L 11 R 174/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 580/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 174/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 04.12.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Zugunstenverfahren streitig.

Die 1964 geborene Klägerin erlernte den Beruf der Bäckereifachverkäuferin. Sie war zuletzt bis zum 13.10.2013 als Arbeiterin in einem Verpackungsbetrieb versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend stand sie bis zum 03.06.2016 im Bezug von Kranken- und Arbeitslosengeld. In der Zeit vom 04.06.2016 bis zum 15.03.2018 hatte sich die Klägerin arbeitslos gemeldet. Bei der Klägerin ist aktuell ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt. Sie bezieht Leistungen der Pflegekasse nach Pflegegrad 2 ab März 2017 und nach Pflegegrad 3 ab März 2020 (auf Grundlage eines Gutachtens nach Aktenlage).

Am 26.06.2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Sie hielt sich seit November 1990 für erwerbsgemindert. Der beratungsärztliche Dienst der Beklagten empfahl eine medizinische Rehabilitation.

In der Zeit vom 02.10.2013 bis 30.10.2013 absolvierte die Klägerin eine stationäre Maßnahme der medizinischen Rehabilitation in der K-Klinik Ü1, aus der sie im Rahmen einer geplanten Wiedereingliederung arbeitsunfähig sowie mit einem Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten von sechs Stunden und mehr entlassen wurde (Entlassbericht vom 04.11.2013 i.V.m. Schreiben vom 28.11.2013; Diagnosen Diabetes mellitus Typ  II <Erstdiagnose 1995, entgleist>, Retinopathie, Adipositas Grad I, arterielle Hypertonie <hypertensiv entgleist>, schwere Somatisierungsstörung mit chronischem Schmerzsyndrom, psychosoziale Belastungen in der Lebensgeschichte). Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen gelangte der H1 unter dem 28.11.2013 zu der Einschätzung, dass die Klägerin leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in Früh- und Spätschicht unter Beachtung qualitativer Einschränkungen sechs Stunden und mehr verrichten könne. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 09.12.2013 den Rentenantrag ab. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2014 als unbegründet zurück.

Dagegen erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) (S 3 R 1341/14). Das SG vernahm die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen ein. Der P1 berichtete mit Schreiben vom 28.07.2014 über einen regelrechten neurologischen Untersuchungsbefund (Bl. 20 der SG-Akte S 3 R 1341/14). M1 äußerte mit Schreiben vom 06.08.2014 (Bl. 21 der SG-Akte S 3 R 1341/14) keine Bedenken bezüglich der Verrichtung leichter Tätigkeiten mindestens sechs Stunden arbeitstäglich.

In der Zeit vom 24.07.2014 bis 02.08.2014 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der W1 (Entlassbrief des R1 vom 12.08.2014; Diagnosen chronisches lumbalbetontes Schmerzsyndrom bei somatoformer Schmerzstörung und ausgeprägter Beschwerdeakzentuierung, bekannte ANA-Erhöhung ohne Hinweis auf autoimmunen Prozess, Diabetes mellitus <entgleist>, arterielle Hypertonie <entgleist>, bekanntes linksbetontes Planum sphenoidale-Meningeom ohne Wachstumsprogredienz, Bandscheibenprotrusion C5/6).

 G1 vertrat mit Schreiben vom 18.08.2014 (Bl. 33 f. der SG-Akte S 3 R 1341/14) die Auffassung, dass die Klägerin nicht in der Lage sei, mindestens sechs Stunden täglich auch nur leichte Tätigkeiten zu verrichten. B1 sah die Klägerin aus orthopädischer Sicht in der Lage, leichte Arbeiten sechs Stunden täglich zu verrichten. Er nahm eine psychovegetative Überlagerung der Beschwerden an (Bericht vom 15.10.2014, Bl. 49 der SG-Akte S 3 R 1341/14). Die Beratungsärztin der Beklagten B2, , sah nach Auswertung der medizinischen Unterlagen in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 10.02.2015 (Bl. 67 der SG-Akte S 3 R 1341/14) eine somatoforme Schmerzstörung als rentenrelevantes Krankheitsbild an.

Das SG holte ein fachpsychiatrisch-neurologisches Gutachten ein. G2 beschrieb in seinem Gutachten vom 01.06.2015 (Bl. 79 der SG-Akte S 3 R 1341/14) eine arterielle Hypertonie (nicht ausreichend medikamentös eingestellt), Diabetes mellitus Typ II (nicht ausreichend medikamentös eingestellt), diabetische Retinopathie, Hyperlipidämie (medikamentös eingestellt), Adipositas Grad II, IgA-Nephritis, Schlafapnoe-Syndrom (unter Maskenbehandlung), leichte Struma diffusa, degeneratives HWS-Syndrom mit leichten Funktionseinschränkungen, degeneratives BWS-Syndrom, degeneratives LWS-Syndrom ohne Funktionsbehinderung, ein leichtes depressives Syndrom, ein flaches Meningeom am Chiasma opticum mit diskreter Größenzunahme (kontroll- und beobachtungsbedürftig), eine leichte Progredienz cerebraler Entmarkungsherde sowie eine generalisierte Angststörung. Er äußerte den Verdacht auf eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Die Klägerin sei in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, überwiegend im Sitzen, nicht auf Leitern und Gerüsten, ohne Zeitdruck, Fließbandarbeiten, Wechselschicht und ohne besondere Verantwortung. Bezüglich der zu vermutenden anhaltenden somatoformen Schmerzstörung könne eine ambulante Schmerztherapie wie auch eine Verhaltenstherapie eine nachhaltige Verbesserung erreichen. Im Rahmen einer stationären Behandlung könne ein Expositionstraining, z.B. auch das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel, durchgeführt werden. G2 empfahl die Durchführung eines psychosomatischen Heilverfahrens von mindestens sechs Wochen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) holte das SG ein weiteres nervenärztliches Gutachten ein. B3, , , diagnostizierte in seinem Gutachten vom 29.01.2016 (Bl.170 der SG-Akte S 3 R 1341/14) einen Diabetes mellitus Typ II, eine Adipositas Grad II, ein Schlafapnoe-Syndrom, eine arterielle Hypertonie, eine diabetische Retinopathie, eine Hyperlipidämie, ein HWS-Syndrom mit leichten degenerativen Veränderungen, ein degeneratives HWS-Syndrom mit leichter Funktionseinschränkung, eine leichte Progredienz von cerebralen Entmarkungsherden, ein Meningeom im Chiasma optikum ohne wesentliche krankheitsspezifische Größenzunahme, eine Somatisierungsstörung und hysterische Persönlichkeitsstruktur. Die Somatisierungsstörung bedinge eine teilweise Erwerbsunfähigkeit bei einer Arbeitsfähigkeit bis vier Stunden täglich seit 2013. Dazu legte die Beklagte sozialmedizinische Stellungnahmen der D1 vom 08.04.2016 (Bl. 190 der SG-Akte S 3 R 1341/14) und 13.09.2016 (Bl. 223 der SG-Akte S 3 R 1341/14) vor. In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 14.06.2016 (Bl. 199 der SG-Akte S 3 R 1341/14) hielt G2 an seiner Leistungsbeurteilung fest. Eine hysterische Symptombildung im Sinne einer Konversionsstörung habe er nicht feststellen können. In der mündlichen Verhandlung am 20.10.2016 nahm die Klägerin ihre Klage zurück (Bl. 240 der SG-Akte S 3 R 1341/14).

Während des stationären Krankenhausaufenthalts vom 18.03.2016 bis 21.03.2016 im Krankenhaus F1 erfolgte bei Koronarer-Ein-Gefäßerkrankung mit höhergradiger ACA-Stenose eine Stentimplantation in die RCA (Entlassbrief B4 vom 21.03.2016, Bl. 185 der SG-Akte S 3 R 1341/14). In der Zeit vom 07.03.2017 bis 23.03.2017 befand sich die Klägerin in den A1-Kliniken B5 in stationärer Behandlung (Entlassbericht E1 vom 28.04.2017; Diagnosen schweres Fibromyalgie-Syndrom, degeneratives Wirbelsäulensyndrom, Periarthropathia humeroscapularis links, Hallux-Valgus, Ein-Gefäß-Koronarherzkrankheit, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus Typ II, diabetische Polyneuropathie, Retinopathie, obstruktives Schlafapnoe unter CPAP-Therapie, IgA-Nephritis, ANA-Erhöhung, cerebrales Meningeom, Refluxerkrankung).

Am 12.07.2017 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheids vom 09.12.2013 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Am 09.08.2017 stellte sie bei der Beklagten einen erneuten Rentenantrag. Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen gelangte der Beratungsarzt der Beklagten H1 unter dem 06.09.2017 zu der Einschätzung, dass die Klägerin weiterhin in der Lage sei, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten.

Mit Bescheid vom 15.09.2017 lehnte die Beklagte den Rentenantrag vom 09.08.2017 ab, weil die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Mit Bescheid vom 27.09.2017 wies die Beklagte den Überprüfungsantrag ab. Gegen beide Entscheidungen legte die Klägerin Widerspruch ein. Mit (gesonderten) Widerspruchsbescheiden vom 06.02.2018 wies die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 15.09.2017 und 27.09.2017 als unbegründet zurück.

Am 06.03.2018 hat die Klägerin zum SG Klage erhoben sowohl gegen den Bescheid vom 15.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2018 (S 3 R 579/18) als auch gegen den Bescheid vom 27.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2018 (S 3 R 580/18).

Zur Begründung beider Klagen hat die Klägerin u.a. vorgetragen, bei ihr lägen eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung in Form eines Fibromyalgie-Syndroms, eine rezidivierende depressive Störung, ein chronisch suboptimal eingestellter Diabetes mellitus II, ein degeneratives Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom, Adipositas, Bluthochdruck, ein Meningeom und eine generalisierte Angststörung vor. Hieraus ergebe sich, dass sie noch nicht einmal in der Lage sei, drei oder mehr Stunden am Erwerbsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt teilzuhaben. Erwerbsunfähigkeit habe auch schon seit 2013 vorgelegen.

Im Klageverfahren S 3 R 580/18 hat das SG zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt. G1 hat mit Schreiben vom 03.05.2018 (Bl. 55 der SG-Akte S 3 R 580/18) über ihre Behandlung seit April 2006 berichtet und die Auffassung vertreten, dass die Klägerin seit Oktober 2012 nicht mehr in der Lage sei, eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch sechs Stunden täglich zu verrichten. L1 hat mit Schreiben vom 02.05.2018 seinen Befundbericht aufgrund einmaliger Vorstellung der Klägerin am 28.10.2015 vorgelegt (Bl. 223 der SG-Akte S 3 R 580/18). Der B1 hat mit Schreiben vom 31.07.2018 (Bl. 374 der SG-Akte S 3 R 580/18) die Auffassung vertreten, dass die Klägerin aus orthopädischer Sicht in der Lage gewesen sei, in der Zeit seiner Behandlung in den Jahren 2013 und 2014 leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr zu verrichten.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens. Der H2 hat in seinem Gutachten vom 06.01.2018 aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 11.12.2018 (Bl. 387 der SG-Akte S 3 R 580/18) eine schmerzhafte Funktionsstörung der Halswirbelsäule ohne objektivierbare neurologische Begleiterscheinung bei fortgeschrittenem Bandscheibenverschleiß C4/C5 und C5/C6 mit kleineren Bandscheibenvorwölbungen und  einer deutlichen Einengung des zentralen Wirbelkanals in diesen Etagen, eine schmerzhafte Funktionsstörung beider Schultergelenke bei klinischen Hinweisen auf diskrete entzündliche Reizzustände (Impingement) ohne Rotatorenmanschettenrupturen, eine  schmerzhafte Funktionsstörung des linken Hüftgelenks bei klinischen und radiologischen Zeichen einer beginnenden Hüftarthrose sowie ein funktionelles Schmerzsyndrom im ganzen Körper beschrieben. Die Klägerin solle nur noch körperlich leichte Arbeiten in unterschiedlichen Körperhaltungen verrichten. Heben und Tragen von mittelschweren und schweren Lasten, Zwangshaltungen der Halswirbelsäule, Überkopfarbeiten, Arbeiten überwiegend im Stehen und Gehen, mit häufigem Bücken, unter Akkord- und Fließbandbedingungen, mit Nachtschicht und Wechselschicht, mit ständigem Wechsel zwischen Wärme- und Kältezonen sollten vermieden werden. Eine Einschränkung der Wegefähigkeit bestehe nicht. Die Benutzung des Rollators sei nicht nachvollziehbar. Arbeitsunübliche Pausen seien nicht erforderlich. Die Klägerin sei in der Lage, eine leidensgerechte Tätigkeit acht Stunden täglich an fünf Tagen pro Woche auszuüben.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG hat das SG im Rechtsstreit S 3 R 580/18 ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Die C1 hat in ihrem Gutachten vom 27.07.2019 (Bl. 435 der SG-Akte S 3 R 580/18) aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 02.07.2019 ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Anteilen, eine dissoziative Störung im Bereich Wahrnehmungsstörung und Bewegungsstörung und eine depressive Entwicklung diagnostiziert. Es bestehe kein positives Leistungsbild für Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert mindestens seit 2014. Es handele sich um einen Dauerzustand, der therapeutisch nicht zu beeinflussen sei. Dazu hat die Beklagte die sozialmedizinischen Stellungnahmen des N1 vom 21.10.2019 (Bl. 527 der SG-Akte S 3 R 580/18) sowie vom 22.01.2020 (Bl. 543 der SG-Akte S 3 R 580/18) vorgelegt, C1 hat sich erneut mit Schreiben vom 10.12.2019 (Bl. 532 der SG-Akte S 3 R 580/18) zur Stellungnahme des N1 geäußert.

Im Klageverfahren S 3 R 579/18 hat das SG die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. Der J1 hat mit Schreiben vom 23.04.2018 (Bl. 45 der SG-Akten 579/18) mitgeteilt, dass aus augenärztlicher Sicht die Sehleistung der Klägerin für normale Arbeiten ausreichend sei. Der G2 hat mit Schreiben vom 26.04.2016 über eine einmalige Vorstellung berichtet (Bl. 68 der SG-Akte S 3 R 579/18). Der M2 hat mit Schreiben vom 17.05.2018 die Auffassung vertreten, dass die Klägerin wegen der im Vordergrund stehenden psychischen Erkrankung nicht in der Lage sei, drei Stunden täglich einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen (Bl. 72 der SG-Akten S 3 R 579/18). Der M3 hat mit Schreiben vom 04.05.2018 (Bl. 159 der SG-Akte S 3 R 579/18) über seine Behandlung vom 19.03.2015 bis zuletzt am 01.08.2017 berichtet. Er sei der Ansicht, dass die Klägerin im Behandlungszeitraum weder arbeits- noch vermittlungsfähig sei und auch Erwerbsunfähigkeit bestehe. Im Vordergrund stünden eine generalisierte Angststörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine chronische Schmerzstörung sowie eine Persönlichkeitsstörung. Die Angststörung habe massiv zugenommen, sodass sie keine Wege mehr allein gehe oder sich zu gehen in der Lage fühle. Sie habe sich auch unfähig gezeigt, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die ganze Symptomatik habe sich 2017 deutlich verstärkt. Der F2 hat mit Schreiben vom 11.06.2018 (Bl. 223 der SG-Akte S 3 R 579/18) mitgeteilt, dass die Klägerin von ihm seit 09.01.2018 hausärztlich betreut werde. Unter Berücksichtigung der Vorbefunde sei er der Auffassung, dass die Klägerin seit 2012 einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen könne aufgrund der psychischen Beeinträchtigungen.

Die Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme der B2 vom 17.08.2018 (Bl. 236 der SG-Akte S 3 R 579/18) vorgelegt, in der diese keine wesentliche Änderung gegenüber dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten des G2 gesehen hat.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens. Der R2 hat in seinem Gutachten vom 10.01.2020 folgende Diagnosen gestellt:
- Chronisch rezidivierende Cervicobrachialgie bei mäßig degenerativen Veränderungen der HWS und zwei kleinen Bandscheibenvorfällen ohne neurologische Auffälligkeiten und wenig Funktionseinbußen,
- beginnende Schultereckgelenksarthrose links mit Impingement-Syndrom beider Schultern,
- rezidivierende Lumbalgie mit gelegentlichen ischialgieformen Beschwerden ohne wesentliche Funktionseinbußen,
- leichte Funktionseinschränkung des linken Hüftgelenks ohne wesentliche arthrotische Veränderungen,
- somatoforme Schmerzstörung mit Chronifizierungsgrad II nach Gerbershagen,
- eher geringe Angst- und depressive Störung ohne Behandlungsbedürftigkeit.
Die diversen internistischen Diagnosen trügen nicht dazu bei, eine Erwerbsunfähigkeit zu generieren. Zu vermeiden seien das Heben schwerer Lasten, Tätigkeiten mit vermehrter Überkopfarbeit, mit Heben von Lasten über Schulterhöhe, mit Zwangshaltungen, an gefährdenden Maschinen sowie unter Witterungseinflüssen. Eine Wegstrecke von viermal 500 m arbeitstäglich sei der Klägerin möglich. Unter Beachtung der qualitativen Einschränkungen sei eine Erwerbstätigkeit von sechs Stunden täglich möglich. Eine Schmerztherapie im herkömmlichen Sinne werde nicht durchgeführt, ebenso wenig eine Psychotherapie, eine psychopharmakologische Behandlung, eine orthopädische/physiotherapeutische Behandlung zur Stabilisierung der Muskulatur. Am ehesten könne dem Gutachten von G2 zugestimmt werden, wenngleich eine generalisierte Angststörung nicht vorliege. Die Klägerin könne jederzeit das Haus verlassen. Einschränkend sei nicht eine Angsterkrankung, sondern offensichtlich der Rollator, dessen Gebrauch aber kaum nachvollziehbar sei. Die Gutachten des B3 sowie der C1 seien nicht nachvollziehbar. Das orthopädische Gutachten des H2 sei gut nachvollziehbar.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG hat das SG auch im Verfahren S 3 R 579/18 ein weiteres Gutachten eingeholt. Die C1 hat aufgrund ihrer Untersuchung am 02.07.2019 in ihrem Gutachten vom 30.05.2020 (Bl. 297 der SG-Akte S 3 R 579/18) folgende Diagnosen gestellt:
- chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Anteilen,
- dissoziative Störung im Bereich Wahrnehmungsstörung und Bewegungsstörungen,
- depressive Entwicklung.
Die multiplen Diagnosen und Beschwerden im somatischen Bereich seien nicht geeignet, erhebliche Funktionseinschränkungen zu erklären. Es liege eine schwere und komplexe psychiatrische Störung vor. Durch eine Psychotherapie und/oder eine medikamentöse Therapie könnte keine hinreichende Besserung erreicht werden. Es lägen eine reduzierte Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit, wenig Ressourcen für Neues, Kraftverlust, sozialer Rückzug und stark eingeengtes Denken, langsame und mühevolle Bewegungen, deutlicher Leidensdruck vor. Ein Leben und Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des unbeschwerten Alltages und Berufslebens seien der Klägerin mit Lebensfreude nicht mehr möglich. Organische Einschränkungen in Bezug auf eine Gehstrecke von viermal 500 m lägen nicht vor. Betriebsunübliche Pausen seien nötig. Die Klägerin sei aktuell lediglich in der Lage, höchstens drei Stunden arbeitstäglich noch leichte Tätigkeiten zu verrichten. Das eingeschränkte Leistungsvermögen bestehe bereits ab 2013.

Die Beklagte hat mit sozialmedizinischer Stellungnahme des N1 vom 25.06.2020 (Bl.382 der SG-Akte S 3 R 579/18) Einwendungen gegen das Gutachten der C1 erhoben.

Das SG hat mit den Beteiligten in beiden Klageverfahren am 04.12.2020 eine mündliche Verhandlung durchgeführt (Bl. 425 der SG-Akte S 3 R 579/18). Im Verfahren S 3 R 579/18 hat das SG die Klage mit Urteil vom 04.12.2020 abgewiesen, weil eine Erwerbsminderung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sei. Im Rechtsstreit S 3 R 580/18 hat das SG die Klage mit Urteil vom 04.12.2020 abgewiesen. Die Ablehnung der Rücknahme des Bescheids vom 09.12.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.05.2004 sei rechtmäßig, da nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sei, dass das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin in quantitativer Hinsicht seit 26.06.2013 herabgesetzt sei.

Gegen die ihrem Bevollmächtigten jeweils am 17.12.2020 zugestellten Urteile wendet sich die Klägerin mit ihren am 13.01.2021 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufungen L 11 R 174/21 (betreffend das Urteil des SG S 3 R 580/18) und L 11 R 175/21 (betreffend das Urteil des SG im Rechtsstreit S 3 R 579/18). Die Voraussetzungen der Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ergäben sich aus den Gutachten der C1. Im Gegensatz zu den anderen Ärzten und Gutachtern habe C1 sie - die Klägerin - ganzheitlich betrachtet. Allein schon aus der Tatsache, dass G2 in seinem Gutachten zu einem anderen Ergebnis als B3 komme, ergebe sich, dass bei ihr eine komplexe Erkrankung vorliege. B3 gehe von einer Leistungsfähigkeit von vier Stunden aus. Nach seiner Auffassung sei eine Verhaltenstherapie nicht erfolgversprechend, was sich mit der Begutachtung durch C1 decke. Das SG habe die umfangreichen Ausführungen der C1 nicht hinreichend gewürdigt. Die Gutachten des H2 und des R2 pickten lediglich Teilaspekte heraus.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 04.12.2020 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 27.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2018 unter Rücknahme des Bescheids vom 09.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.05.2014 zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung am 26.06.2013 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat zur Begründung auf das angefochtene Urteil verwiesen und  vorgetragen, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung letztmalig bei Eintritt eines Leistungsfalls bis zum 30.04.2020 erfüllt gewesen seien. Sie hat eine sozialmedizinische Stellungnahme der Ärztin für H3 vom 21.10.2021 (Bl. 127 der Senatsakten L 11 R 174/21) sowie des L2 vom 05.01.2022 (Bl. 129 der Senatsakten L 11 R 174/21) vorgelegt.

Der Senat hat im Rechtsstreit L 11 R 175/21 die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich einvernommen. Der M4 hat mit Schreiben vom 04.01.2022 (Bl. 144 der Senatsakten L 11 R 175/21) mitgeteilt, dass die Klägerin seit September 2015 in seiner Praxis behandelt werde. Als Diagnosen hat er einen schwer einstellbaren Diabetes mellitus Typ II, eine nichtalkoholische Fettlebererkrankung, Adipositas Grad II und eine chronische arterielle Hypertonie genannt. Im Laufe der Therapie seien keine signifikanten Änderungen im Gesundheitszustand festzustellen gewesen. Die J2 hat mit Schreiben vom 11.01.2022 (Bl. 239 der Senatsakten L 11 R 175/21) über drei Behandlungen seit Juli 2020 berichtet. Klinisch-neurologisch habe sich mit Ausnahme unsicherer, erschwerter Stand- und Gangproben ein weitgehend unauffälliger Befund gezeigt. Auf neurologischem Fachgebiet liege ein stabiler Befund ohne Verschlechterung vor. Es bestehe eine diabetische Polyneuropathie, ein Erschöpfungs-Syndrom, eine depressive Störung sowie im langjährigen Verlauf ein größenkonstantes Meningeom. Der S1 hat mit Schreiben vom 18.01.2022 (Bl. 250 der Senatsakten L 11 R 175/21) über drei Behandlungen im Jahr 2021 berichtet und die Diagnosen chronisch generalisierte Schmerzkrankheit im Stadium 3 nach Gerbershagen, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Coxarthrose beidseits, linksbetont, chronisches BWS-Syndrom, chronisches Lumbalsyndrom, Acromioklavikulargelenksarthrose rechts, Omarthrose rechts genannt. Die empfohlene multimodale Schmerztherapie habe die Klägerin zurückgestellt. Der G3 hat mit Schreiben vom 15.01.2022 (Bl. 289 der Senatsakten L 11 R 175/21) über drei Vorstellungen der Klägerin 2021 berichtet. Die Klägerin habe die Behandlung aufgrund mangelnder Wirkung abgebrochen. Dazu hat die Beklagte eine sozialmedizinische Stellungnahme des L2 vom 18.07.2022 (Bl. 271 der Senatsakten L 11 R 175/21) vorgelegt.

Weiter hat der Senat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Der N2 hat in seinem Gutachten vom 24.11.2022 (Bl. 294 der Senatsakten L 11 R 175/21) aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 22.11.2022 (09.30 Uhr bis 10.45 Uhr) als Diagnosen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine mittelgradige depressive Episode, ein größenkonstantes Meningeom, kernspintomographisch festgestellte mikroangiopathische Marklagerläsionen und eine diabetische Polyneuropathie genannt. Allein aufgrund der chronischen Schmerzsymptomatik sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, selbst leichte körperliche Tätigkeiten regelmäßig zu verrichten. Hinzu kämen die Einschränkungen durch das depressive Syndrom sowie eine psychogene Kraftminderung an sämtlichen Extremitäten. Die Belastbarkeit liege bei weniger als drei Stunden arbeitstäglich. Die festgestellte Leistungseinschränkung bestehe schon seit einigen Jahren, zumindest seit 2018. Mit einer nachhaltigen Besserung sei nicht zu rechnen.

Die Beklagte hat an ihrer Leistungsbeurteilung unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des N1 vom 16.01.2023 (Bl. 330 der Senatsakten L 11 R 175/21) festgehalten. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20.02.2023 (Bl. 335 der Senatsakten L 11 R 175/21) hat N2 nun ausgeführt, die von ihm festgestellten Leistungseinschränkungen bestünden seit 2013.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten des SG (S 3 R 1341/14, S 3 R 579/18, S 3 R 580/18) und des Senats (L 11 R 174/21 und L 11 R 175/21) Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

1. Die nach § 143, 144, 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.

2. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 27.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2018 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, ihren Bescheid vom 09.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2014 zurückzunehmen und der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung auf ihren Rentenantrag vom 26.06.2013 zu gewähren. Hiergegen richtet sich die Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG).


Dagegen sind das Rentenbegehren der Klägerin aufgrund ihres erneuten Rentenantrages vom 09.08.2017 sowie der Bescheid vom 15.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2018 Gegenstand des Berufungsverfahren L 11 R 175/21.

3. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 27.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 09.12.2013, weil dieser Bescheid rechtmäßig ist.

a. Verfahrensrechtliche Grundlage für das Überprüfungsbegehren der Klägerin ist die Bestimmung des § 44 SGB X. Hiernach ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Bereits „bei Erlass“ leidet ein Verwaltungsakt dann an einem Mangel, soweit er im Zeitpunkt seines Erlasses mit der objektiven Sach- oder Rechtslage nicht übereinstimmte. Für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit oder -freiheit eines Verwaltungsaktes kommt es nicht auf den Stand der Erkenntnis bei Erlass, sondern im Zeitpunkt seiner Überprüfung an. Erforderlich dazu ist eine rückschauende Betrachtungsweise im Lichte einer - eventuell geläuterten - Rechtsauffassung zu der bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsaktes geltenden Sach- und Rechtslage (ständige Rechtsprechung, vgl. Bundesozialgericht <BSG> 26.01.1988, 2 RU 5/87; BSG 18.08.2004, B 8 KN 18/03 B, juris). Grundlage der Beurteilung ist danach die damalige Sach- und Rechtslage, bewertet aus heutiger Sicht (vgl. BSG 25.10.1984, 11 RAz 3/83; BSG 14.11.2002, B 13 RJ 47/01 R, juris; Schütze in von Wulffen/Schütze, 9. Aufl. 2020, SGB X, § 44 Rn. 11), wohingegen der Gesundheitszustand der Klägerin zum heutigen Zeitpunkt nicht Gegenstand der Überprüfung ist. Die Beweislast für die Fehlerhaftigkeit des zur Überprüfung gestellten Verwaltungsaktes trägt die Klägerin (Schütze in von Wulffen/Schütze, 9. Aufl. 2020, SGB X, § 44 Rn. 13).

b. Vorliegend bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass bei Erlass des hier streitigen ablehnenden Rentenbescheides das Recht unrichtig angewandt oder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden ist.

aa. Der zugrundliegende Rentenanspruch richtet sich nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl. I, 554). Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 (SGB VI) kommt vorliegend nicht in Betracht, da die Klägerin 1964 geboren wurde und damit von vornherein nicht dem persönlichen Anwendungsbereich der Übergangsvorschrift des § 240 SGB VI unterfällt.

Auch der Nachweis für die den Rentenanspruch begründenden Tatsachen muss im Wege des sog. Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Dies bedeutet, das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können; es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen. Von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (vgl. BSG 14.12.2006, B 4 R 29/06 R; Bayerisches LSG 26.07.2006, L 16 R 100/02; beide in juris; BSGE 45, 285; BSGE 58, 80). Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG 23.10.1996, 4 RA 1/96, juris).


bb. Der Senat stellt nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung fest (§ 128 Abs. 1 SGG), dass bei rückschauender Betrachtungsweise nach der bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsaktes (Bescheid vom 09.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2014) geltenden Sach- und Rechtslage eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß bei der Klägerin nicht nachgewiesen ist.

Belangvolle somatische Erkrankungen, die das berufliche Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht einschränken könnten, lagen nicht vor. Insofern bestehen bei der Klägerin zwar ein schwer einstellbarer Diabetes mellitus Typ II mit Retinopathie, eine Adipositas, eine arterielle Hypertonie, eine Koronare-Ein-Gefäßerkrankung, eine Hyperlipidämie, eine IgA-Nephritis, ein Schlafapnoe-Syndrom (unter Maskenbehandlung), eine leichte Struma diffusa, ein degeneratives Wirbelsäulen-Syndrom mit allenfalls leichten Funktionseinschränkungen, Schulterschmerzen bei diskreten entzündlichen Reizzuständen, eine leichte Funktionseinschränkung des linken Hüftgelenks, ein größenkonstantes Meningeom sowie kernspintomographisch festgestellte mikroangiopathische Marklagerläsionen. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Entlassbericht des H4, dem Entlassbrief des B4, den Stellungnahmen der behandelnden Fachärzte in den Klageverfahren S 3 R 1341/14, S 3 R 579/18, S 3 R 580/18 ( P1, M1, des B1, J1) sowie den Gutachten des G2, H2, R2 und C1, wobei der Senat die medizinischen Unterlagen aus den Verwaltungsakten sowie aus den Verfahren S 3 R 1341/14, S 3 R 579/18 und L 11 R 175/21 im Wege des Urkundenbeweises zu verwerten hat. Sie alle haben in Einklang mit den Befunden überzeugend eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens der Klägerin in zeitlicher Hinsicht wegen somatischer Erkrankungen ausgeschlossen. Auch die wahlärztliche C1 hat - in Übereinstimmung mit G2 und R2 - unmissverständlich erklärt, dass die multiplen Diagnosen und Beschwerden im somatischen Bereich keine relevanten Funktionseinschränkungen bei der Klägerin begründen, die zu einer zeitlichen Leistungsminderung führen.

Eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß wegen Erkrankungen auf nervenärztlichem Fachgebiet im maßgeblichen Zeitpunkt ist bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Insofern bestehen bei ihr eine somatoforme Störung i.S. einer Somatisierungsstörung oder somatoformen Schmerzstörung sowie eine affektive Störung bzw. eine Angststörung. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Entlassbericht des H4 und den vom SG bei G2 und R2 eingeholten Gutachten. Dabei sind bei dem im Rentenrecht maßgeblichen Zustandsgutachten differentialdiagnostische Überlegungen nachrangig, sodass die Einwendungen der C1 gegen die von G2 und R2 gestellten Diagnosen nicht weiterführen. Entscheidend sind die nachgewiesenen krankheits- und behinderungsbedingten Funktionsstörungen sowie deren Auswirkungen auf das berufliche Leistungsvermögen. Den krankheitsbedingten Funktionsstörungen der Klägerin konnte jedoch durch qualitative Leistungseinschränkungen Rechnung getragen werden, eine zeitliche Einschränkung bedingten sie nicht.

Im Rahmen der stationären Rehabilitation im Oktober 2013, die zeitnah zu der maßgeblichen Sachlage stattgefunden hat, konnten eine Stabilisierung der Blutzuckerwerte und des Blutdrucks, eine deutliche Gewichtsreduzierung sowie eine Steigerung der körperlichen Belastbarkeit erreicht werden. Es gelang, der Klägerin die komplexen psychosomatischen Verflechtungen sowie die Notwendigkeit einer verstärkten Eigeninitiative mit einem regelmäßigen Bewegungsprogramm und selbstständigen krankengymnastischen Übungen aufzuzeigen. Der Klägerin wurden u.a. eine antidepressive Behandlung, eine Psychotherapie und ein regelmäßiges Bewegungstraining empfohlen. Der H4 hat im Hinblick auf die festgestellten Erkrankungen zutreffend die letzte Tätigkeit als Arbeiterin im Verpackungsbetrieb u.a. mit Hebebelastungen bis 30 kg nicht mehr als zumutbar erachtet. Er hat die Klägerin nachvollziehbar und überzeugend aber für in der Lage gesehen, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne überwiegendes monotones Stehen, häufiges Bücken, Hocken und Knien sowie ohne Arbeiten über Kopf, auf Leitern und Gerüsten, unter Zugluft, Temperaturschwankungen und Temperaturextremen sowie mit besonderen Anforderungen an das Konzentrationsvermögen und die Stressbelastbarkeit sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten. Anlässlich der stationären Behandlung wegen der somatoformen Schmerzstörung in der R1-Klinik im Sommer 2014 zeigte sich die Klägerin zu allen Qualitäten orientiert, mit deutlichem Rededrang, leicht gedrückter Stimmung, einer reduzierten affektiven Schwingungsfähigkeit sowie einer ausgeprägten Akzentuierung ihrer Beschwerden. Einschränkungen insbesondere von Konzentration, Gedächtnis, Antrieb, Denken und Durchhaltefähigkeit wurden nicht beschrieben. Vielmehr gab die Klägerin anamnestisch an, dass alles an ihr hänge (Beruf, Haushalt, Familie). Die Klinikärzte führten die körperlichen Beschwerden auf die muskuläre Dekonditionierung (aufgrund der Inaktivität der Klägerin) und die somatoforme Schmerzstörung zurück. Im Hinblick auf die von der Klägerin thematisierten familiären Probleme wurde ihr eine Paartherapie empfohlen, im Übrigen ein Muskelaufbautraining und eine ambulante Psychotherapie. Eine schwerwiegende psychiatrische (Schmerz-)Erkrankung ergibt sich daraus nicht, sodass im Vergleich zur stationären Rehabilitation keine richtungweisende Verschlechterung eingetreten war.

Auch die rückschauende Betrachtungsweise zu der bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsaktes geltenden Sachlage ergibt kein anderes Ergebnis. Den M3 hat die Klägerin erstmalig im März 2015 und dann nur sporadisch bis August 2017 aufgesucht; er konnte der Klägerin keine regelmäßige Behandlung und Betreuung anbieten (vgl. Schreiben vom 01.08.2017, Bl. 67 der medizinischen Verwaltungsakten). Er hat zwar die Diagnosen chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung, generalisierte Angststörung und rezidivierende depressive Störung (mittelgradige Episode) gestellt und die Klägerin für erwerbsgemindert gehalten, sich dabei aber in erster Linie auf die anamnestischen Angaben der Klägerin und ihre Beschwerdepräsentation gestützt. Die dokumentierten Befunde (vgl. z.B. Bericht vom 04.05.2015, Bl. 76 der SG-Akte S 3 1341/14: bewusstseinsklar, voll orientiert, keine Denkstörungen, Wahrnehmungsstörungen, keine sicheren mnestischen Störungen, fixiert auf Krankheiten, Beschwerden, Schmerzen) sprechen gegen eine gravierende psychiatrische Erkrankung. Der Sachverständige G2 hat aufgrund einer ausführlichen Anamnese und Untersuchung sowie unter Berücksichtigung der medizinischen Vorbefunde eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen (Befund: u.a. allseits orientiert, bewusstseinsklar, freundlich zugewandt, kooperativ, mit lebhaftem Redefluss, mit leicht depressiv herabgesetzter Stimmung, affektiv schwingungsfähig, im Denken zentriert auf die körperlichen Beschwerden, ohne Störungen des inhaltlichen Denkens, der Merk- und Erinnerungsfähigkeit, des Auffassungsvermögens und der Wahrnehmungsfähigkeit, keine produktiv psychotischen Symptome, keine psycho-motorische Störung, altersentsprechende kognitive Leistung im DemTect-Test, kein Hinweis auf Reduzierung der Freudfähigkeit und Interessen). Er hat auf einen expressiven Beschwerdevortrag sowie ein Missverhältnis zwischen den geltend gemachten Beschwerden und den objektiven Befunden hingewiesen. Auch das gegenüber G2 durch die Klägerin geschilderte Aktivitäts- und Teilhabeniveau (Körperpflege und Selbstsorge, Haushalt, Erledigungen alles Schriftlichen und Finanziellen für die Eheleute, Planung, Einkauf, Spaziergänge, Lesen, Musikveranstaltung, Kontakt mit Bekannten über SMS, WhatsApp etc., Kontakt zur Familie) spricht gegen eine zeitliche Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten. G2 hat unter Berücksichtigung der erforderlichen Konsistenzprüfung (vgl. dazu ausführlich Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen, 4. Aktualisierung 2017) für den Senat überzeugend dargelegt, dass die Klägerin seinerzeit in der Lage war, unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (ohne überwiegendes Stehen und Gehen, auf Leitern und Gerüsten, ohne Zeitdruck, Akkord und Fließband, Wechselschicht sowie besondere Verantwortung) leichte körperliche Tätigkeiten arbeitstäglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Das wahlärztliche Gutachten des B3, erstellt aufgrund einer ambulanter Untersuchung im November 2015, ist durch eine oberflächliche Anamnese, eine lückenhafte Befunddokumentation (insbesondere des neurologischen und psychischen Befundes) sowie eine fehlende Konsistenzprüfung gekennzeichnet, sodass es an einer tragfähigen Basis für seine Leistungsbeurteilung fehlt. Die von B3 in den Vordergrund gerückte „hysterieforme Persönlichkeitsstörung“ ist nicht festzustellen. G2 hat in seiner ergänzenden Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine hysterische Symptombildung im Sinne einer Konversionsstörung nicht festzustellen war. Eine solche kann dem Gutachten des B3 auch nicht entnommen werden.

Die jeweils aufgrund der einmaligen ambulanten Untersuchung am 02.07.2019 erstellten, fast wortgleichen wahlärztlichen Gutachten der C1 sind nicht geeignet, eine rentenbegründende Erwerbminderung zum hier maßgeblichen Zeitpunkt nachzuweisen. C1 hat es insbesondere versäumt, eine ausführliche körperliche Untersuchung sowie die erforderliche Konsistenzprüfung bei festgestelltem Verdeutlichungsverhalten und sekundärem Krankheitsgewinn durchzuführen (vgl. dazu ausführlich Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen, 4. Aktualisierung 2017) sowie die anamnestischen Angaben der Klägerin deutlich vom objektiven (psychopathologischen) Untersuchungsbefund zu trennen. Soweit in den Gutachten ein objektiver Untersuchungsbefund dokumentiert ist, so kann aus diesem keine schwerwiegende psychische Erkrankung abgeleitet werden (u.a. wach, bewusstseinsklar, angespannt, leidend, freundlich, gepflegt, ungehemmter Antrieb, traurige Stimmung, eingeengt auf körperliche Beschwerden und Schmerzen, Verdeutlichungsverhalten, keine Denk-, Konzentrations- und Gedächtnisstörung, keine Suizidalität, Ängste, eingeschränkte Schwingungsfähigkeit), worauf der Beratungsarzt Dr. Neumann in seinen Stellungnahmen hingewiesen hat.
Störungen von Auffassung, Konzentration, Gedächtnis, Antrieb und Durchhaltefähigkeit hat C1 mithin nicht festgestellt. Soweit sie psychische (dissoziative) Einschränkungen der Beweglichkeit von Armen, Beinen und Füßen annimmt, ist dies im Hinblick auf das Fehlen einer differenzierten körperlichen Untersuchung sowie dokumentierter Befunde und einer kritischen Prüfung der beklagten Beschwerden nicht nachvollziehbar. Ihr Verweis auf Vorbefunde des Universitätsklinikums Freiburg (Bericht vom 14.02.2011: Somatisierungsstörung, somatoforme Schmerzstörung, mittelgradige depressive Episode) geht fehl; dort wurde gerade keine dissoziative Störung dokumentiert. Eine krankheitsbedingte Einschränkung der Funktionalität vermochte C1 nicht zu belegen. Sie hat sich maßgeblich auf die anamnestischen (subjektiven) Angaben der Klägerin gestützt und trotz deutlicher Hinweise auf Verdeutlichung und sekundären Krankheitsgewinn nicht die objektiven krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen unter Berücksichtigung einer Konsistenzprüfung beschrieben. Die durch die wahlärztliche Sachverständige C1 angestellten umfangreichen differentialdiagnostischen Überlegungen sind nicht ausschlaggebend, da bei dem im Rentenrecht maßgeblichen Zustandsgutachten differentialdiagnostische Überlegungen nachrangig sind. Ihre Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens durchgehend seit 2013 steht im Widerspruch zu der überzeugenden und zudem zeitnahen Leistungsbeurteilung des H4 und erweist sich letztlich als spekulativ. 

 R2 hat im Rahmen seiner gründlichen und ausführlichen Untersuchung neben einem weitgehend unauffälligen orthopädischen Befund einen im Wesentlichen vergleichbaren psychischen Befund festgestellt (u.a. allseits orientiert, bewusstseinsklar, geordnet im formalen Denken, fast ausschließlich auf das Schmerzgeschehen eingeengt, mit lebhaftem Redefluss, gut erhaltene affektive Schwingungsfähigkeit, kaum eingetrübte Grundstimmung, psychosomatische Symptome, vor allem eine gewisse Höhenangst, histrionische Züge, erhebliche Diskrepanz zwischen Befund und Befinden, ein wenig nachvollziehbares Schmerzverhalten, keine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit). R2 hat darauf hingewiesen, dass eine Behandlung der Schmerzerkrankung (Schmerztherapie, Psychotherapie, psychopharmakologische Behandlung, physiotherapeutische Behandlung zur Stärkung der Muskulatur) nicht stattfindet bzw. nicht stattgefunden hat und dies Ausdruck des Konflikts zwischen Entlastungs-/Berentungsmotivation sowie Gesundungsmotivation ist. Er hat keine schwerwiegende psychische Erkrankung (somatoforme Schmerzstörung, geringe Angst und depressive Störung) angenommen und die Klägerin bei Beachtung qualitativer Einschränkungen (Ausschluss von Tätigkeiten über Kopf und Schulterhöhe, mit Zwangshaltungen, an gefährdenden Maschinen, unter Witterungseinflüssen) in der Lage gesehen, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes überwiegend im Sitzen sechs Stunden und mehr zu verrichten. R2 hat überzeugend dargelegt, dass die bei der Klägerin feststellbaren histrionischen Persönlichkeitszüge nicht zur Erwerbsunfähigkeit führen.

Auch das Gutachten des N2 aufgrund einer eineinviertelstündigen ambulanten Untersuchung am 22.11.2022 belegt keine Erwerbsminderung in der hier relevanten Zeit. N2 hat einen weitgehend altersentsprechenden Allgemein- und neurologischen Befund festgestellt und ist von einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode (Befund: zu allen Qualitäten orientiert, bewusstseinsklar, nur anamnestische Hinweise auf eine leichte Beeinträchtigung des Konzentrationsvermögens und der Gedächtnisfunktion, keine inhaltlichen Denkstörungen, reduzierter Antrieb, mittelgradig depressive Stimmungslage, herabgesetztes affektives Schwingungsvermögen, kein Hinweis auf akute Suizidalität) ausgegangen. Er hat die Schmerzstörung im Vordergrund gesehen und deshalb zunächst für ein aufgehobenes Leistungsvermögen seit 2018 plädiert. Diese Leistungseinschätzung überzeugt nicht, weil die Anamnese und Befunderhebung sowie eine fundierte Auseinandersetzung mit den Feststellungen der G2 und R2 durch N2 nur lückenhaft erfolgte und er auf die notwendige Konsistenzprüfung verzichtet hat, worauf der N1 in seiner Stellungnahme überzeugend hingewiesen hat. In seiner ergänzenden Stellungnahme vermochte N2 diese Kritikpunkte auch nicht auszuräumen und negierte weiterhin die Feststellungen seitens G2 und R2. Vollends unverständlich ist, wenn er in seiner ergänzenden Stellungnahme nun die Leistungseinschränkungen schon seit 2013 annehmen möchte. Er setzt sich dabei in Widerspruch zu der Leistungseinschätzung des H4. Sein Verweis auf die Zuerkennung von Pflegegrad 3 übersieht, dass das zugrundliegende
Gutachten des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg (MDK) vom 24.04.2020 (Bl. 548 der SG-Akte S 3 R 580/18) lediglich durch eine Pflegefachkraft nach Aktenlage erstellt wurde.

Schließlich folgt aus den Gutachten des MDK vom 19.02.2019 (Bl. 264 der SG-Akte S 3 R 579/18) und vom 24.04.2020 (Bl. 548 der SG-Akte S 3 R 580/18), in denen Pflegegrad 2 seit 27.03.2017 und Pflegegrad 3 seit dem 01.03.2020 festgestellt wurde, nichts anderes. Ein solches Pflegegutachten stellt eine zusätzliche Erkenntnisquelle dar, die zur Einschätzung der Sachverständigen und zur Bildung der richterlichen Überzeugung beitragen kann (so auch LSG Bayern 22.07.2020, L 13 R 102/18, Rn. 78, juris). Vorliegend betreffen die Gutachten Zeiträume nach der hier streitigen Zeit. Zudem wurden diese durch Pflegefachkräfte im häuslichen Umfeld unter Anwesenheit Dritter (Ehemann) erstellt und bieten sowohl hinsichtlich der Qualifikation des Gutachters als auch der Begutachtungssituation keine Gewähr, krankheitsbedingte Funktionsstörungen und eine daraus resultierende rentenrelevante Erwerbsminderung objektiv festzustellen. Schließlich beruht das Gutachten vom 24.04.2020 auch auf keiner ambulanten Untersuchung, sondern wurde lediglich nach Aktenlage erstellt.

Der Senat folgt nicht der abweichenden Leistungsbeurteilung der behandelnden Ärzte bzw. Therapeuten, wobei nach ständiger Rechtsprechung des Senats der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige grundsätzlich ein höherer Beweiswert zukommt als der Einschätzung der behandelnden Ärzte (vgl. Urteile des Senats vom 18.06.2013, L 11 R 506/12; 17.01.2012, L 11 R 4953; 30.06.2020, L 11 R 4342/18 und auch anderer LSG: vgl. Hessisches LSG 28.03.2017, L 2 R 415/14, Rn. 65, Juris; Hessisches LSG, 04.09.2019, L 6 R 264/17, Rn. 85, Juris; LSG Berlin, 20.10.2004, L 17 RA 101/03, Rn. 24, Juris). Wesentlich ist vor allem Folgendes: Aufgabe behandelnder Ärzte ist es, ihren Patienten unter therapeutischen Gesichtspunkten zu untersuchen, seinen Wünschen und Vorstellungen zu entsprechen und gemeinsam mit dem Patienten eine wirksame Behandlung für die gesundheitlichen Einschränkungen zu finden. Die Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens spielt - anders als bei der Begutachtung durch einen Sachverständigen - in diesem Arzt-Patienten-Verhältnis demgegenüber keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz dazu ist ein Sachverständiger gehalten, die Untersuchung gerade im Hinblick darauf vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beschwerden zu einer Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führen. In diesem Zusammenhang muss der Sachverständige auch die Beschwerdeangaben eines Versicherten danach überprüfen, ob und inwieweit sie sich mit dem klinischen Befund erklären lassen, ohne hierbei Gefahr zu laufen, durch eine kritische Beurteilung das Vertrauen des Patienten zu verlieren.
 
Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr. 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80, 24, SozR 3-2600 § 44 Nr. 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr. 5). Die zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Rente wegen Erwerbsminderung nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R, BSGE 129, 274-290 = SozR 4-2600 § 43 Nr. 22). Vom praktisch gänzlichen Fehlen von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die nur mit leichten körperlichen und geistigen Anforderungen verknüpft sind, kann derzeit nicht ausgegangen werden, auch nicht aufgrund der Digitalisierung oder anderer wirtschaftlicher Entwicklungen (BSG 11.12.2019, a.a.O., juris Rn. 27). Eine spezifische Leistungseinschränkung liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80, SozR 2200 § 1246 Nr. 90). Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf es nicht, wenn - wie hier - typische Verrichtungen wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen möglich sind. Einschränkungen, die dem entgegenstehen könnten, lassen sich den vorliegenden Gutachten nicht entnehmen. Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung des Senats bestehende Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden zu der Frage, welche konkrete Tätigkeit der Klägerin noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs. 3 letzter Halbsatz SGB VI). Die Klägerin war in der hier streitigen Zeit auch wegefähig im rentenrechtlichen Sinne (vgl. BSG 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr. 2 m.w.N.; 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R); dies entnimmt der Senat den Feststellungen der-Ärzte sowie den Gutachten des H2 und R2. Für die Benutzung eines Rollators besteht keine medizinische Indikation. Zwar hat die Klägerin wiederholt behauptet, dass sie seit vielen Jahren nicht mehr mit dem Pkw fahre, sondern durch ihren Ehemann gefahren werde. Jedoch hat sie gegenüber R2 noch 2020 eingeräumt, dass sie selbst noch mit dem vorhandenen Auto fahre („ein Auto sei vorhanden, sie selbst fahre kaum noch“). Auch ist zu beachten, dass die behandelnde G1 noch im März 2015 darauf hingewiesen hat, dass die Klägerin ohne Begleitperson mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisefähig ist (Bericht vom 12.03.2015). Daraus folgt, dass die Klägerin, die über einen Führerschein und einen Pkw verfügt sowie diesen nach ihren Angaben gegenüber R2 für Fahrten im Nahbereich auch weiterhin nutzt, die üblichen Wegstrecken jedenfalls mit Hilfe eines Pkw zurücklegen kann.   

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten und Arztauskünfte bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats. Die vorliegenden Gutachten der G2, H2 und R2 sowie die aktenkundigen medizinischen Unterlagen über die Klägerin haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 Zivilprozessordnung <ZPO>). Die Gutachten gehen von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus, enthalten keine unlösbaren inhaltlichen Widersprüche und geben auch keinen Anlass, an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Gutachter zu zweifeln; weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.


4. Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG.

5. Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Grund hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) nicht vorliegt.

Rechtskraft
Aus
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