrist“ verlangt (vgl. BSG, Urteil vom 05.02.2004, a.a.O., Rn. 13, und Urteil vom 21.02.1991 – 7 RAr 74/89 Rn. 30). Zudem kann es nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben, mit § 27 SGB X nur Verfahrensfristen zu erfassen, den sehr viel größeren und wichtigeren Bereich der materiellen Fristen hingegen ungeregelt zu lassen (BSG, Urteil vom 21.02.1991, a.a.O.).

 

(b) § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III bestimmt jedoch von vornherein keine verfahrensrechtliche oder materielle Frist; vielmehr setzt die Vorschrift eine materielle Anspruchsvoraussetzung, die neben anderen Voraussetzungen den Anspruch auf Kug begründet (vgl. Kühl in Brand, SGB III, 9. Auflage 2021, § 99 Rn. 4; Peters-Lange in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 10. Auflage 2022, § 99 SGB III Rn. 3; SG Landshut, Urteil vom 29.10.2021 – S 16 AL 66/21 Rn. 24; SG Nürnberg, Urteil vom 25.11.2020 – S 19 AL 182/20 Rn 21; vgl. zur Qualifizierung der Anzeige über den Arbeitsausfall als materiell-rechtliche Voraussetzung ferner BSG, Urteil vom 21.01.1987 – 7 RAr 76/85 Rn. 18 zu § 64 Abs. 1 Nr. 4 AFG, unter Hinweis auf BT-Drs. V/2291 S. 71; ebenso LSG Bayern, Urteile vom 09.08.2023 – L 10 AL 167/21 Rn. 20 und vom 09.08.2023 – L 10 AL 56/21 Rn. 19). Denn die Anzeige über Arbeitsausfall selbst bzw. deren Zugang ist an keine Frist gebunden. Anders als beispielsweise § 325 Abs. 3 SGB III (wonach Kug – auf der zweiten Stufe des Verwaltungsverfahrens – für den jeweiligen Kalendermonat innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten zu beantragen ist) bestimmt § 99 Abs. 2 SGB III gerade nicht, dass die Anzeige über den Arbeitsausfall binnen einer gesetzlich vorgegebenen Frist erstattet werden soll oder muss (so auch Bieback, a.a.O., § 99 Rn. 31; eine gesetzliche Frist bzw. „Fristgebundenheit“ verneinen ferner Müller-Grune, a.a.O. Rn. 42, Kühl, a.a.O. Rn. 7, Estelmann, a.a.O., § 99 Rn. 74, sowie Baar/Mutschler in Heinz/Schmidt-DeCaluwe/Scholz, SGB III, Arbeitsförderung, 7. Auflage 2020, § 99 Rn. 24) mit der Folge, dass das von Kurzarbeit betroffene Unternehmen nach Ablauf des betroffenen Kalendermonats von der Geltendmachung des materiellen Anspruchs seiner Arbeitnehmer grundsätzlich ausgeschlossen ist, mithin den materiellen Anspruch verliert. Es steht dem Arbeitgeber vielmehr frei, zu welchem Zeitpunkt er den Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit anzeigt. Der Zeitpunkt des Eingangs der Anzeige bestimmt allerdings den Beginn der Leistung. Mit anderen Worten: Die Rechtsfolge der Anzeige (d.h. auch die Entstehung des Kug-Anspruchs) soll erst mit Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit eintreten (so ausdrücklich Bieback, a.a.O., Rn. 23). Dass ein Arbeitgeber, der den Anspruch auf Kug für einen bestimmten Monat sichern will, wegen 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III dafür Sorge tragen muss, dass die Arbeitsausfallanzeige spätestens am letzten Tag dieses Monats der Agentur für Arbeit zugeht, reicht für die Annahme einer gesetzlichen Frist i.S.v. § 27 SGB X nicht aus (so aber – soweit ersichtlich einzig – Estelmann, a.a.O. Rn. 78).

 

(c) Dass § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III keine gesetzliche Frist bestimmt, steht überdies im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu der Vorgängerregelung des § 66 Satz 1 AFG in der bis zum 31.12.1997 geltenden Fassung (BSG, Urteil vom 14.02.1989 – 7 RAr 18/87 Rn. 26). Nach jener Vorschrift wurde Kug in einem Betrieb frühestens von dem Tag an gewährt, an dem die Anzeige über den Arbeitsausfall beim Arbeitsamt eingegangen war. § 66 Satz 1 AFG weicht zwar insofern von § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III ab, als Kug danach frühestens von dem Tag des Eingangs der Anzeige über den Arbeitsausfall beim Arbeitsamt gewährt wurde, während § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III als frühestmöglichen Leistungsbeginn den Ersten des Monats festlegt, in dem die Anzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Abgesehen von dem unterschiedlichen Zeitpunkt des frühestmöglichen Leistungsbeginns ist § 66 Satz 1 AFG jedoch mit § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III identisch. Beide Regelungen knüpfen den Leistungsbeginn an den Eingang der Anzeige beim Arbeitsamt bzw. der Agentur für Arbeit. Zu § 66 Satz 1 AFG hat das Bundessozialgericht (a.a.O., unter Hinweis auf BT-Drs V/2291 S. 71 zu § 49 Abs. 1 Nr. 4) aber ausdrücklich betont, dass es sich hierbei nicht um eine gesetzliche Frist handele; die Anzeige über den Arbeitsausfall sei vielmehr eine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung, und aus diesem Grund müsse sie an dem Tag vorliegen, von dem an Kug gewährt werden solle (vgl. zum Charakter der Anzeige nach § 66 Satz 1 AFG als materielle Voraussetzung ferner BSG, Urteil vom 21.01.1987 – 7 RAr 76/85 Rn. 18).

 

(d) Im Übrigen handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 18.01.2011 – B 4 AS 99/10 R Rn. 23) auch bei der ähnlich konzipierten Regelung in
§ 37 SGB II nicht um eine gesetzliche Frist i.S.v. § 27 SGB X, sondern um eine Vorschrift, die lediglich das Verhältnis zwischen Leistungsbeginn und Antragstellung festlegt. Nach § 37 Abs. 1 SGB II werden Leistungen auf Antrag und zudem gemäß Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift (abgesehen von dem in Satz 2 geregelten Ausnahmefall) nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht. § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III aber bestimmt in gleicher Weise das Verhältnis zwischen Eingang der Anzeige über den Arbeitsausfall und Leistungsbeginn. Ähnlich begründet auch § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (wonach ein Antrag auf Grundsicherungsleistungen auf den Ersten des Kalendermonats zurückwirkt, in dem er gestellt wird, sofern die Voraussetzungen des § 41 SGB XII innerhalb dieses Kalendermonats erfüllt werden) keine gesetzliche Frist, deren Versäumung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ermöglicht (Blüggel in juris-PK-SGB XII, § 44 Rn. 32; Kirchhoff in Hauck/Haines, SGB XII, 2. Ergänzungslieferung 2024, § 44 Rn. 24).

 

(e) Eine teleologisch erweiternde Auslegung des § 27 Abs. 1 SGB X über den eindeutigen Gesetzeswortlaut hinaus ist ebenso wenig möglich wie eine analoge Anwendung der Wiedereinsetzungsregelung auf die Anzeige über Arbeitsausfall. Abgesehen davon, dass das Bundessozialgericht eine erweiternde Auslegung oder entsprechende Anwendung (in der bereits genannten Entscheidung vom 18.01.2011 – B 4 AS 99/10 R Rn. 23) nicht einmal in Erwägung gezogen hat, stehen Sinn und Zweck des § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III einer teleologischen Extension entgegen. Folglich fehlt es auch an einer vergleichbaren Interessenlage, die bei einer analogen Anwendung zwingend vorausgesetzt wird.

 

(aa) Allein der Umstand, dass § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III ähnliche Wirkungen wie eine gesetzlich vorgegebene Frist entfaltet, indem die Anzeige über den Arbeitsausfall den Zeitpunkt des frühestmöglichen Bezugs von Kug bestimmt (so Bieback, a.a.O. Rn. 31; eine der Fristsetzung vergleichbare Wirkung bejahen auch Baar/Mutschler, a.a.O.), reicht hierfür nicht aus. Gleiches gilt im Hinblick darauf, dass insbesondere eine verzögerte
Postübermittlung – wie hier – auch im Falle des § 99 Abs. 2 SGB III zu einem Verlust des materiellen Anspruchs für den vorausgegangenen Kalendermonat führen kann. Denn dem Risiko der verzögerten Übermittlung von Briefsendungen unterliegt jeder Antrag auf Sozialleistungen, der per Post auf den Weg gebracht wird. § 27 SGB X ermöglicht eine Wiedereinsetzung nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch ausdrücklich lediglich bei Versäumung einer gesetzlichen Frist (s.o.).

 

(bb) Abgesehen davon stehen jedenfalls Sinn und Zweck des § 99 Abs. 2 SGB III einer erweiternden Auslegung bzw. einer Analogie entgegen. Denn die Anzeige über Arbeitsausfall soll nicht nur den Anspruchsbeginn für das Kug festlegen und es der Agentur für Arbeit ermöglichen, die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung in dem betroffenen Betrieb zu prüfen (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 14.02.1989 – 7 RAr 18/87 Rn. 29, zu § 66 AFG). Sie soll die Agentur für Arbeit darüber hinaus insbesondere in die Lage versetzen, präventive Maßnahmen – namentlich solche der Arbeitsvermittlung nach § 98 Abs. 4 SGB III – einzuleiten (vgl. zu alledem Bieback, a.a.O. § 99 Rn. 5). Hierzu gehört die Prüfung, ob die Bezieher von Kug an arbeitsfreien Tagen in andere zumutbare Arbeit (Zweitarbeitsverhältnis) vermittelt werden können (BSG, a.a.O.). Jedenfalls eine Vermittlung der von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer in Arbeit, wie sie in § 98 Abs. 4 Satz 2 SGB III ausdrücklich vorgesehen ist, ist jedoch für Zeiten vor Zugang der Anzeige über Arbeitsfall bei der Agentur für Arbeit nicht mehr möglich.

 

Dabei verkennt der Senat nicht, dass § 99 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB III ohnehin eine Rückwirkung auf den ersten Tag des Monats vorsehen, in dem die Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist (Satz 1), bzw. des Monats, in dem das unabwendbare Ereignis eingetreten ist (Satz 2). Diese Vorverlegung auf den ersten Tag des Monats ist indes allein der Einführung des Monatsprinzips geschuldet. Schon die Vorgängerregelung in § 173 Abs. 2 SGB III (i.d.F. vom 01.01.1998 bis 31.03.2012) hat den Zeitraum für die Gewährung von Kug – abweichend von der zuvor geltenden Regelung im AFG – auf den vollen Kalendermonat festgelegt, um die Berechnung des Kug zu erleichtern. Bei der Bemessung des Kug ist seither nicht mehr die Höhe des ausgefallenen Arbeitsentgelts für jede ausgefallene Arbeitsstunde festzustellen (vgl. § 68 Abs. 1 AFG), sondern nur noch das ausgefallene monatliche Bruttoarbeitsentgelt, und daraus das Kug zu ermitteln (vgl. BT-Drs. 13/4941 S. 147 und 183). Die Neufassung der Bemessungsvorschriften zum 01.01.1998 machte konsequenter Weise eine Anpassung des Anspruchszeitraums in § 168 Abs. 1 Nr. 4 SGB III a.F. sowie der Anzeigefristen in § 173 Abs. 2 SGB III notwendig (vgl. BT-Drs., a.a.O. S. 185), die in § 99 Abs. 2 SGB III (mit Ausnahme des Wechsels der Bezeichnung des Adressaten von „Arbeitsamt“ zu „Agentur für Arbeit“) unverändert übernommen wurde. Auch der Beginn der Bezugsfristen mit dem Monatsbeginn (vgl. § 177 Abs. 1 Satz 3 SGB III i.d.F. vom 01.01.1998 bis 31.12.2003) ist Folge der Umstellung des Anspruchszeitraums auf den Kalendermonat (BT-Drs., a.a.O. S. 186). Der Gesetzgeber hat also der Vereinfachung der Berechnung des Kug (nur) für den jeweiligen Monat, in dem die Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist, Vorrang gegenüber einer möglichen Vermittlung der betroffenen Arbeitnehmer in andere Arbeit eingeräumt. Anhaltspunkte dafür, dass die rückwirkende Gewährung von Kug
– über dieses Monatsprinzip hinaus – auch für vorausgehende Zeiträume möglich sein sollte, lassen sich der Gesetzesbegründung hingegen nicht entnehmen.

 

(cc) Aus diesem Grund verstößt die unterschiedliche Behandlung von gesetzlichen Fristen und der Anzeige über Arbeitsausfall zudem nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG (a.A. Estelmann, a.a.O. Rn. 79). Dieser verbietet es, eine Gruppe von Normadressaten im Verhältnis zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede solcher Art und solchen Gewichts bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten; er gebietet somit, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (BSG, Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 13/09 R Rn. 14 m.N. der Rspr. des BVerfG). Für die unterschiedliche Behandlung einer Anzeige, die bei Eingang am letzten Tag des Monats die rückwirkende Zahlung von Kug ab dem Monatsanfang (also ggf. je nach Monat für bis zu 31 Tage) ermöglicht, und einer Anzeige, die – wie hier am 02.05.2020 – erst zu Beginn des Folgemonats eingeht und daher lediglich eine sehr viel kürzere Rückwirkung entfaltet (hierauf abstellend Estelmann, a.a.O.), besteht mit dem Monatsprinzip (s.o.) ein hinreichender sachlicher Grund.

 

(4) Die Klägerin kann sich ferner nicht mit Erfolg auf das richterrechtliche Institut der Nachsichtgewährung stützen. Diese Rechtsfigur, die maßgebend auf dem Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) fußt, hat das Bundessozialgericht vor Inkrafttreten des § 27 SGB X zum 01.01.1981 für Konstellationen unverschuldeter Fristversäumnisse herangezogen, um das damalige Fehlen einer gesetzlichen Wiedereinsetzungsregelung zu kompensieren. Unabhängig davon, dass das Institut der Nachsichtgewährung durch Einführung des § 27 SGB X seine eigenständige Bedeutung weitestgehend verloren hat (BSG, Urteil vom 8. August 2019 – B 3 KR 18/18 R Rn. 39), sind dessen Voraussetzungen hier jedenfalls nicht erfüllt. Denn eine Nachsichtgewährung kommt auch nach der älteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur in Betracht, wenn dafür zum einen besondere Gründe vorliegen und zum anderen die vom Gesetzgeber mit der Ausschlussfrist verfolgten Ziele sowie dabei zu berücksichtigende Interessen nicht entgegenstehen (vgl. BSG, Urteil vom 05.12.2019 – B 3 KR 5/19 R Rn. 25).

 

Derartige besondere Gründe liegen im Falle der Klägerin jedoch nicht vor. In der bisherigen Rechtsprechung anerkannte Gründe treffen auf die Klägerin von vornherein nicht zu. So hat die Beklagte weder den verspäteten Eingang der Anzeige selbst herbeigeführt noch sich in Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten gesetzt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 17.02.1965 – 7 RAr 21/64 Rn. 17). Auch ist die Einhaltung der in § 99 Abs. 2 SGB III geregelten Rückwirkung der Anzeige über Arbeitsausfall nur auf den Ersten des Monats keineswegs von nur geringer Bedeutung für die Verwaltung, während bei der Klägerin erhebliche, langfristig wirksame Interessen auf dem Spiel stehen (vgl. dazu u.a. BSG, Urteile vom 25.08.1993 – 13 RJ 27/92 und vom 21.02.1991 – 7 RAr 74/89 Rn. 36 m.w.N.). Denn zum einen rechtfertigt der Zweck des § 99 Abs. 2 SGB III, die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer in Zweit-Beschäftigungsverhältnisse vermitteln zu können, eine Begrenzung der Rückwirkung allein auf den ersten Tag des Monats (s.o.). Zum anderen hat § 99 Abs. 2 SGB III nur zeitlich begrenzte Auswirkungen; denn die Klägerin verliert den Anspruch auf Kug durch die erst im Mai 2020 eingegangene Anzeige nicht dauerhaft, sondern allein für den Kalendermonat April 2020 und damit für einen relativ kurzen Zeitraum (vgl. BSG, Urteil vom 21.02.1991, a.a.O., zum Ausschluss der Nachsichtgewährung bei einem betroffenen Zeitraum von nur einem Monat).

 

Der (soweit ersichtlich in der Rechtsprechung zur Nachsichtgewährung bisher nicht beurteilte) Umstand, dass der späte Eingang der Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit maßgeblich von einem Dritten zu verantworten ist – hier von der Deutschen Post AG, die für die Übermittlung der per Einwurf-Einschreiben übermittelten Anzeige ganz erheblich länger benötigt (sechs Werktage) hat als nach ihren eigenen Zielvorgaben (zwei Werktage) vorgesehen – rechtfertigt ebenfalls keine Nachsichtgewährung. Die Nachsichtgewährung kann nicht dafür herangezogen werden, eine in ganz bestimmter Weise festgelegte Verteilung der Verantwortungsbereiche aufzubrechen (BSG, Urteil vom 05.12.2019 – B 3 KR 5/19 R Rn. 25). Das Gesetz weist es jedoch dem Verantwortungsbereich der Klägerin zu, den Eingang der Anzeige über Arbeitsausfall sicherzustellen (vgl. § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Dabei stellt es ohnehin mit einer elektronischen Anzeige (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB III) eine Möglichkeit zur Verfügung, die belegbare Übermittlung der Anzeige bis zum Monatsende sicher zu gewährleisten. Auch kann die Anzeige vom Arbeitgeber selbst bei der Agentur für Arbeit eingeliefert werden. Nutzt ein Arbeitgeber stattdessen den weniger sicheren Übermittlungsweg per Post und überwacht sodann nicht den rechtzeitigen Eingang der Anzeige, so hat er die mit einem unerwartet späten Anzeigezugang erst nach Überschreiten der Monatsgrenze verbundenen negativen Folgen für den Kug-Anspruch selbst zu verantworten. Das gilt im Falle der Klägerin umso mehr, als zu Beginn der Covid-19-Pandemie sich auch die Postzustellung auf die neue, bisher unbekannte Gefährdungssituation der Pandemie einzustellen hatte, ein Vertrauen in eine unverzögerte Postzustellung deshalb zudem fraglich und daher für die Klägerin erkennbar weniger verlässlich erschienen sein mag als in Zeiten vor der Pandemie.

 

(5) Die Klägerin ist schließlich nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte sie die Anzeige über Arbeitsausfall noch im April 2020 erstattet. Ein solcher Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustands gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aus einem Sozialrechtsverhältnis erwachsenden Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (st. Rspr. des BSG, vgl. schon Urteil vom 21.02.1991 – 7 RAr 74/89 Rn. 35 m.w.N.). Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist u.a. ein Beratungsfehler oder ein sonstiges rechtswidriges Verhalten der Beklagten. Derartiges ist im Falle der Klägerin von vornherein nicht erkennbar.

 

C) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

D) Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zu.

 

Rechtskraft
Aus
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