Der Rechtswirksamkeit der Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheides steht nicht entgegen, dass die Behörde gesetzliche Voraussetzungen nach dem Verwaltungszustellungsgesetz nicht erfüllt.
Es genügt, wenn die Bekanntgabe im Wege einer Eröffnung durch die Übermittlung in ein elektronisches Anwaltspostfach erfolgt. |
Tatbestand und Entscheidungs-gründe: |
Tatbestand
Die Kläger begehren vom Jobcenter höheres Bürgergeld unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung.
Einen diesbezüglichen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 13.07.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2023 ab. Den Widerspruchsbescheid stellte der Beklagte nicht förmlich zu. Stattdessen übermittelte er ihn dem Klägerbevollmächtigten noch am 16.11.2023 in dessen elektronisches Anwaltspostfach. Dort nahm ihn der Anwalt nicht zur Kenntnis. Stattdessen bat er den Beklagten am 12.02.2024 um Sachstandsmitteilung und kündigte wegen des Erlasses des (bereits erlassenen) Widerspruchsbescheides die Erhebung einer Untätigkeitsklage an. Daraufhin übermittelte der Beklagte dem Klägerbevollmächtigten den Widerspruchsbescheid am 14.02.2024 ein weiteres Mal elektronisch in dessen Anwaltspostfach.
Am 16.02.2024 haben die Klägerinnen dann Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben und vorgetragen, die einmonatige Klagefrist sei wegen des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2023 noch nicht abgelaufen, weil der Beklagte bei dessen Bekanntgabe die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zustellungsfiktion aus § 5 Verwaltungszustellungsgesetz nicht erfüllt habe. Insbesondere habe der Beklagte ihren Anwalt am 16.11.2023 weder auf die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis hingewiesen noch über die Rechtsfolgen bzw. den Eintritt der Zugangsfiktion belehrt und den elektronisch übermittelten Widerspruchsbescheid im Anwaltspostfach auch nicht als Widerspruchsbescheid bezeichnet. Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheides vom 13.07.2023 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 16.11.2023 zu verurteilen, ihnen Bürgergeld in gesetzlicher Höhe für den Bewilligungszeitraum 01.05.2023 bis 30.04.2024 zu gewähren unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung des Klägers zu Ziff. 2 nebst diesbezüglicher Zinsen i. H. v. 4 Prozent.
Der Beklagte beantragt die Abweisung der Klage als unzulässig.
Das Gericht hat die Beteiligten zur Klageabweisung durch Gerichtsbescheid angehört. Die rechtsanwaltlich vertretenen Kläger haben sich hiermit nicht einverstanden erklärt, keine Wiedereinsetzung in die Klagefrist beantragt und keine Widereinsetzungsgründe vorgetragen.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Das Gericht entscheidet nach Anhörung der Beteiligten ohne ehrenamtliche Richter durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und das Einverständnis der Beteiligten hiermit entbehrlich ist, §§ 105, 3 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
2. Die nicht fristgemäß erhobene Klage ist unzulässig und damit abzuweisen.
Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach der Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakts zu erheben. Hat – wie im Fall des Ablehnungsbescheides vom 13.07.2023 – ein Vorverfahren stattgefunden, so beginnt die Frist § 87 Abs. 2 SGG zufolge mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids.
Innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2023 ist die Anfechtungs- und Leistungsklage nicht eingelegt worden, weil sie erst am 16.02.2024 erhoben wurde.
Für die Berechnung der einmonatigen Klagefrist ist § 64 SGG maßgebend. Die Norm gilt für alle prozessualen Fristen einschließlich der Klageerhebungsfrist (BeckOGK/Diehm, 01.08.2022, SGG § 87 Rn. 50-52). Als nach Monaten bemessene Frist endet die Klagefrist mit dem Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats, welcher nach der Benennung oder Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt (§ 64 Abs. 2 Satz 1 SGG). Fristbeginn ist § 64 Abs. 1 SGG zufolge der Tag nach der Eröffnung oder Verkündung, wenn eine Zustellung nicht vorgeschrieben ist.
Die Zustellung des hier angefochtenen Widerspruchsbescheides vom 16.11.2023 wäre gemäß § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG zwar rechtlich zulässig gewesen. Behörden können Widerspruchsbescheide aber nach § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG auch wirksam bekannt geben, ohne die Anforderungen des Verwaltungszustellungsgesetzes zu erfüllen, indem sie diese (formlos) verkünden oder eröffnen.
Der Rechtswirksamkeit der Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheides steht nicht entgegen, dass die Behörde gesetzliche Voraussetzungen nach dem Verwaltungszustellungsgesetz nicht erfüllt. Die Klagefrist beginnt den bereits zitierten Gesetzeswortlauten in § 64 Abs. 1 und § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG zufolge gerade nicht nur zu laufen, wenn die Bekanntgabe im Wege einer förmlichen Zustellung bewirkt wird. Es genügt, wenn die Bekanntgabe im Wege einer Eröffnung durch die Übermittlung in ein elektronisches Anwaltspostfach erfolgt.
Als weitester Begriff umfasst die Eröffnung jede Form der mündlichen, schriftlichen oder elektronischen Mitteilung (Jung in: Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, § 64 SGG Rn. 7; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 64 SGG Rn. 3; Wolff-Dellen in: Fichte/Jüttner, SGG, § 64 SGG Rn. 5). Der Zeitpunkt des Zugangs bestimmt sich bei der Eröffnung nach den allgemeinen Regeln. Ein Schriftstück gilt somit dann als zugegangen, wenn es so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass bei gewöhnlichem Verlauf und normaler Gestaltung der Verhältnisse mit der Kenntnisnahme durch den Empfänger zu rechnen ist (Senger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 64 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 28).
Gemessen hieran lief die einmonatige Klagefrist im Verfahren S 12 AS 442/24 am 19.12.2023 ab, weil sie am 19.11.2023 zu laufen begonnen hatte. Eben an diesem Tag war dem Prozessbevollmächtigten der Kläger nämlich der ihm elektronisch eröffnete Widerspruchsbescheid vom 16.11.2023 bekannt gegeben worden.
Den Zeitpunkt der Bekanntgabe eines elektronisch eröffneten Widerspruchsbescheides regelt § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach gilt ein Verwaltungsakt, der im Inland elektronisch übermittelt wird, am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben.
Hier ist der Widerspruchsbescheid vom 16.11.2023 ausweislich des Sendeberichts des Beklagten und des unstreitigen Vorbringens der Beteiligten noch am selben Tag elektronisch abgesandt und an den Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen elektronisch übermittelt worden, sodass er kraft Gesetzes am 19.11.2023 als bekanntgegeben gilt und die einmonatige Klagefrist am 19.12.2023 bzw. (lange) vor der Klageerhebung am 16.02.2024 abgelaufen war.
Der Abweisung der Klage steht nicht entgegen, dass die Kläger in den Stand vor der Versäumung der Klagefrist gemäß § 67 SGG wiedereinzusetzen wären. Der fachkundige Bevollmächtigte der Kläger hat keine Wiedereinsetzung beantragt bzw. diesbezügliche Gründe vorgebracht. Es ist auch von Amts wegen nichts dafür ersichtlich, dass er ohne Verschulden verhindert gewesen wäre, die Klagefrist einzuhalten.
3. Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus § 193 SGG und dem Unterliegen der Kläger.
4. Dieser Gerichtsbescheid ist mit der Berufung anfechtbar. Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung nur der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € nicht übersteigt. Hier bedarf die Klage keiner Zulassung, weil der Beschwerdegegenstand 750,- € übersteigt. Der von den Klägern anspruchserhöhend begehrte Mehrbedarf wird gemäß § 21 Abs. 5 SGB II in „angemessener Höhe anerkannt“. In Anbetracht des streitbefangenen zwölfmonatigen Bewilligungszeitraums wird bereits bei einer monatlichen Mehrbedarfshöhe von 62,51 € die Berufungssumme erreicht. Auf einen monatlichen Mehrbedarf in Höhe von 62,50 € oder weniger ist die Klage nicht beschränkt.
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