Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 18. Dezember 2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streitig.
Der 1968 geborene Kläger erlernte nach seinen eigenen Angaben den Beruf eines Betriebsschlossers und war im Anschluss daran bis 2006 in diesem Beruf tätig. Danach übte er Tätigkeiten als Lagerist, selbstständiger Handelsvertreter, Metallfachhelfer und zuletzt (bis 2021) als Monteur aus. Danach bezog er unter anderem bis Mai 2023 Krankengeld (unterbrochen durch Übergangsgeld für die Zeit vom 14. Januar bis 19. März 2021) und im Anschluss daran Arbeitslosengeld bis 6. August 2024.
Bereits im Oktober 2014 erlitt der Kläger einen Vorderwandinfarkt. Vom 28. Oktober bis 25 November 2014 nahm er an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in W1 teil. L1 gab im Entlassungsbericht vom 28. November 2014 an, der Kläger leide an einer koronaren 2-Gefäßerkrankung, an einer arteriellen Hypertonie und an Diabetes mellitus Typ 2. Er könne die Tätigkeit eines selbstständigen Handelsvertreters oder mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Es sei eine vollständige Rekonvaleszenz eingetreten.
Vom 14. Januar bis 11. Februar 2021 nahm der Klägern erneut an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Rehaklinik T1 in M1 teil. Z1 gab im Entlassungsbericht vom 17. Februar 2021 an, der Kläger leide an Diabetes mellitus Typ 2, an einer arteriellen Hypertonie, an einer koronaren 2-Gefäßerkrankung, Hyperlipidproteinämie, Spondylarthrose und unter Nikotinabusus. Unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sei er noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten.
Am 4. Mai 2022 beantragte der Kläger die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zur Begründung gab er an, er leide an einer schweren Schlafapnoe, an Polyneuropathie, Diabetes, an Arthrose im Rücken und an den Gelenken und Knien, an Morbus Dupuytren der linken Hand, an einer chronischen Gastritis, an einer Refluxerkrankung und an einem Zustand nach Herzinfarkt. Die Beklagte zog zunächst ärztliche Befundberichte sowie die sozialmedizinische Stellungnahme des Gutachters G1 von der Agentur für Arbeit H1 vom 18. Februar 2022 bei, wonach der Kläger noch in der Lage sei, mehr als sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten zu verrichten. Der Beklagte holte sodann das Gutachten des G2 vom 5. Juli 2022 ein. Dieser gelangte für den Kläger zur folgenden Diagnosen: Diabetes mellitus Typ 2 mit diabetischer Polyneuropathie (medikamentös behandelt), koronare Herzkrankheit mit Zustand nach Vorderwandinfarkt und schwergradigem obstruktiven Schlafapnoesyndrom mit Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit. Unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen könne der Kläger noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten, die Tätigkeit als Maschinenbauer jedoch nur noch unter drei Stunden täglich. Mit Bescheid vom 11. Juli 2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, da er noch in der Lage sei, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden täglich zu verrichten.
Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 21. Juli 2022 unter Vorlage einer Vollmacht (mit der Bitte, die künftige Korrespondenz ausschließlich mit dem Bevollmächtigten zu führen) Widerspruch ein. Zur Begründung wurde vorgetragen, sein Konzentrationsvermögen reiche nicht, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18. November 2022, gerichtet an den Kläger, wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch als unbegründet zurück. Zwar könne er als Maschinenbauer nur noch unter drei Stunden täglich arbeiten. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes könne er aber noch unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr täglich ausüben. Mit Schreiben vom 23. Februar 2023 übersandte die Beklagte den Widerspruchsbescheid an den Prozessbevollmächtigten des Klägers.
Hiergegen erhob der Kläger am 9. März 2023 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) und trug zur Begründung im Wesentlichen vor, der Gutachter G2 habe vordergründig nur über das orthopädische Fachgebiet geurteilt. Er leide jedoch an einer Polyneuropathie, an einem schwergradigen obstruktiven Schlafapnoesyndrom, an Antriebslosigkeit, einem chronischen Tinnitus mit hohem Leidensdruck und an vermehrter Müdigkeit.
Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen. S1 gab an (Auskunft vom 1. April 2023), der Kläger leide an einem schwergradigen obstruktiven Schlafapnoesyndrom, er könne aber aus schlafmedizinischer Sicht eine Tätigkeit von sechs Stunden ausführen, wobei Nachtdienst gemieden werden sollte. S2 teilte mit (undatierte Auskunft), der Kläger habe sich das erste Mal im September 2020 mit diabetischer Polyneuropathie vorgestellt. Seitdem gebe es regelmäßige Kontrolluntersuchungen. Bei sensibler Polyneuropathie könnten körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in aller Regel noch ausgeführt werden. Der Kläger sei noch in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen auszuüben. E1 führte aus (Auskunft vom 25. April 2023), der Kläger leide an einer somatisierten Depression, an einer somatoformen Schmerzstörung, Tinnitus und an einer bipolaren Depression mit hypomaner Überstimulierung. Sie gehe weniger davon aus, dass eine Leistungsminderung infolge der Leiden bestehe, sondern vielmehr infolge mangelnder Anpassungsfähigkeit. M2 gab an (Auskunft vom 4. April 2023), der Kläger sei noch in der Lage, sechs Stunden täglich leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Er sei auch noch in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und Wegstrecken von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen.
Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) holte das SG das Gutachten des W2 (Klinikum W3) vom 9. Oktober 2023 ein. Dieser gelangte für den Kläger zu der Einschätzung, dass auf psychiatrischem und neurologischem Fachgebiet keine gesicherten Diagnosen vorlägen. Es bestünden nur folgende Verdachtsdiagnosen: Verdacht auf bipolare Störung, gegenwärtig gemischte Episode, Verdacht auf Alkoholabhängigkeit und fragliche Polyneuropathie. Aggravation und Simulation seien nicht auszuschließen. Die subjektiv angegebenen Beschwerden wirkten wenig plausibel und spiegelten sich nicht im Tagesablauf wieder. Der Kläger sei noch in der Lage, sowohl seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Monteur von Reinigungsanlagen als auch leichte körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Aus psychiatrischer und neurologischer Sicht sei der Kläger auch noch in der Lage, mehr als 500 Meter zu Fuß in weniger als 20 Minuten zurückzulegen und zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen.
Mit Gerichtsbescheid vom 18. Dezember 2023 wies das SG die Klage ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die Klage sei fristgemäß erhoben worden, da die einmonatige Klagefrist erst durch die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids gegenüber dem Prozessbevollmächtigten mit Zugang des Schreibens am 23. Februar 2023 in Gang gesetzt worden sei. Die Übersendung nur an den Kläger sei ermessensfehlerhaft, da dieser im Rahmen des Widerspruchsverfahrens eine Vollmacht vorgelegt und ausdrücklich um eine Korrespondenz über den Prozessbevollmächtigten gebeten habe. Die Klage sei jedoch unbegründet, da der Kläger noch in der Lage sei, sechs Stunden am Tag zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Dies ergebe sich daraus, dass keiner der mit dem Gesundheitszustand des Klägers und der darauf bezogenen Leistungseinschätzung befassten Ärzte von einem eingeschränkten quantitativen Leistungsvermögen ausgegangen sei. Eine schwere spezifische Leistungseinschränkung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen lägen nicht vor. Auch könne eine Einschränkung der Wegefähigkeit nicht festgestellt werden.
Hiergegen richtet sich die am 8. Januar 2024 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegte Berufung des Klägers, mit der er geltend macht, es bestehe eine zeitliche Leistungsminderung in rentengleichem Ausmaß. Der Gutachter G2 habe keine Untersuchung vorgenommen und auch das Gutachten des W2 sei mehr als fragwürdig. Im Gutachten stünden viele Sachen, die nicht der Wahrheit entsprächen. Seine Beschwerden seien seit der ersten Coronaimpfung schlimmer geworden, er sei seitdem nicht mehr belastbar. Er müsse wegen Müdigkeit und Schwindel 10 bis 13 Stunden im Bett verbringen, habe aber wegen der Schlafapnoe einen sehr schlechten Schlaf. Er fühle sich deshalb erschöpft und kraftlos. Er gehe deshalb von einem Impfschaden aus. Zur weiteren Begründung hat der Kläger einen Medikationsplan des M3, den Bericht des M2 vom 6. November 2023 (Diagnosen: Dysplasiecoxarthrose mit lmpingementzeichen, chronisches Wirbelsäulensyndrom, retropatellare Kniearthrose, diabetische Polyneuropathie) und dessen Arztbriefe vom 17. November 2022, 13. Juni und 19. Dezember 2023 (Diagnosen: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronisches Fatigue-Syndrom und Facettenreizung im HWS-Bereich; aktuell kein orthopädisch chirurgischer Behandlungsansatz), die Arztbriefe der S2 vom 29. Juni 2023 (Diagnose: Diabetische Polyneuropathie bei Typ-2-Diabetes mellitus ohne signifikante Progredienz im Vergleich zur Voruntersuchung) und 10. November 2023 (Diagnosen: Klinisch beginnende sensible Polyneuropathie ohne Progredienz im Vergleich zur Voruntersuchung), den Arztbrief des R1 vom 16. Juli 2024 (verdächtige Situation auf einen Progress der koronaren Herzkrankheit), dessen Bericht vom 10. September 2024 über die ambulante Herzkatheteruntersuchung vom 9. September 2024 (Zusammenfassende Befunde: „In der Coro findet sich ein gutes Ergebnis im Bereich der Stents von Vorder- wie Hinterwandgefäß. Am Seitenwandgefäß besteht eine Stenose, die einfach und mit einem Stent zu beheben ist. Notwendigkeit zur Clopidogreleinnahme für 3 Monate“) sowie eine persönliche Stellungnahme vom 24. Juli 2024 vorgelegt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 18. Dezember 2023 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. November 2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Mai 2022 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und hat den Versicherungsverlauf vom 16. Januar 2024 und die sozialmedizinische Stellungnahme der F1 vom 29. Mai 2024 vorgelegt. Mit Bescheid vom 1. August 2024 hat die Beklagte dem Kläger auf seinen Antrag vom 10. Juli 2024 hin eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation bewilligt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schreiben der Beklagten vom 18. Juni 2024 und Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 21. Oktober 2024).
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die nach §§ 143, 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG), ist gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1, § 143 SGG statthaft und zulässig. Sie bedarf nicht der Zulassung gemäß § 144 Abs. 1 SGG, denn der Kläger begehrt Geldleistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
2. Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, ab dem 1. Mai 2022 (§ 99 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>). Streitbefangen ist der Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. November 2022 (§ 95 SGG). Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit macht der im Jahr 1968 geborene Kläger zu Recht nicht geltend (vgl. § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI).
3. Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die zulässige (vgl. hierzu die zutreffenden Ausführungen des SG in den dortigen Entscheidungsgründen, auf die der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug nimmt) kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI. Der eine solche Rente ablehnende Bescheid vom 11. Juli 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. November 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Auf nicht absehbare Zeit besteht eine Einschränkung, wenn sie sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 23. März 1977 – 4 RJ 49/76 – juris, Rn. 15).
b) Nach den dargestellten Maßstäben steht für den Senat aufgrund der medizinischen Ermittlungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren und der im Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der Kläger in der Lage ist, leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zwar liegen bei ihm gesundheitliche und daraus resultierende funktionelle Einschränkungen vor. Diese mindern seine berufliche Leistungsfähigkeit jedoch allein in qualitativer, nicht auch in quantitativer Hinsicht.
(1) Der Kläger leidet auf internistischem Fachgebiet an einem Diabetes mellitus Typ 2, an einer koronaren Herzkrankheit mit Zustand nach Vorderwandinfarkt (Oktober 2014) und an einem schwergradigen obstruktiven Schlafapnoesyndrom mit Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Gutachters G2 vom 5. Juli 2022, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwerten konnte (vgl. etwa BSG, Urteil vom 1. Juli 2014 – B 1 KR 29/13 R – juris, Rn. 19; BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris, Rn. 51; zur Heranziehbarkeit als gerichtliche Entscheidungsgrundlage: BSG, Beschluss vom 22. Dezember 2021 – B 5 R 175/21 B – juris, Rn. 7; Urteil vom 12. Dezember 2000 – B 3 P 5/00 R – juris, Rn. 13), und der Auskunft des S1 vom 1. April 2023. Aus dem Reha-Entlassungsbericht des Z1 vom 17. Februar 2021 folgt weiter, dass der Kläger auch an einer arteriellen Hypertonie und an einer Hyperlipoproteinämie leidet. Dies hat auch R1 in seinem Arztbrief vom 10. September 2024 im Rahmen der am 9. September 2024 durchgeführten ambulante Herzkatheteruntersuchung bestätigt. Zudem fand sich bei der Herzkatheteruntersuchung nach den Angaben des R1 ein gutes Ergebnis im Bereich der Stents von Vorder- wie Hinterwandgefäß. Am Seitenwandgefäß besteht eine Stenose, die nach seinen Angaben einfach und mit einem Stent zu beheben ist.
Auf orthopädischem Fachgebiet leidet der Kläger an einer Spondylarthrose, an einem chronischen Wirbelsäulensyndrom, an einer retropatellaren Arthrose rechts, an Dysplasiecoxarthrose mit Impingementzeichen rechts, an Trochantertendinose rechts, einer Blockierung und Facettenreizung im HWS-Bereich sowie an einer Myogelose der Schulter-Nacken-Muskulatur. Dies ergibt sich aus der Auskunft des M2 vom 4. April 2023.
Auf nervenärztlichem Fachgebiet bestehen hingegen keine objektivierbaren psychiatrischen Diagnosen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des W2 vom 9. Oktober 2023. Dieser konnte aufgrund der Angaben des Klägers und den vom ihm (dem Sachverständigen) erhobenen Befund nur den Verdacht auf eine bipolare Störung, gegenwärtig gemischte Episode, und den Verdacht auf Alkoholabhängigkeit stellen sowie eine (im Hinblick auf unauffällige Befundergebnisse bezüglich der Messung der Nervenleitbahnen) fragliche Polyneuropathie. Soweit die E1 in ihrer Auskunft vom 25. April 2023 davon ausgegangen ist, dass der Kläger an einer somatisierten Depression, an einer somatoformen Schmerzstörung, an Tinnitus und an einer bipolaren Depression mit hypomaner Überstimulierung leidet, konnte dies W2 nicht bestätigen. Dies ist jedoch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Denn für die vorliegend zu beurteilende Frage, inwieweit der Kläger in seiner beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, ist weniger von Bedeutung, welchem konkreten Krankheitsbild die von ihm beklagten Symptome zugeordnet werden können, als vielmehr, welche funktionellen Einschränkungen hieraus resultieren und inwieweit diese der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit entgegenstehen. Nachdem die S2 sowohl in ihrer Auskunft gegenüber dem SG als auch in ihren Arztbriefen vom 29. Juni 2023 und 10. November 2023 und auch der Gutachter G2 von einer Polyneuropathie ausgegangen sind, dürften hingegen Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Erkrankung vorliegen. Letztlich kann der Senat aber auch dies aus den zuvor genannten Gründen offenlassen. Darüber hinaus hat die S2 in ihren genannten Arztbriefen jeweils angegeben, dass keine Progredienz eingetreten ist.
Soweit der Kläger mit seiner Berufung geltend macht, er leide aufgrund einer Covid-Impfung an einem Chronic Fatigue Syndrom, wird diese Diagnose (fachfremd) allein im Arztbrief des M2 vom 19. Dezember 2023 genannt, nicht jedoch in der Auskunft bzw. Arztbriefen der behandelnden S2 und E1. Dass der Kläger wegen seines Schlafapnoesyndroms an Tagesmüdigkeit leidet, steht - wie bereits dargelegt - hingegen bereits aufgrund des Gutachtens des Gutachters G2 vom 5. Juli 2022 fest. Im Übrigen ergeben die im Berufungsverfahren vorgelegten weiteren medizinischen Unterlagen keinen neuen relevanten medizinischen Sachverhalt. Hierauf hat F1 in ihrer Stellungnahme vom 29. Mai 2024 zutreffend hingewiesen.
Der medizinische Sachverhalt ist durch die medizinischen Ermittlungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren und der im Gerichtsverfahren hinreichend aufgeklärt. Dass der Kläger demnächst an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teilnehmen wird, führt nicht dazu, dass die Rehabilitationsmaßnahme zunächst abzuwarten wäre. Denn der Senat muss nicht zuwarten, bis ein Kläger möglicherweise in eine Erwerbsminderung „hineinwächst“ (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Oktober 2023 – L 10 R 3609/21 – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ohnehin ist eine Erwerbsminderung nur dann anzunehmen, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung im oben dargelegten Sinne „auf nicht absehbare Zeit“ (§ 43 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 1 Satz 2 SGB VI) vorliegt, wenn sie sich also voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt. Eine solche quantitative Leistungslimitierung besteht beim Kläger indes (bis) zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats gerade nicht (hierzu sogleich).
(2) Die festgestellten Gesundheitsstörungen schränken das berufliche Leistungsvermögen des Klägers nur in qualitativer Hinsicht, nicht aber in quantitativer Hinsicht ein. Der Kläger kann nur noch leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten abwechselnd im Stehen, Gehen und Sitzen verrichten. Zu vermeiden sind Arbeiten mit Steigen auf Leitern oder Klettern, Tätigkeiten mit Nachtschicht, mit Überkopfarbeiten, Arbeiten im Knien oder in der Hocke, mit Wirbelsäulenzwangshaltungen und solche als Fahrer. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Gutachters G2 vom 5. Juli 2022. Der Senat hält die von ihm angegebenen qualitativen Leistungseinschränkungen aufgrund der von ihm erhobenen Befunde für nachvollziehbar und schlüssig. W2 hat in seinem Gutachten vom 9. Oktober 2023 keine weitergehenden qualitativen Leistungseinschränkungen benannt.
Trotz der genannten qualitativen Leistungseinschränkungen war und ist der Kläger noch in der Lage, leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mehr als sechs Stunden täglich zu verrichten. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass die bei dem Kläger zu berücksichtigenden Gesundheitsstörungen zu einem Absinken des tatsächlichen Restleistungsvermögens auf ein unter sechsstündiges Maß geführt haben. Der Senat stützt sich hierbei auf das Gutachten des Gutachters G2 vom 5. Juli 2022. Zu einer entsprechenden Einschätzung gelangten bereits auch Z1 (Reha-Entlassungsbericht vom 17. Februar 2021), der Gutachter der Agentur für Arbeit H1 G1 (Gutachten vom 18. Februar 2022), S1 (Auskunft vom 1. April 2023), die S2 (undatierte Auskunft gegenüber dem SG) und M2 (Auskunft vom 4. April 2023). Schließlich bestätigte auch der Sachverständige W2 diese Einschätzung in seinem Gutachten vom 9. Oktober 2023. Die E1 hat gegenüber dem SG in ihrer Auskunft keine Angaben zum quantitativen Leistungsvermögen des Klägers gemacht.
Der Senat hält die Einschätzung hinsichtlich des quantitativen Leistungsvermögens des Klägers, wonach er noch in der Lage ist, leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich auszuüben, aufgrund der vom Gutachter G2 und des Sachverständigen W2 erhobenen Befunde für überzeugend und schlüssig. Gegenüber dem Gutachter G2 hat der Kläger angegeben, sich ein Fahrrad zugelegt zu haben, um wieder Fahrrad zu fahren. Auch erledigt er Haushaltsarbeiten und kümmert sich um die zwei Hunde und zwei Katzen. Tagsüber geht er mit den Hunden spazieren. Während der Untersuchung durch den Gutachter G2 war der Kläger freundlich und zugewandt und zu allen Qualitäten gut orientiert. Die Aufmerksamkeit, Konzentration und Merkfähigkeit waren unauffällig. W2 hat angegeben, dass der Kläger pünktlich mit dem eigenen Auto alleine zur Untersuchung kam. Er ist in einer Facebook-Gruppe von P2, nutzt WhatsApp und surft im Internet. Zuhause kocht der Kläger und staubt ab. Er trifft sich noch mit früheren Kollegen, z.B. im Biergarten, und gibt einmal die Woche die Daten seiner Frau für den Steuerberater ein. Der Kläger war während der Untersuchung wach, bewusstseinsklar und zu Zeit, Ort, Situation und Person voll orientiert. Auch die Auffassung und Konzentration waren intakt. Die Merkfähigkeit war (fraglich) leicht vermindert, das Langzeitgedächtnis jedoch intakt. Insgesamt war der psychopathologische Befund beim Kläger schwer zu bewerten, da die meisten Befunde auf rein subjektiven Wahrnehmungen beruhten und während der Untersuchung nicht objektiviert werden konnten, wobei Aggravation und Simulation vom Sachverständigen W2 nicht auszuschließen waren. Denn die Beschwerdeschilderung blieb oberflächlich und vage, wobei die subjektiv angegebenen Beschwerden wenig plausibel wirkten und sich nicht im Tagesablauf widerspiegeln. Vor diesem Hintergrund vermochte der Senat auch nicht die subjektiven Beschwerdeangaben des Klägers im Berufungsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(3) Ob dem Kläger ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Die jeweilige Arbeitsmarktlage ist nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Maßgebend ist, ob der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, sie also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann, wovon im Regelfall ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Gegenteiliges ist, wie zuvor dargelegt, nicht festzustellen.
(4) Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen nicht vor. In einem solchen Fall kann der Arbeitsmarkt selbst bei einem noch vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise als verschlossen gelten (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 29 ff. m.w.N.). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf noch vorhandenes Restleistungsvermögen nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten.
Dies ist hier nicht der Fall. Die qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers (siehe oben) sind nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Darin ist weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu sehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände – beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Keine dieser Fallkonstellationen ist hier gegeben.
(5) Auch die Wegefähigkeit des Klägers war und ist zu bejahen. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 21/10 R – juris, Rn. 21 f.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris, Rn. 19 f.). Der Senat sieht keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Kläger nicht in der Lage wäre, eine Gehstrecke von 500 Metern viermal in weniger als 20 Minuten täglich zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Eine rentenrechtlich relevante Einschränkung der Wegefähigkeit ist nach den zu Grunde zu legenden Befunden nicht gegeben. Dem entsprechend haben sowohl der Gutachter G2 als auch der Sachverständige W2 eine Einschränkung der Wegefähigkeit verneint. Im Übrigen verfügt der Kläger über einen PKW, der ihn in die Lage versetzt, einen Arbeitsplatz zu erreichen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 504/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 95/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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