B 5 R 14/22 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 4014/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 1186/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 14/22 R
Datum
Kategorie
Urteil

 

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts BadenWürttemberg vom 28. Juli 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten.

G r ü n d e :

I

1
Die Klägerin begehrt die Zahlung einer höheren Altersrente.

2
Die im April 1941 geborene Klägerin, bei der ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt ist, bezog ab März 1997 von der Beklagten eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 14.8.1997). Ihre Klage mit dem Begehren, eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu erhalten, nahm sie im Jahr 1999 zurück. Grund dafür war eine Mitteilung der Beklagten vom 8.6.1999, wonach der frühestmögliche Zeitpunkt, ab dem ein Anspruch auf eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen (bis zum 30.6.2001: Altersrente für Schwerbehinderte) ohne Rentenminderung bestehe, der 1.5.2001 sei. Dem folgend stellte die Klägerin im Januar 2001 einen Antrag auf Gewährung einer solchen Altersrente nach Vollendung des 60. Lebensjahrs. Die Beklagte behandelte ihre Mitteilung vom 8.6.1999 als Zusicherung, die sie mit Bescheid vom 22.6.2001 zurücknahm. Mit Bescheid vom 2.7.2001 lehnte sie die Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab, weil die Klägerin die Wartezeit von 35 Jahren nicht erfüllt habe. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin war erfolgreich. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 17.4.2002 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.5.2001 mit einem monatlichen Zahlbetrag von zunächst 617,21 DM und ab dem 1.1.2002 in Höhe von 315,57 Euro. Den Rentenzahlbetrag ermittelte die Beklagte mit einer fiktiven Berechnung.

3
Im Bescheid vom 29.5.2008 berechnete die Beklagte die Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.7.2008 neu. Der monatliche Zahlbetrag wurde weiterhin auf 315,57 Euro festgesetzt. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit der Begründung zurück, wegen der nicht erfüllten Wartezeit bestehe kein Anspruch auf eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Ohne die Bestandskraft der Rentenbewilligung ergebe sich kein rechtmäßig zustehender Ausgangsbetrag, der zB durch eine Rentenanpassung erhöht werden könnte. Die Rente der Klägerin werde daher solange von sämtlichen künftigen Rentenerhöhungen ausgenommen (Aussparung auf Dauer), bis sich ein rechtmäßiger Rentenanspruch ergebe. Zwar habe die Klägerin im April 2006 das 65. Lebensjahr vollendet. Dies führe jedoch zu keiner Veränderung des Zahlbetrages ihrer Rente. Seit dem 1.8.2004 gelte, dass nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters der Wechsel in eine andere Rente wegen Alters ausgeschlossen sei (Widerspruchsbescheid vom 29.7.2008). Den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Regelaltersrente lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18.1.2010; Widerspruchsbescheid vom 3.3.2010). Auch das Begehren der Klägerin, für ihre drei in den Jahren 1967, 1970 und 1972 geborenen Kinder eine "Mütterrente" zu erhalten, blieb erfolglos. Die Neuberechnung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.7.2014 führe auch unter diesem Aspekt zu keiner Veränderung des Zahlbetrages. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit einer dem Widerspruchsbescheid vom 29.7.2008 entsprechenden Begründung zurück (Bescheid vom 31.10.2014; Widerspruchsbescheid vom 3.12.2014). Das SG hat die Klage hiergegen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 25.2.2015  S 4 R 5809/14).

4
Mit hier angefochtenem Bescheid vom 19.5.2018 setzte die Beklagte die Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.7.2018 neu und wiederum mit einem Zahlbetrag in Höhe von 315,57 Euro fest. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg. Die Beklagte wiederholte ihre bisherige Begründung (Widerspruchsbescheid vom 23.8.2018).

5
Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Beklagte habe einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten wegen Kindererziehung zu Recht abgelehnt, weil am 30.6.2014 kein Anspruch auf eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen bestanden habe. Der diese Rente bewilligende Bescheid vom 17.4.2002 könne nicht mehr zurückgenommen werden. Im Falle einer Änderung könne die Leistung gemäß § 48 Abs 3 SGB X nicht über den Betrag hinausgehen, der sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergebe (Urteil vom 14.2.2019).

6
Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide in der Fassung der bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem LSG ergangenen Rentenanpassungsmitteilungen verurteilt, der Klägerin eine höhere Rente ab dem 1.7.2018 unter Berücksichtigung eines Zuschlags an persönlichen Entgeltpunkten nach § 307d SGB VI in der Fassung vom 23.6.2014 (BGBl I 787) für ihre drei in den Jahren 1967, 1970 und 1972 geborenen Kinder sowie unter Zugrundelegung des jeweils geltenden Rentenwerts (West) von 32,03 Euro ab dem 1.7.2018, von 33,05 Euro ab dem 1.7.2019, von 34,19 Euro ab dem 1.7.2020 und von 36,02 Euro ab dem 1.7.2022 zu bezahlen. § 48 Abs 3 SGB X stehe dem nicht entgegen. Zwar sei die der Rentengewährung zugrunde liegende Zusicherung der Beklagten vom 8.6.1999 rechtswidrig erfolgt, weil die Klägerin die für eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen erforderliche Wartezeit von 35 Jahren nicht erfülle. Es seien aber die Besonderheiten des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Bei Renten wegen Alters seien als die maßgebliche, mit der tatsächlich gewährten Altersrente nach § 48 Abs 3 SGB X abzugleichende rechtmäßige Leistung auch etwaige andere Altersrentenarten heranzuziehen, deren materielle Anspruchsvoraussetzungen vorlägen. Die Ansprüche auf einzelne Arten der Renten wegen Alters schlössen sich in ihrer Entstehung nicht gegenseitig aus und stünden unabhängig nebeneinander. § 34 Abs 4 SGB VI aF, der im Fall einer bindenden Bewilligung einer Altersrente den Wechsel in eine andere Rente wegen Alters ausschließe, stehe der Heranziehung eines rechtmäßigen Anspruchs als Vergleichsgröße bei der Anwendung von § 48 Abs 3 SGB X nicht entgegen. Die zum 1.8.2004 in Kraft getretene Vorschrift beeinträchtige nicht das Bestehen der Rentenansprüche als solche. Sinn und Zweck des § 48 Abs 3 SGB X ließen die Heranziehung eines rechtmäßigen, tatsächlich bestehenden Altersrentenanspruchs als Vergleichsmaßstab für eine bestandskräftig, aber rechtswidrig bzw auf Grundlage eines rechtswidrigen Verwaltungsakts gewährte Altersrente zu. Durch die Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB X solle (nur) die Vertiefung materiellen Unrechts verhindert werden. Es handele sich dabei nicht um eine Art verfahrensrechtlicher Strafnorm, die auch von dem rechtswidrig bzw auf rechtswidriger Grundlage zugesprochenen Anspruch unabhängige, rechtmäßige Ansprüche in die Aussparung einbeziehen und mithin sanktionieren solle.

7
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 48 Abs 3 SGB X und § 34 Abs 4 SGB VI aF. Die Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB X sei zwingend und stehe nicht im Ermessen der Verwaltung. Nach dessen Wortlaut dürfe als Vergleichsmaßstab nicht auf einen hypothetischen Anspruch abgestellt werden. Ohne die Zusicherung vom 8.6.1999 hätte die Klägerin keinen Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen, sodass der Zahlbetrag 0 Euro betrage. § 34 Abs 4 Nr 3 SGB VI aF schließe als negative Anspruchsvoraussetzung den nahtlosen Übergang von einer bereits zuerkannten Altersrente zu einer anderen Rente aus eigener Versicherung aus. Ein rechtmäßiger Anspruch auf die Regelaltersrente könne damit nicht entstehen. § 48 Abs 3 SGB X sei keine Rechtsgrundlage für ein Entstehen hypothetischer Leistungsansprüche.

8
Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts BadenWürttemberg vom 28. Juli 2022 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Februar 2019 zurückzuweisen.

9
Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

10
Die Klägerin ist der Auffassung, eine Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB X dürfe nicht mehr erfolgen, seitdem ihr ein rechtmäßiger Anspruch auf Regelaltersrente zustehe, der der Höhe nach der zu Unrecht gewährten Leistung entspreche. Eine darüber hinausgehende Aussparung käme einer Sanktion gleich, obwohl die Rechtswidrigkeit des zugrunde liegenden Verwaltungsakts aus der Sphäre der Beklagten stamme. § 34 Abs 4 SGB VI aF stehe einer Vergleichsberechnung unter Heranziehung anderer Rentenarten nicht entgegen. Dies diene der Gewährleistung eines Zustandes, wie er bestünde, wenn die Beklagte rechtmäßig gehandelt hätte.


II

11
Die zulässige Revision der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

12
1. Im Revisionsverfahren ist über eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) zu entscheiden. Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Bescheids vom 19.5.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.8.2018, in dem die Beklagte die zu Unrecht anerkannte Rente von sämtlichen künftigen Rentenerhöhungen ausnahm (Aussparung auf Dauer) und unter Änderung des Bescheids vom 17.4.2002 die Leistung einer höheren Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.7.2018 unter Berücksichtigung eines Zuschlags an persönlichen Entgeltpunkten nach § 307d Abs 1 iVm Abs 2 Satz 1 SGB VI in der Fassung des Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) vom 23.6.2014 (BGBl I 787) für die Erziehung ihrer drei in den Jahren 1967, 1970 und 1972 geborenen Kinder ("Mütterrente") sowie unter Zugrundelegung von jährlichen Rentenanpassungen (§ 65 SGB VI) ablehnte. Dass die Klägerin vorinstanzlich nicht ausdrücklich die Verpflichtung der Beklagten zur Änderung des Bescheids vom 17.4.2002 beantragt hat, steht einer Entscheidung darüber im Revisionsverfahren nicht entgegen (vgl BSG Urteil vom 30.3.2023  B 2 U 5/21 R  SozR 41300 § 48 Nr 42, juris RdNr 12).

13
Gegenstand der revisionsrechtlichen Prüfung ist der Bescheid vom 19.5.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.8.2018 in der Fassung der jeweils zum 1.7.2019, zum 1.7.2020 und zum 1.7.2022 ergangenen Rentenanpassungsmitteilungen (§ 119 Abs 2 Satz 2 SGB VI, § 18 Abs 1 Satz 1 RentSV). Das LSG hat diese Verwaltungsakte gemäß § 96 Abs 1, § 153 Abs 1 SGG zutreffend miteinbezogen (vgl dazu auch BSG Urteil vom 29.6.2000  B 13 RJ 29/98 R  SozR 32600 § 307a Nr 15, juris RdNr 25). Soweit das SG über eine Begrenzung der Leistungshöhe nur im Hinblick auf einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten für Kindererziehung entschieden hat, hat das LSG dies unter Berücksichtigung des Begehrens der Klägerin (§ 123 SGG), die vor den Instanzgerichten noch nicht anwaltlich vertreten gewesen war, von Amts wegen korrigiert (zum Meistbegünstigungsprinzip vgl ua BSG Urteil vom 30.3.2023  B 2 U 5/21 R  SozR 41300 § 48 Nr 42, juris RdNr 12). Ein kraft Gesetzes bereits vor dem 1.7.2018 bestehender Anspruch auf einen Zuschlag nach § 307d SGB VI aF ist nicht Gegenstand der hier angefochtenen Entscheidung gewesen. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem BSG am 27.6.2024 zu Protokoll erklärt, dass sie hinsichtlich des Zuschlags an persönlichen Entgeltpunkten ("Mütterrente") ab dem 1.7.2014 und ab dem 1.1.2019 sowie hinsichtlich weiterer Rentenanpassungen nach Abschluss des Berufungsverfahrens entsprechend dem Ausgang dieses Rechtsstreits verfahren werde.

14
2. Die Klägerin hat ab dem 1.7.2018 einen Anspruch auf höhere Leistung der von der Beklagten gewährten Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter entsprechender Änderung des Rentenbescheids vom 17.4.2002. Sie kann den geltend gemachten Anspruch auf § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X stützen.

15
a) Eine (teilweise) Änderung der rechtlichen Verhältnisse gegenüber der ursprünglichen Rentenbewilligung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ergab sich zugunsten der Klägerin aus § 307d Abs 1 iVm Abs 2 Satz 1 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung des RVLeistungs-verbesserungsgesetzes vom 23.6.2014 (BGBl I 787; vgl dazu BSG Urteil vom 28.6.2018  B 5 R 12/17 R  BSGE 126, 118 = SozR 42600 § 307d Nr 3, juris RdNr 11). Danach war die Beklagte verpflichtet, die Rente der Klägerin ab dem 1.7.2014 durch zusätzliche Berücksichtigung eines Zuschlags von jeweils einem persönlichen Entgeltpunkt pro Kind zu erhöhen. Im Versicherungsverlauf der Klägerin ist jeweils eine Kindererziehungszeit für den zwölften Kalendermonat nach der Geburt der Kinder ausgewiesen; ein Anspruch nach §§ 294, 294a SGB VI besteht nicht. Aufgrund des bindenden Rentenbescheids vom 17.4.2002 (§ 77 SGG) "bestand" ein Anspruch auf eine Rente iS des § 307d Abs 1 SGB VI aF. Eine Neuberechnung ihres Rentenzahlbetrags konnte die Klägerin darüber hinaus aufgrund des jeweils geänderten aktuellen Rentenwerts (§§ 65, 68 SGB VI) zum 1.7.2018, zum 1.7.2019, zum 1.7.2020 und zum 1.7.2022 verlangen. Auch bei der gesetzlichen Rentenanpassung handelt es sich um eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen iS von § 48 Abs 1 SGB X (vgl bereits BSG Urteil vom 29.8.1996  4 RA 54/95  SozR 32600 § 63 Nr 1, juris RdNr 23; BSG Urteil vom 16.3.1989  4/11a RA 70/87  BSGE 65, 8 = SozR 1300 § 48 Nr 55, juris RdNr 23). Beide Änderungen betrafen die Leistungshöhe und waren damit auch wesentlich iS von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X (vgl BSG Urteil vom 27.6.2019  B 11 AL 14/18 R  BSGE 128, 255 = SozR 44300 § 159 Nr 7, juris RdNr 15; BSG Urteil vom 6.9.2017  B 13 R 33/16 R  SozR 42600 § 96a Nr 17, juris RdNr 22).

16
b) Die Beklagte durfte in den angefochtenen Bescheiden eine Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB X nicht vornehmen.

17
aa) Nach § 48 Abs 3 Satz 1 SGB X darf, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann und eine Änderung nach Abs 1 oder Abs 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt (sog Aussparen, Einfrieren bzw Abschmelzen der Leistung; vgl BSG Urteil vom 7.5.2013  B 1 KR 5/12 R  SozR 42500 § 55 Nr 2, juris RdNr 26; BSG Urteil vom 2.12.2010  B 9 V 1/10 R  SozR 43100 § 62 Nr 2, juris RdNr 25). Diese Regelung gilt nach § 48 Abs 3 Satz 2 SGB X entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann. Die "Aussparungsregelung" greift nicht nur ein, wenn sich der zur Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Bescheids führende Fehler auf die Höhe einer Geldleistung auswirkt, sondern auch dann, wenn er die Grundlage der Leistungsbewilligung betrifft (vgl BSG Urteil vom 20.3.2007  B 2 U 38/05 R  SozR 41300 § 48 Nr 10, juris RdNr 19; BSG Urteil vom 18.3.1997  2 RU 19/96  BSGE 80, 119 = SozR 31300 § 48 Nr 61, juris RdNr 24).

18
Die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussparung nach § 48 Abs 3 Satz 2 SGB X waren grundsätzlich erfüllt, weil die Bewilligung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Bescheid vom 17.4.2002 auf einer bindend gewordenen rechtswidrigen begünstigenden Zusicherung der Beklagten beruhte. Bei dem Schreiben vom 8.6.1999 handelte es sich um einen Verwaltungsakt und nicht um eine bloße Auskunft (zur Abgrenzung vgl BSG Urteil vom 8.12.1993  10 RKg 19/92  SozR 31300 § 34 Nr 2, juris RdNr 20). Die Zusicherung war rechtswidrig, da die Klägerin für einen Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) nicht die erforderliche Wartezeit von 35 Jahren erfüllte (§ 37 Satz 1 Nr 3, § 50 Abs 4 Nr 2, § 236a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI). Einer Rücknahme des rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakts standen die Fristen des § 45 Abs 3 SGB X entgegen. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zusicherung war bereits dem Bewilligungsbescheid vom 17.4.2002 zu entnehmen (vgl dazu BSG Urteil vom 18.3.1997  2 RU 19/96  BSGE 80, 119 = SozR 31300 § 48 Nr 61, juris RdNr 24 mwN).

19
bb) Für den streitbefangenen Zeitraum durfte aber eine Aussparung zu Lasten der Klägerin deshalb nicht erfolgen, weil die nach § 48 Abs 1 SGB X neu festzustellende Leistung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen nicht über den Betrag hinausging, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergab (§ 48 Abs 3 SGB X).

20
Im Regelfall bezieht sich die danach vorzunehmende Vergleichsberechnung auf ein und dieselbe Leistung. Steht ohne Berücksichtigung der Bestandskraft schon dem Grunde nach kein Anspruch zu, ist eine Erhöhung grundsätzlich ausgeschlossen, weil bei einer Neuberechnung stets von "Null" als rechtmäßiger Leistung auszugehen ist (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010  B 9 V 1/10 R  SozR 43100 § 62 Nr 2, juris RdNr 32; Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 48 RdNr 35; Sandbiller in BeckOGK, SGB X, § 48 RdNr 85, Stand 15.8.2023; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, 3. Ergänzungslieferung 2024, § 48 RdNr 102). Der Klägerin stünde ohne Berücksichtigung der Bestandskraft der rechtswidrig erteilten Zusicherung wegen der fehlenden Wartezeiterfüllung keine Altersrente für schwerbehinderte Menschen zu. Würde allein auf diese Rentenleistung Bezug genommen, wäre  wie von der Beklagten angenommen  der Vergleichsbetrag ein monatlicher Rentenbetrag von 0 Euro und eine Rentenerhöhung auf Dauer ausgeschlossen.

21
Das LSG hat jedoch zu Recht herausgestellt, dass die Besonderheiten der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen und in Fällen wie dem der Klägerin auch andere Arten von Altersrenten, deren materielle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, als Vergleichsmaßstab heranzuziehen sind. Das Gesetz unterscheidet die verschiedenen Arten von Renten wegen Alters in den Vorschriften der §§ 33, 89 SGB VI sowie in §§ 35 bis 40, §§ 236 bis 238, § 302 SGB VI. Hierbei handelt es sich nicht um unterschiedliche Rechtsgrundlagen für ein einheitliches (Stamm-)Recht, sondern um eigenständige, nebeneinander bestehende Renten wegen Alters, auf die nach den gesetzlichen Vorschriften jeweils ein Anspruch bestehen kann (vgl BSG Urteil vom 11.12.2019  B 13 R 7/19 R  SozR 42600 § 77 Nr 12, juris RdNr 21 mwN; zur strikten Trennung der Altersrentenarten vgl auch BSG Urteil vom 17.6.2020  B 5 R 2/19 R  juris RdNr 24). Wie der Fall der Klägerin zeigt, kann die rechtswidrige Bewilligung oder die auf einer rechtswidrigen, aber bestandskräftigen Zusicherung beruhende Leistung einer Altersrente einer bestimmten Art dazu führen, dass eine andere Rente wegen Alters, deren positive Anspruchsvoraussetzungen später erfüllt sind, nicht mehr gewährt wird. Grund hierfür ist die Regelung in § 34 Abs 4 Nr 3 SGB VI in der hier einschlägigen Fassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.4.2007 (BGBl I 554). Danach ist ein solcher Wechsel nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters ausgeschlossen. Hätte die Beklagte keine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.5.2001 bestandskräftig gewährt, hätte sie unmittelbar im Anschluss an die seit März 1997 bezogene Rente wegen Berufsunfähigkeit ab dem 1.5.2006 eine Regelaltersrente nach Erreichen der dafür maßgeblichen Altersgrenze im April 2006 geleistet. Die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wäre von Amts wegen zugunsten der Klägerin nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres umgewandelt worden (§ 115 Abs 3 SGB VI). Nur wenn ein Versicherter im Einzelfall einen aufgeschobenen Rentenbeginn begehrt, wird eine Regelaltersrente erst später geleistet. Anderenfalls wird im Interesse des Rentenbeziehers an einem nahtlosen Rentenbezug unmittelbar im Anschluss an die Erwerbsminderungsrente die Regelaltersrente geleistet (vgl dazu auch Kater in BeckOGK, SGB VI, § 115 RdNr 15, Stand 15.8.2024; Westphal in Kreikebohm/Roßbach, SGB VI, 6. Aufl 2021, § 115 RdNr 29).

22
Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hätte eine Regel-altersrente bereits unmittelbar nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres bei Renteneintritt im Mai 2006 die von der Klägerin bezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen in ihrer Höhe übertroffen. Aufgrund der für beide Rentenarten gleichermaßen geltenden Maßstäbe für Rentenerhöhungen konnte die Altersrente für schwerbehinderte Menschen den Betrag der Regelaltersrente auch nicht am 1.7.2018 übersteigen und eine Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB X deshalb nicht begründen.

23
cc) Bereits der Wortlaut und die Gesetzeshistorie von § 48 Abs 3 SGB X lassen Raum für die Berücksichtigung einer anderen Altersrentenart als Vergleichsmaßstab. Nach dem Gesetzestext ist bei der Neufestsetzung der bisherige Zahlbetrag dem Betrag gegenüberzustellen, der sich "der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft" (der rechtswidrigen Bewilligung) ergibt. "Neu festzustellen" war hier eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Dass es sich bei dem Vergleichsbetrag, der sich ohne die rechtswidrige Bewilligung ergibt, stets um den Betrag handeln muss, der sich rechtmäßig gerade für die bestandskräftig bewilligte Leistung ergibt, bestimmt der Wortlaut nicht. Auch den Gesetzesmaterialien lässt sich dies nicht entnehmen. Danach sollte bei einer Veränderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen nicht von der durch Bestandskraft gedeckten (rechtswidrigen) Höhe der Leistung ausgegangen werden, sondern die Erhöhung darauf aufbauen, was sich bei richtiger Anwendung des Rechts ergeben würde (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Sozialgesetzbuches <SGB>  Verwaltungsverfahren , BTDrucks 8/2034 S 36 zu § 46). Bei gesetzeskonformem Handeln hätte die Beklagte keine rechtswidrige Zusicherung erteilt und in der Folge auch keine Altersrente für schwerbehinderte Menschen, sondern ab dem 1.5.2006 eine Regelaltersrente bewilligt.

24
dd) Jedenfalls entspricht es dem Sinn und Zweck des § 48 Abs 3 SGB X, in Konstellationen wie hier als Vergleichsbetrag den Zahlbetrag der Altersrente heranzuziehen, die dem Versicherten ohne Bewilligung der abzuschmelzenden Leistung zugestanden hätte.

25
Einerseits werden Versicherte in ihrem Vertrauen auf die Bindungswirkung eines Verwaltungsakts (§ 77 SGG) durch die Regelungen der §§ 45, 48 SGB X geschützt, die nur unter besonderen Voraussetzungen die Aufhebung von begünstigenden Verwaltungsakten ermöglichen. Damit hat der Gesetzgeber das Gebot des Vertrauensschutzes, das durch das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte verbürgt ist, für den Bereich des Sozialrechts konkretisiert. Empfänger von Sozialleistungen sollen vor der Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte in besonderer Weise geschützt werden (vgl BSG Urteil vom 3.2.2022  B 5 R 26/21 R  BSGE 133, 262 = SozR 41300 § 44 Nr 44, juris RdNr 24 mwN). Dies gilt ganz besonders für Rentenbezieher. Rentenleistungen bestimmen die Existenzgrundlage der Leistungsberechtigten regelmäßig für einen sehr langen Zeitraum und treten in den weitaus überwiegenden Fällen an die Stelle eines ganz oder teilweise wegfallenden Erwerbseinkommens. Die gewährte Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung prägt üblicherweise entscheidend die weitere Lebensgestaltung (vgl dazu bereits BSG Urteil vom 6.7.2022  B 5 R 21/21 R  BSGE 134, 237 = SozR 41300 § 63 Nr 32, juris RdNr 17).

26
Andererseits soll § 48 Abs 3 SGB X dafür sorgen, dass das durch eine bestandskräftige rechtswidrige Verwaltungsentscheidung entstandene materielle Unrecht, das wegen der Vertrauensschutzregelungen der §§ 45, 49 SGB X nicht mehr korrigiert werden kann, nicht weiter wächst, indem sich eine rechtswidrig gewährte Leistung zu Gunsten des Betroffenen noch weiter erhöht (vgl BSG Urteil vom 24.4.2014  B 13 R 3/13 R  SozR 41300 § 44 Nr 30, juris RdNr 22; BSG Urteil vom 2.12.2010  B 9 V 1/10 R  SozR 43100 § 62 Nr 2, juris RdNr 25; BSG Urteil vom 20.3.2007 B 2 U 38/05 R  SozR 41300 § 48 Nr 10, juris RdNr 19; BSG Urteil vom 22.3.1989  7 RAr 122/87  SozR 1300 § 44 Nr 38, juris RdNr 24; BSG Urteil vom 22.6.1988  9/9a RV 41/86  BSGE 63, 259 = SozR 1300 § 48 Nr 49, juris RdNr 19). Eine fehlerhaft bewilligte Leistung soll so lange nicht erhöht werden, bis der geschützte Zahlbetrag von der materiellen Rechtslage (wieder) gedeckt ist. Entscheidend ist der Betrag der Leistung, der sich aufgrund der wahren Sach- und maßgeblichen Rechtslage ergibt (vgl BSG Urteil vom 16.3.1989  4/11a RA 70/87  BSGE 65, 8 = SozR 1300 § 48 Nr 55, juris RdNr 23). Dadurch wird ein Ausgleich geschaffen zwischen dem Bestandsschutzinteresse des Begünstigten einerseits und dem Interesse der Allgemeinheit an der Durchsetzung der materiell-rechtlich zutreffenden Rechtslage andererseits (vgl Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 48 RdNr 34; Brandenburg in Schlegel/Voelzke, jurisPKSGB X, Stand 15.11.2023, § 48 RdNr 89). Dies sollte auch in den Fällen gelten, in denen ein Leistungsbescheid nur deshalb rechtmäßig ist, weil ihm ein rechtswidriger begünstigender Bescheid zugrunde liegt. Der Gesetzgeber hat deshalb die Regelung in § 48 Abs 3 Satz 2 SGB X eingefügt und den Grundsatz, wonach Unrecht nicht weiter wachsen darf, gerade auch für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung betont (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der Rentenüberleitung <Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz  RüErgG>, BTDrucks 12/4810 S 36).

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Diesen Grundsätzen würde eine weitere Abschmelzung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen im Fall der Klägerin nicht gerecht. Die Abschmelzung verhindert in diesem besonderen Fall nicht das Anwachsen von Unrecht. Das Unrecht, das durch die auf der rechtswidrigen Zusicherung beruhende Bewilligung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen entstanden ist, wird ab dem 1.5.2006 nicht perpetuiert oder weiter vertieft. Vielmehr würde durch Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X neues Unrecht zu Lasten der Klägerin geschaffen, indem die Abschmelzung hier zur dauerhaften Zahlung eines Betrages führen würde, der ihren materiell-rechtlichen Rentenanspruch gänzlich unberücksichtigt ließe. Die Klägerin stünde hierdurch schlechter als sie stünde, wenn die Beklagte die rechtswidrige Zusicherung nach § 45 SGB X hätte zurücknehmen können. Das LSG weist zutreffend darauf hin, dass § 48 Abs 3 SGB X keine verfahrensrechtliche Strafnorm ist. Ohne Bewilligung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen hätte die Klägerin ab dem 1.5.2006 einen Anspruch auf Regelaltersrente gehabt. Diese wäre unter Beachtung sämtlicher Rentenanpassungen und ab dem 1.7.2014 unter Berücksichtigung eines Zuschlags an persönlichen Entgeltpunkten für Kindererziehung geleistet worden. Es hätte wegen § 115 Abs 3 SGB VI für den Bezug der Regelaltersrente nicht einmal eines gesonderten Antrags bedurft. Dieser, der Klägerin zustehende und von Art 14 Abs 1 GG geschützte Rentenanspruch würde völlig außer Acht gelassen, wenn er nicht in die Vergleichsberechnung nach § 48 Abs 3 SGB X einbezogen würde. Die Beklagte würde dann über den eigentlichen Sinn und Zweck der Aussparung hinaus einen finanziellen Vorteil erlangen.

28
c) Dem LSG ist zuzustimmen, dass mit diesem Verständnis von § 48 Abs 3 SGB X die Vorschrift des § 34 Abs 4 Nr 3 SGB VI aF nicht umgangen wird. Mit dieser durch das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RVNachhaltigkeitsgesetz) vom 21.7.2004 (BGBl I 1791) zum 1.8.2004 eingeführten Regelung sollte gesichert sein, dass ein Altersrentner dauerhaft Bezieher dieser Art von Altersrente bleibt und nicht durch den Wechsel in eine andere Altersrentenart eine für ihn eventuell günstigere Neuberechnung seiner Rente erhalten kann. Zugleich sollte auch an dieser Stelle klargestellt werden, dass es entgegen der früheren Rechtsprechung des BSG unterschiedliche, nebeneinander bestehende Renten wegen Alters gibt, auf die nach den gesetzlichen Vorschriften jeweils ein Anspruch bestehen kann (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BTDrucks 15/2149 S 21). In der hier zugrunde liegenden Konstellation geht es indes nicht darum, Dispositionen des Versicherten zu Lasten der Versichertengemeinschaft zu verhindern. Der Klägerin wird auch nicht anstelle ihrer Altersrente für schwerbehinderte Menschen eine Regelaltersrente bewilligt. Es wird lediglich die Höhe der weiterhin gewährten Leistung "Altersrente für schwerbehinderte Menschen" anhand des Vergleichsmaßstabs der Rente bestimmt, die ohne Bewilligung der zugesicherten Rente und bei von Anfang an rechtmäßigem Verhalten der Beklagten hätte beansprucht werden können. Da die in § 48 Abs 3 SGB X vorgesehene fiktive Betrachtung "ohne Berücksichtigung der Bestandskraft" erfolgt, kann § 34 Abs 4 SGB VI aF, der gerade die Bestandskraft der Bewilligung einer Rente wegen Alters voraussetzt, in diesem Zusammenhang nicht entgegenstehen.

29
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 iVm § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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