L 7 SO 1892/23 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 1355/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 1892/23 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 21. Juni 2023 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16. Mai 2023 gegen den Bescheid vom 16. Mai 2023 wiederhergestellt wird.

Die Antragsgegnerin trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.


Gründe

I.

Die 1954 geborene Klägerin, welche die rumänische Staatsangehörigkeit besitzt, kam am 11. Oktober 2020 in die Bundesrepublik Deutschland und stand ab dem 14. Dezember 2020 in einem zunächst bis zum 31. Dezember 2021 befristeten Arbeitsverhältnis. Auf ihren Antrag bewilligte ihr die Antragsgegnerin ab dem 14. Dezember 2020 aufstockende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Am 27. Dezember 2021 wurde die Befristung des Arbeitsverhältnisses verlängert bis zum 31. Dezember 2022.

Mit Bescheid vom 12. Januar 2023 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII vorläufig für die Zeit vom 1. Januar 2023 bis zum 31. Dezember 2023. Am 25. Januar 2023 legte die Antragstellerin das Arbeitszeugnis ihres letzten Arbeitgebers vor. Mit Schreiben vom 15. Februar 2023 beantragte sie die Kostenübernahme der nicht von der Krankenkasse übernommenen Kosten für eine Perücke und legte hierzu den postoperativen Zwischenbericht der Frauenklinik am D-Krankenhaus F1 über eine Operation wegen eines Mammacarcinoms rechts am 9. November 2022 vor. Mit Bescheid vom 24. März 2023 bewilligte die Antragsgegnerin Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII für die Zeit vom 1. Juli 2022 bis zum 31. Dezember 2023 ohne Vorläufigkeitsvorbehalt.

Mit Bescheid vom 16. Mai 2023 hob die Antragsgegnerin den Bescheid vom 24. März 2023 mit Wirkung ab dem 31. Mai 2023 gem. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf und ordnete gleichzeitig die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Zur Begründung führte sie aus, nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB XII könnten der Antragstellerin ab 1. Juni 2023 keine Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII gewährt werden, da sie weder als Arbeitnehmerin noch als Selbständige tätig sei (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XII) und auch nicht über ein Aufenthaltsrecht verfüge, da sie noch nicht mindestens fünf Jahre in Deutschland lebe (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII). Die auf § 86a Abs. 2 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruhende Anordnung der sofortigen Vollziehung begründete die Antragsgegnerin damit, die Rückzahlung nicht rechtmäßiger Leistungen wäre der Antragstellerin sicher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich und für die Antragsgegnerin mit unverhältnismäßigem Verwaltungsaufwand verbunden. Es sei klar erkennbar, dass kein Anspruch bzw. ein Anspruch nur in der festgesetzten Höhe bestehe und ein Widerspruch keine Aussicht auf Erfolg haben könne. Die Leistungen seien versehentlich bis zum 31. Dezember 2023 bewilligt worden, tatsächlich hätte die Hilfeleistung bereits mit Wirkung ab dem 1. Januar 2023 eingestellt werden müssen.

Gegen den Bescheid vom 16. Mai 2023 hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 24. Mai 2023 Widerspruch erhoben - den die Antragstellerin jedoch nicht zu den dem Senat vorgelegten Verwaltungsakten genommen hat. Über den Widerspruch ist noch nicht entschieden.

Auf den am 24. Mai 2023 beim Sozialgericht Freiburg (SG) gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 16. Mai 2023 hat das SG mit Beschluss vom 21. Juni 2023 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 24. Mai 2023 gegen den Aufhebungsbescheid vom 16. Mai 2023 angeordnet mit der Begründung, es bestünden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides. Unklar sei bereits, warum die Entscheidung auf § 48 SGB X und nicht auf § 45 SGB X gestützt worden sei, da das Ende des befristeten Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits absehbar gewesen sei. Weiter stelle sich die Frage, ob das Nichtzustandekommen der von der Antragsgegnerin noch zugrunde gelegten Verlängerung des Arbeitsvertrages nicht als unfreiwillig einzustufen sei. Schließlich seien grundrechtliche Belange der Antragstellerin im Hinblick auf den existenzsichernden Charakter der streitigen Leistungen nicht hinreichend abgewogen worden.

Gegen den am 22. Juni 2023 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 30. Juni 2023 Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Eine Aufhebung nach § 45 SGB X statt nach § 48 SGB X könne auch noch im Widerspruchsbescheid erfolgen. Ebenso könne eine Anhörung nach § 24 SGB X noch im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden, zumal der Bescheid vom 16. Mai 2023 alle entscheidungserheblichen Tatsachen für die Aufhebung der Leistungen enthalte. Schließlich enthalte der angefochtene Beschluss keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Argumentation der Antragsgegnerin.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 21. Juni 2023 aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 24. Mai 2023 abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt,


die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass bei ihr eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorliege und sie deshalb gem. § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) weiterhin Arbeitnehmerin sei.


II.

Die form- und fristgerecht (§§ 172, 173 SGG) erhobene Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, insbesondere statthaft, da Geldleistungen von mehr als 750 Euro streitig sind, jedoch nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Hiervon umfasst sind auch die Fälle, in denen die Behörde die sofortige Vollziehung gem. § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG angeordnet hat (Burkiczak in jurisPK-SGG, § 86b Rdnr. 106). In diesen Fällen umfasst die Anordnungsbefugnis die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage, die in § 86b Abs. 1 Satz 3 SGG eigens erwähnt wird (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. März 2011 – L 11 KA 97/10 B ER – juris Rn. 54; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Mai 2009 – L 11 B 5/09 KA ER – juris Rn. 29).

Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Die Antragstellerin begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des am 24. Mai 2023 gegen den Aufhebungsbescheid vom 16. Mai 2023 eingelegten Widerspruchs. Ein solcher Widerspruch hat zwar regelmäßig aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG), allerdings hat die Antragsgegnerin in dem Bescheid zugleich die sofortige Vollziehung angeordnet, was ihr nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG grundsätzlich möglich ist. Hiernach entfällt die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.

Nach welchen Maßstäben das Gericht nach einer Anordnung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu entscheiden hat, ist in § 86b Abs. 1 SGG nicht umfassend geregelt. Für die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung bestimmt bereits § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG, dass sie nur im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten erfolgen darf und eine schriftliche Begründung des besonderen Interesses am Sofortvollzug erfordert. Hieraus ergibt sich, dass das Gericht bei seiner Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zunächst zu prüfen hat, ob die behördliche Vollzugsanordnung formell rechtmäßig getroffen worden ist. Ist das nicht der Fall, ist die aufschiebende Wirkung schon deshalb wiederherzustellen. Ergibt die Prüfung dagegen keinen formellen Mangel der behördlichen Anordnung, hat das Gericht losgelöst von der Verwaltungsentscheidung eine eigene umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, in welche die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen einzubeziehen und bei der auch die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen sind (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12i). Die aufschiebende Wirkung ist insbesondere dann wiederherzustellen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und der Betroffene durch ihn in subjektiven Rechten verletzt wird. Denn am Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht kein öffentliches Interesse. Sind die Erfolgsaussichten nicht offensichtlich, müssen die für und gegen eine sofortige Vollziehung sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen werden, wobei die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Klage weiterhin zu berücksichtigen, jedoch umso geringer sind, je schwerer die fragliche Entscheidung wirkt (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rdnrn. 12i und 12f).

Gegen die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Leistungsbewilligung spricht bereits, dass die Antragsgegnerin diese auf § 48 SGB X gestützt hat. Dieser setzt voraus, dass in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung ist jedoch gegenüber den Verhältnissen bei Erlass des Bewilligungsbescheides am 24. März 2023 nicht eingetreten. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war das bis zum 31. Dezember 2022 befristete Arbeitsverhältnis der Antragstellerin beendet, was auch der Antragsgegnerin bekannt war, nachdem die Antragstellerin bereits am 15. Dezember 2022 mitgeteilt hatte, ihr Arbeitsverhältnis werde nicht verlängert. Einer Umdeutung in eine Rücknahme nach § 45 SGB X steht entgegen, dass die Antragsgegnerin das hierfür erforderliche Ermessen nicht ausgeübt hat, sondern von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist. Unbeachtlich ist zudem, ob dieses noch im Rahmen der Widerspruchsentscheidung ausgeübt werden kann (vgl. Senatsurteil vom 14. Juli 2022 - L 7 SO 1050/19 n.v.). Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die Antragsgegnerin das Widerspruchsverfahren noch nicht durchgeführt und eine entsprechende Rechtsgrundlage für die Aufhebung benannt.

Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, weil auch im Übrigen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides bestehen. Die Antragstellerin stand in der Zeit vom 14. Dezember 2020 bis zum 31. Dezember 2022 und damit mehr als ein Jahr in einem Arbeitsverhältnis. In diesem Zeitraum war sie nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt und damit auch leistungsberechtigt. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizüG/EU bleibt dieses Recht für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist zwar nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU grundsätzlich eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts. Auf diese kann auch in Fällen des Auslaufens einer Befristung nicht von vornherein verzichtet werden (BSG, Urteil vom 9. März 2022 - B 7/14 AS 79/20 R - juris Rdnr. 27). Das BSG hat jedoch offengelassen, in welcher Form eine Bestätigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit zu erfolgen hat. Es hat eine Bestätigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit weiter bereits darin gesehen, dass dem ehemaligen Arbeitnehmer infolge der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) diese Leistung im Anschluss an die letzte Beschäftigung bewilligt und eine Sperrzeit nicht festgestellt worden ist.

Vorliegend ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zwar die Anwartschaftszeit nach § 142 Abs. 1 SGB III erfüllt hat, da sie in der Rahmenfrist mehr als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat, jedoch das für die Regelaltersrente im Sinne des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) erforderliche Lebensjahr vollendet und deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat (§ 136 Abs. 2 SGB III), so dass bereits aus diesem Grund ein Antrag auf Arbeitslosengeld ohne Prüfung der weiteren Voraussetzungen - insbesondere des Eintritts einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe (§ 159 Abs. 2 Nr. 1) und damit der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit - hätte abgelehnt werden müssen.

Das Gesetz enthält weiter keine Regelung dazu, ob die Bestätigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit auch noch nachträglich erfolgen kann bzw. zu welchem Zeitpunkt die Bestätigung vorliegen muss. Nach den fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) bleibt das Freizügigkeitsrecht auch für die Zeit bis zur Bestätigung der Agentur für Arbeit erhalten (Fachliche Weisungen § 7 SGB II 1.4.4.2 Abs. 5, Stand 1. Januar 2023). Zudem ist zu berücksichtigen, dass vorliegend nicht die Bewilligung von Leistungen, sondern deren Aufhebung streitig ist, die Antragstellerin jedoch weder im Rahmen der Leistungsbewilligung noch der -aufhebung aufgefordert worden ist, eine entsprechende Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit vorzulegen.

Schließlich spricht viel dafür, dass das befristete Arbeitsverhältnis wegen der Erkrankung der Antragstellerin an einem Mammacarcinom, weswegen am 9. November 2022 eine Operation erfolgt ist, nicht verlängert worden ist und deshalb eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorliegt. Sollte bei der Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankung nicht nur eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, sondern Erwerbsminderung vorliegen, wäre weiter zu prüfen, ob ein nachgehendes Aufenthaltsrecht gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU wegen vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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