L 7 SO 953/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SO 1750/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 953/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 16. Februar 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung von Sozialhilfe für Deutsche im Ausland gemäß § 133 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) im Streit.

Der 1968 in B2 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und bezog bis Dezember 2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II, Bewilligungsbescheid vom 7. Mai 2020, Bl. 281 d. Verwaltungsakte JC).

Mit Schreiben vom 13. Dezember 2020 (Bl. 294 ff. d. Verwaltungsakte JC) beantragte er bei dem Jobcenter Landkreis B2 (zukünftig der Beigeladene) die Gewährung von „Sozialleistungen“. Auf die Mitteilung des Beigeladenen, dass sein Antrag als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gewertet werde, teilte er mit, dass er „kraft seiner dokumentierten Rechtsstellung als deutscher Staatsangehöriger gemäß § 4 Abs. 1 RuStaG“ einen hoheitlichen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII habe, eine Antragstellung nach „dem SGB II gemäß den AGB der privathandelsrechtlichen Personenvereinigung mit dem Namen Jobcenter B2“ lehne er ab (Bl. 307 d. Verwaltungakte JC).

Mit Bescheid vom 14. Januar 2021 (Bl. 311 d. Verwaltungsakte JC) versagte der Beigeladene Leistungen nach dem SGB II und leitete den Antrag des Klägers an den Beklagten weiter.

Der Kläger konkretisierte sodann seinen Antrag (Bl. 43 d. Verwaltungsakte Bekl.) und legte dar, er begehre Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII i.V.m. § 133 SGB XII. Ihm stünden Leistungen i.H.v. 60% des zuletzt verdienten Nettoarbeitsentgelts i.H.v. 2.292,00 EUR zu, was einem monatlichen Anspruch i.H.v. 1.375,00 EUR entspreche.

Nach Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 10. Februar 2021 (Bl. 66 d. Verwaltungsakte Bekl.) lehnte der Beklagte die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt mit Bescheid vom 15. März 2021 (Bl. 119 d. Verwaltungsakte Bekl.) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2021 (Bl. 156 d. Verwaltungsakte Bekl.) ab.

Hiergegen hat der Kläger am 28. Juli 2021 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG) erhoben. Als Deutscher habe er Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 133, 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 SGB XII. Er verzichte auf Leistungen des Gängel- und Repressionsapparates Jobcenter. Er habe insoweit Anspruch auf 60 % seines zuletzt bezogenen Nettoeinkommens, was monatlich 1.375,00 EUR entspreche. Da er nicht erwerbstätig sei, könne er seinen Lebensunterhalt nicht sicherstellen, so dass er Leistungen begehre. Auf die Anforderung des SG, eine Schweigepflichtentbindungserklärung zu übersenden und die Frage, ob er sich für erwerbsgemindert halte, hat der Kläger mitgeteilt, Ausgangspunkt sei nicht die Frage nach der Erwerbsfähigkeit, sondern jene der Erwerbsmöglichkeit. Seine Gesundheit sowie sämtliche Maßnahmen zu deren Erhaltung bzw. Wiederherstellung lägen ausschließlich in seiner Eigenverantwortung. Der Vordruck zur Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht gehe unausgefüllt und unsigniert zurück.

Mit Gerichtsbescheid vom 16. Februar 2023 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei dem Grunde nach anspruchsberechtigt nach dem SGB II, woran sein Verzicht auf die Leistungen und die Versagung durch das Jobcenter Landkreis B2 nichts ändere. Dies schließe Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt aus. Aus § 133 SGB XII ergebe sich nichts anderes. Dieser gewähre als Übergangsregelung zwar besondere Hilfen in außergewöhnlichen Notlagen, aber lediglich für Deutsche, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland aber innerhalb des in Artikel 116 Abs. 1 Grundgesetz genannten Gebiets geboren seien und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten. Zumindest letzteres sei vorliegend eindeutig nicht der Fall, da der Kläger in B2 lebe.

Gegen den ihm am 28. Februar 2023 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 28. März 2023 bei dem SG eingelegten Berufung. Der Gerichtsbescheid genüge nicht den gesetzlichen Formvorschriften. Es fehle sowohl die Unterschrift als auch der vollständige Name des verantwortlichen Richters, so dass der Gerichtsbescheid keine Rechtskraft entfalten könne und infolgedessen nichtig sei. Im Übrigen erhalte Sozialhilfe, wer sich nicht durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen könne. Diese Voraussetzungen lägen bei ihm vor. Nicht entscheidend sei die Frage nach der Arbeitsfähigkeit, maßgeblich sei vielmehr, ob der Antragsteller tatsächlich eine Erwerbsarbeit habe. Aus § 133 SGB XII ergebe sich zudem der gesetzliche Anspruch des Klägers auf besondere Hilfen jenseits und unabhängig der Bestimmungen des SGB II.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 16. Februar 2023 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29. Juni 2021 zu verurteilen, ihm Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 20. Juni 2023 hat der Senat das Jobcenter Landkreis B2 zu dem Verfahren gemäß § 75 Abs. 2 SGG beigeladen. Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten des Beklagten und des Beigeladenen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung am 20. Juli 2023 in Abwesenheit der Beteiligten über den Rechtsstreit entscheiden, da sie ordnungsgemäß zum Termin geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden sind, dass auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten bzw. Bevollmächtigten Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann.

Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung, weil zwischen den Beteiligten Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von mehr als 750 Euro im Streit stehen (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Gegenstand des Verfahrens ist neben der erstinstanzlichen Entscheidung der Bescheid vom 15. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29. Juni 2021 (vgl. § 95 SGG), mit welchem der Beklagte Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhaltes nach dem SGB XII abgelehnt hat. Mangels – ausdrücklicher oder konkludenter – zeitlicher Beschränkung dieser Leistungsablehnung sowie mangels späterer erneuter Antragstellung des Klägers und erneuter Entscheidung des Beklagten reicht der streitgegenständliche Zeitraum von Januar 2021 bis zur Entscheidung des Senats (vgl. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2007 – B 14/11b AS 59/06 R – juris Rdnr. 13; BSG, Urteil vom 25. August 2011 – B 8 SO 19/10 R – juris Rdnr. 9; Senatsurteil vom 25. September 2019 – L 7 SO 4668/15 – juris Rdnr. 22). Sein Begehren verfolgt der Kläger statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG).

Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 15. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29. Juni 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Soweit der Kläger rügt, dass der Gerichtsbescheid des SG vom 16. Februar 2023 bereits deswegen nichtig sei, weil er nicht handschriftlich von dem Kammervorsitzenden unterschrieben worden ist, verkennt der Kläger, dass eine Unterschrift des Kammervorsitzenden, welche nach § 134 Abs. 1 SGG erforderlich ist, durch die elektronische Signatur bewirkt wird (vgl. § 65a Abs. 7 Satz 1 SGG). Werden die Akten – wie im zugrundeliegenden Verfahren beim SG – nicht in Papierform, sondern in elektronischer Form geführt, ist für die Unterzeichnung die Regelung in § 65a Abs. 7 SGG zu beachten. Soweit danach eine handschriftliche Unterzeichnung durch den Richter oder den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vorgeschrieben ist, genügt dieser Form die Aufzeichnung als elektronisches Dokument, wenn die verantwortenden Personen am Ende des Dokuments ihren Namen hinzufügen und das Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Diesen Anforderungen entspricht der Gerichtsbescheid des SG vom 16. Februar 2023, der sowohl eine qualifizierte elektronische Signatur als auch eine einfache Signatur am Ende des Schriftstücks aufweist. Ausreichend ist – anders als der Kläger ausführt – hinsichtlich letzterem die Nennung des Nachnamens (vgl. Schütz in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022
[Stand: 15. Juni 2022], § 134 SGG, Rdnr. 11).

Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 19 Abs. 1 SGB XII i.V.m. §§ 27 ff. SGB XII. Jedenfalls für die Zeit ab November 2022 ergibt sich dies bereits daraus, dass sich der Kläger nach eigenen Angaben nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des Beklagten aufgehalten hat (vgl. Bl. 64 d. SG-Akte), sondern seitdem in W1 wohnhaft ist. Hieran ändert auch die Nahtlosigkeitsregelung des § 2 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), wonach bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit die bisherige Behörde die Leistung noch solange erbringen muss, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden, nichts. Mit § 2 Abs. 3 SGB X soll sichergestellt werden, dass während eines Zuständigkeitswechsels eine Unterbrechung der Leistungsgewährung nicht eintritt. § 2 Abs. 3 SGB X ist jedoch nur anzuwenden, wenn die bisher örtlich zuständige Behörde schon Leistungen erbracht hat, da ansonsten keine abzuwendende Gefahr der Unterbrechung des Leistungsbezuges besteht (Westphal in BeckOK, SGB X, 69. Edition [Stand 1. Juni 2023], § 2 Rdnr. 7 m.w.N.).

Auch im Übrigen hat der Kläger gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt, weil er als Erwerbsfähiger dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und daher gemäß § 21 Satz 1 SGB XII von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ausgeschlossen ist (vgl. auch § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

Gemäß § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass bei dem Kläger wegen Krankheit oder Behinderung ein nur noch unter dreistündiges Leistungsvermögen besteht. Der Kläger hat selbst nicht vorgebracht, dass bzw. aus welchen Umständen sich seine Erwerbsunfähigkeit ergeben soll. Er geht vielmehr – fehlerhaft – davon aus, dass es auf die Erwerbsfähigkeit nicht ankommt. Ermittlungen hierzu sind vor diesem Hintergrund nicht angezeigt. Solche hat der Kläger auch im erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich abgelehnt und die Erklärung über die Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht unausgefüllt und ohne Unterschrift an das Gericht zurückgesandt. Es ist daher davon auszugehen, dass er erwerbsfähig ist, wie es auch der Beigeladene angenommen hat. Der Kläger ist als Erwerbsfähiger nach dem SGB II dem Grunde nach leistungsberechtigt und mithin von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen.

Unerheblich ist insoweit, dass der Beigeladene seine Leistungen mit Bescheid vom 14. Januar 2021 wegen fehlender Mitwirkung versagt hat. Im Hinblick auf die notwendige Systemabgrenzung zwischen dem SGB II und dem SGB XII ist allein maßgeblich, ob ein Anspruch nach dem SGB II dem Grunde nach bestanden hat, nicht aber, ob ein solcher tatsächlich bewilligt oder gezahlt worden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10. Dezember 2021 – L 8 SO 288/17 – juris Rdnr. 25; Coseriu/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020 [Stand 22. Dezember 2022], § 21 Rdnr. 25, 26).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von dem Kläger angeführten Regelung des § 133 SGB XII. Hiernach können Deutsche, die außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes, aber innerhalb des in Artikel 116 Abs. 1 des Grundgesetzes genannten Gebiets geboren sind und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, in außergewöhnlichen Notlagen besondere Hilfen erhalten. § 133 SGB XII begünstigt alle diejenigen Deutschen, die im Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 – abzüglich des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 – geboren sind, mithin in den sog. Ostgebieten. Es handelt sich dabei um H1, einen Teil von P1 (einschließlich der Grenzmark), die östlich der O1 in P2 gelegenen Gebiete B1 (N1), S1 (ohne einen kleinen, heute zum Bundesland S2 gehörenden Teil N2 um G1) sowie O2 einschließlich des Teils, der zu R1 gehört (Becker in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020 [Stand 1. Februar 2020], § 133 SGB XII, Rdnr. 11 m.w.N.). In den genannten Gebieten muss der Betroffene des Weiteren seinen gewöhnlichen Aufenthalt, d.h. nicht nur vorübergehend den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben (Becker in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020 [Stand 1. Februar 2020], § 133 SGB XII, Rdnr. 12). All dies liegt offensichtlich bei dem in B2 geborenen Kläger nicht vor. Darüber hinaus knüpft die Möglichkeit der speziellen Hilfegewährung nach § 133 Abs. 1 SGB XII – ebenso wie § 24 SGB XII – an das Vorliegen einer außergewöhnlichen Notlage an (hierzu Becker in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020 [Stand 1. Februar 2020], § 133 SGB XII, Rdnr. 13).

Aufgrund des danach allein in Betracht kommenden Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II war der Beigeladene als zuständiger Leistungsträger für die Leistungen nach dem SGB II beizuladen. Einer nach § 75 Abs. 5 SGG grundsätzlich möglichen Verurteilung des Beigeladenen zur Erbringung von Leistungen steht jedoch schon entgegen, dass der Kläger solche ausdrücklich ablehnt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.

Rechtskraft
Aus
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