Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung streitig.
Die 1966 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war als Produktionsmitarbeiterin, Montagearbeiterin und zuletzt seit 1. November 2010 als Industriearbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 2. Mai 2013 bis 31. Januar 2014 war sie arbeitsunfähig, vom 1. Februar 2014 bis 9. Februar 2015 arbeitslos und bezog bis zum 31. Januar 2014 Krankengeld sowie im Anschluss bis zum 30. Januar 2015 Arbeitslosengeld. Wegen der Pflege eines Angehörigen werden seit 1. August 2017 Pflichtbeiträge für eine Pflegetätigkeit entrichtet.
Am 10. September 2019 stellte die Klägerin bei der Beklagten zum wiederholten Mal einen Antrag auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Mit Bescheid vom 16. September 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil die Klägerin die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfülle. Ausgehend von einem Leistungsfall bei Rentenantragstellung am 10. September 2019 seien im Zeitraum vom 1. August 2014 bis zum 9. September 2019 lediglich 23 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt.
Auf den dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin einen wesentlich früheren Eintritt der Erwerbsminderung insbesondere wegen Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule geltend machte, und nach Auswertung beigezogener Befundunterlagen ließ die Beklagte die Klägerin durch K1 sozialmedizinisch begutachten. Im Gutachten vom 21. Februar 2020 stellte der Gutachter folgende Diagnosen:
Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit Bandscheibendegeneration ohne neurologische Defizite, anamnestisch Angabe von Lumboischialgien,
HWS-Syndrom mit zeitweisen Brachialgien links,
arterielle Hypertonie bei Adipositas permagna.
Insgesamt falle bei der Untersuchung auf, dass die Klägerin über vielfältige subjektive Einschränkungen berichte, die jedoch teilweise nicht wirklich objektiviert werden könnten. Die Diskrepanzen würden auf gewisse Verdeutlichungstendenzen im Rahmen des Antrages zurückgeführt. In Zusammenschau der Befunde und der erfolgten körperlichen Untersuchung bestehe bei der Klägerin weiterhin ein Leistungsvermögen von über sechs Stunden täglich bezüglich leichter Tätigkeiten zeitweise im Stehen und Gehen und überwiegend im Sitzen ohne Nachtschicht, ohne Rumpfzwangshaltung, ohne häufige Überkopfarbeiten, ohne Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten, ohne Hocken und Knien und ohne besondere Anforderung an die Gang- und Standsicherheit.
Mit Widerspruchsbescheid 6. Mai 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, weil die Klägerin die medizinischen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht erfülle.
Am 18. Mai 2020 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben.
Das SG hat die H1, sowie den Hausarzt der Klägerin, G1, schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. H1 hat unter dem 15. Januar 2021 ausgeführt, die Klägerin befinde sich seit 23. Mai 2018 in ihrer laufenden psychotherapeutischen Behandlung, zuletzt am 3. Dezember 2020. Als Behandlungsdiagnosen hat sie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine rezidivierende depressive Episode, gegenwärtig mittelgradig ausgeprägt, angegeben. Im Verlauf der Behandlung habe sich der psychische Zustand der Klägerin stabilisiert, eine deutliche Verbesserung sei jedoch nicht eingetreten. Aus ihrer Sicht sei die Klägerin auf nicht absehbare Zeit mindestens seit Mai 2018 nur noch unter drei Stunden täglich leistungsfähig und in ihrer Partizipationsfähigkeit erheblich eingeschränkt. G1 hat mit Schreiben vom 19. Januar 2021 die seit März 2017 im Laufe seiner Behandlung bei der Klägerin aufgetretenen Beschwerden und Gesundheitsstörungen berichtet und mitgeteilt, die Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin seien sowohl Gegenstand einer psychiatrisch-psychotherapeutischen als auch orthopädischen Beurteilung. Aus seiner Sicht erscheine zumindest seit der in den Vordergrund gerückten reaktiv-depressiven Symptomatik mit simultaner intensivierter chronischer Schmerzstörung ab ca. Mitte des Jahres 2020 auch unter besonderer Berücksichtigung der psychotherapeutischen Beurteilung ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum möglich. Aus hausärztlicher Indikation erstrecke sich die erwähnte Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit retrospektiv auf dem Zeitraum seit Anfang 2019 mit damals nachvollziehbarer Progression der vordergründig beklagten Wirbelsäulenbeschwerden.
Das SG hat den Arzt für H2 mit der Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 28. April 2021 hat der Gutachter eine Dysthymia mit klagsamen Verhalten, leicht eingeschränkter Schwingungsfähigkeit, reduziertem Antrieb, Rückzugsverhalten und Angabe einer Schlafstörung diagnostiziert. Die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung mit mittelgradigen depressiven Episoden und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren habe er im Rahmen der aktuellen Untersuchung nicht bestätigen können. Die Klägerin sei noch in der Lage sechs Stunden und mehr arbeitstäglich in leichten körperlichen Arbeitstätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen erwerbstätig zu sein. Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über fünf Kilogramm ohne Hilfsmittel seien nicht mehr leidensgerecht. Ständiges Gehen oder Stehen sei in Anbetracht der degenerativen Veränderungen im Bereich beider Hüftgelenke und beider Kniegelenke sowie der ausgeprägten Adipositas ungünstig. Überwiegendes Sitzen sei in Anbetracht des Wirbelsäulenleidens ungünstig. Gleichförmige Körperhaltungen, insbesondere Wirbelsäulenzwangshaltungen, und häufiges Bücken seien in Anbetracht des Wirbelsäulenleidens und der anderen degenerativen Gelenkprozesse nicht mehr leidensgerecht. Aufgrund der dysthymen Erkrankung seien der Klägerin Tätigkeiten unter besonderem Zeitdruck, mit besonderer Verantwortung und besonderer geistiger Beanspruchung nicht mehr zumutbar. Nachtarbeit sei in Anbetracht der Schlafstörung ungünstig. Wechselschichten würden die Tagesstrukturierung erschweren und sich ebenfalls ungünstig auf die Schlafstörung auswirken.
Nachdem die Klägerin Einwendungen gegen das Gutachten erhoben hat, hat der Gutachter unter dem 3. Juli 2021 ergänzend Stellung genommen und an seiner Leistungseinschätzung festgehalten.
Mit Gerichtsbescheid vom 4. Oktober 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Eine rentenberechtigende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit liege bei der Klägerin nicht vor. Im Vordergrund stünden Leiden auf psychiatrischem Fachgebiet, was den Angaben der behandelnden. H1 sowie des behandelnden. G1 entnommen werde. Insofern bestehe bei der Klägerin eine Dysthymia; eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren könne hingegen nicht festgestellt werden, was die Kammer dem insofern schlüssigen und überzeugenden Gutachten des. H2 entnehme. Gegenüber der Validität der von H2 erhobenen Befunde bestünden keine Zweifel. Der Gutachter habe durchaus eine leichte Sprachbarriere bei der Klägerin festgestellt und nach den eingehenden Ausführungen in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme bei der Beurteilung berücksichtigt. Er habe schlüssig und überzeugend dargelegt, dass – wie auch im Gutachten an verschiedenen Stellen beschrieben worden sei – eine Verständigung in deutscher Sprache mithilfe gelegentlicher Übersetzung durch die anwesende Tochter durchaus möglich gewesen sei, und dass auch bei Verständnisschwierigkeiten zu manchen inhaltlichen Einzelheiten der Anamnese ein valider objektiver Befund über psychische Funktionen habe erhoben werden können. Aus den psychischen Funktionsbeeinträchtigungen habe H2 überzeugend qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens der Klägerin abgeleitet, indem besonderer Zeit- und Leistungsdruck, Nachtarbeit, wechselnde Arbeitsschichten sowie besondere Verantwortung und besondere geistige Beanspruchung wie etwa Daueraufmerksamkeit zu vermeiden seien. Bei Beachtung dieser Einschränkungen stünden die psychiatrischen Gesundheitsstörungen der Klägerin einem mindestens sechsstündigen täglichen Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entgegen. Daneben seien bei der Klägerin orthopädische Gesundheitsstörungen durch chronische Wirbelsäulenleiden im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule für die Beurteilung des Leistungsvermögens zu beachten. Insofern bestünden bei der Klägerin Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit Bandscheibendegeneration ohne neurologische Defizite bei anamnestischer Angabe von Lumboischialgien und ein HWS-Syndrom mit zeitweisen Brachialgien links, was dem im Wege des Urkundenbeweises zu verwertenden von der Beklagten eingeholten Gutachten des K1 zu entnehmen sei. Aus den von K1 erhobenen Befunden resultierten lediglich qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens, indem Rumpfzwangshaltungen, häufige Überkopfarbeiten, Hocken und Knien sowie Tätigkeiten mit Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten sowie mit besonderen Anforderungen an die Gang- und Standsicherheit zu vermeiden seien. Bei Beachtung dieser Einschränkungen stünden auch die Wirbelsäulenleiden der Klägerin einem mindestens sechsstündigen täglichen Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung mit überwiegendem Sitzen sowie zeitweisem Stehen und Gehen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entgegen. Selbst wenn eine quantitative Leistungsminderung Anfang 2019 aufgrund einer Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit der Klägerin durch Progression der vordergründig beklagten Wirbelsäulenbeschwerden angenommen würde, käme ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente nicht in Betracht, weil in diesem möglichen Zeitpunkt des Eintritts einer Erwerbsminderung die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt gewesen seien.
Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 6. Oktober 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 2. November 2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung macht sie Zweifel am Fehlen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen geltend und beruft sich auf die Einschätzung der behandelnden Psychotherapeutin und ihres Hausarztes. Sie führt Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten, der Hände, der Schulter, der Wirbelsäule, in Form von Schwerhörigkeit, Inkontinenz, Schlafstörungen, Atemproblemen, Herz-/Kreislaufproblemen und Verdauungsproblemen, einer Fibromyalgie, neurologischen und psychischen Problemen an. Sie hat Arztberichte vorgelegt (Bl. 55/65 d. Senatsakte).
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Oktober 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2020 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. September 2019 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hätten zuletzt bis zum 31. März 2017 und dann wieder bei Eintritt eines Leistungsfalles ab Juli 2020 vorgelegen. Die Zahlung freiwilliger Beiträge für die nicht mit Beiträgen belegten Zeiten vom 10. Februar 2015 bis 31. Juli 2017 sei nicht mehr möglich.
Der Senat hat den Arzt für E1 schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt. Unter dem 15. Juni 2023 hat E1 die von der Klägerin seit Behandlungsbeginn im Mai 2021 geklagten Beschwerden und die erhobenen Befunde berichtet. Im Verlauf habe er zunehmende Klagen über Beschwerden gehört, eine objektive Befundänderung aber nicht feststellen können.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet.
Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 16. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2020 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 10. September 2019 auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Dagegen richtet sich die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG), mit der sie die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1. September 2019 geltend macht. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit macht die Klägerin zu Recht nicht geltend, weil sie nicht vor dem 2. Januar 1961 geboren ist und damit von vornherein nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten dieser Rente gehört (§ 240 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch [SGB VI]).
Der Bescheid vom 16. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Denn die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, weswegen ihr eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht zusteht.
Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung (Gesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn neben den oben genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben von Amts wegen (§ 103 SGG) mit Hilfe (medizinischer) Sachverständiger (§ 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG) zu ermitteln und festzustellen, a) Art, Ausprägung und voraussichtliche Dauer der Krankheit(en) oder Behinderung(en), an denen der Versicherte leidet, b) Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen (Minderbelastbarkeiten, Funktionsstörungen und -einbußen) sowie den c) Ursachenzusammenhang („wegen“) zwischen a) und b) (z.B. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris Rdnr. 13).
Unabhängig davon, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zuletzt bis zum 31. März 2017 vorgelegen haben und dann erst wieder ab 2. Juli 2020 vorliegen, weil die Klägerin zuletzt vor dem 31. März 2017 in einem wegen einer Zeit der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug gemäß § 43 Abs. 4 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) um einen Monat (Februar 2015) verlängerten Zeitraum von fünf Jahren (29. Februar 2012 bis 30. März 2017) 36 Monate mit Pflichtbeiträgen (Februar 2012 bis Januar 2015) und dann erstmals wieder vor dem 2. Juli 2020 in einem Zeitraum von fünf Jahren (2. Juli 2015 bis 1. Juli 2020) 36 Monate mit Pflichtbeiträgen (August 2017 bis Juli 2020) zurückgelegt hat, war die Klägerin weder zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung fortdauernd seit mindestens 31. März 2017 erwerbsgemindert, noch ist eine Erwerbsminderung ab 2. Juli 2020 eingetreten.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 4. Oktober 2021 zutreffend und im Wesentlichen gestützt auf das Gutachten von H2 und das im Wege des Urkundenbeweises verwerteten (vgl. BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris Rdnr. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris Rdnr. 51) Gutachten des K1 ausgeführt, dass die Klägerin die Voraussetzungen für die von ihr beanspruchte Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung nicht erfüllt, weil sie trotz ihrer bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten zumindest sechs Stunden täglich zu verrichten und sie mit diesem zeitlichen Leistungsvermögen nicht erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Der Senat sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.
Das Berufungsvorbringen und die weiteren Ermittlungen rechtfertigen keine andere Beurteilung. Soweit die Klägerin dargelegt hat, aus welchen Gründen es ihr nicht möglich sei, die zuletzt ausgeübte Tätigkeit auszuüben, kommt es darauf nicht an. Vielmehr sind Maßstab für die begehrte Rente körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Diesbezüglich sind jedoch schon aus den Ausführungen der Klägerin im Berufungsverfahren zu ihren Beschwerden lediglich qualitative, aber keine quantitativen Beeinträchtigungen abzuleiten. Den Angaben der Klägerin ist insbesondere zu entnehmen, dass sie aufgrund ihrer Beschwerden Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung verrichtet, aber nicht lange stehen und gehen könne. Viele Treppen ab- und aufzusteigen schaffe sie nur mit Pause. Darüber hinaus führt sie Beeinträchtigungen im Bereich der Hände durch Schmerzen und Taubheitsgefühl an. Wegen Funktionsbeeinträchtigungen der Schulter könne sie keine schweren Gegenstände heben und tragen. Hinsichtlich der Wirbelsäule gibt sie neben Schmerzen Einschränkungen beim Bücken und der Beweglichkeit an. Allerdings hat die Klägerin bereits bei der Begutachtung durch K1 entsprechende Beschwerden angegeben, die jedoch nicht vollumfänglich objektiviert werden konnten. Demnach hatte die Klägerin über eine Kraftlosigkeit im Bereich der oberen Extremitäten geklagt, ein Taubheitsgefühl im Bereich der Hände angegeben, weswegen beispielsweise das Heben des Telefons schwerfalle. Bei der Überprüfung der Sensorik und der groben Kraft sowie der Feinmotorik beider oberer Extremitäten durch den Gutachter ergaben sich jedoch keine Besonderheiten. So hielt die Klägerin auch bei Eintritt in das Untersuchungszimmer eine mittelgroße Handtasche in der rechten Hand. Beim Verlassen des Gebäudes trug sie auf dem Weg zum Pkw die Tasche in der linken Hand. Nach dem Gutachten von K1 bestehen qualitative Einschränkungen bei der Verrichtung leichter Tätigkeiten dahingehend, dass diese in wechselnder Körperhaltung bzw. zeitweise im Stehen und Gehen und überwiegendem Sitzen in Tages-, Früh-/Spätschicht verrichtet werden sollen. Rumpfzwangshaltung, häufige Überkopfarbeiten, Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten, Hocken und Knien und besondere Anforderung an die Gang- und Standsicherheit sind auszuschließen. Damit ist auch den von der Klägerin geschilderten Beschwerden ausreichend Rechnung getragen. Im Übrigen ist auch ihren eigenen Ausführungen zu entnehmen, dass sie offenbar noch in der Lage ist, – unter Beachtung gerade der dargestellten qualitativen Einschränkungen – die Pflege ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter zu übernehmen, zu kochen, die Wäsche zu versorgen und kurze Spaziergänge zu unternehmen. Hinsichtlich der von der Klägerin beklagten kardialen Beschwerden sind dem Bericht des K2 vom 8. März 2022 keine schwerwiegenden kardiologischen Funktionsbeeinträchtigungen zu entnehmen. Vielmehr wurden die von der Klägerin berichteten Thoraxschmerzen nicht einer kardialen Genese zugeschrieben. In Bezug auf die von der Klägerin angeführten Thrombosen sind dem Bericht des Universitätsklinikums T1 über die Vorstellung der Klägerin in der angiologischen Sprechstunde am 2. März 2022 keine gravierenden Befunde zu entnehmen. Es wurde weiterhin ein konservatives Vorgehen mittels Kompressionstherapie für ausreichend erachtet. Bei den von H1 im Bericht vom 2. Mai 2022 aufgeführten Beeinträchtigungen handelt es sich im Wesentlichen um Beschwerdeangaben der Klägerin, die in dieser Form schon der sachverständigen Zeugenauskunft vom 15. Januar 2021 zu entnehmen sind und von dem Sachverständigen H2 nicht bestätigt werden konnten. Der H3 hat ausweislich seines Berichts vom 26. März 2022 keinen Hinweis auf eine entzündlich-rheumatologische Systemerkrankung gefunden. Soweit er ein chronifiziertes Schmerzsyndrom vom Typ der Fibromyalgie diagnostiziert hat, ist diese Gesundheitsstörung im Hinblick auf objektivierbare Beeinträchtigungen insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet zu bewerten. Die Klägerin hat nach den Ausführungen zur Anamnese eine seit 2019 deutlich zunehmende Schmerzsymptomatik angegeben. Der Gutachter H2 hat aber im Gutachten vom 28. April 2021 keine infolge der auch gegenüber dem Sachverständigen berichteten Schmerzen bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt, die die Verrichtung körperlich leichter Tätigkeiten quantitativ einschränken würden. Insbesondere waren die angegebenen Schmerzen weder in den Körperhaltungen und Bewegungsmustern noch gestisch oder mimisch erkennbar. Auch der geringe Schmerzmittelgebrauch spricht gegen schwerwiegende Beeinträchtigungen infolge der bestehenden Schmerzen. Der sachverständige Zeuge E1 konnte trotz zunehmender Klagen der Klägerin über Beschwerden keine objektive Befundänderung bestätigen. Hinsichtlich insbesondere beklagter Rückenschmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich und eines brennenden Gefühls im Bereich der Fußsohlen ergab sich nach den Angaben des sachverständigen Zeugen neurologisch ein unauffälliger Befund. Wegen des aufgrund berichteter Schmerzen und leichten Kribbelns in den Händen bestehenden Verdachts auf ein Karpaltunnelsyndrom ergaben sich laut den Ausführungen von E1 bei der Neurographie links lediglich leichtgradig pathologische Werte für ein Karpaltunnelsyndrom. Rechts war der Befund unauffällig. In Bezug auf von der Klägerin berichtetes Brennen im Fußsohlenbereich und Rückenschmerzen mit dadurch verursachten Schlafstörungen hat der sachverständige Zeuge eine Besserung durch die Rezeptierung von Amitriptylin 25 mg mitgeteilt. Für eine Polyneuropathie besteht nach seinen Angaben kein sicherer Hinweis. Im Bereich der unteren Extremitäten hat er das Nichtbestehen eines deutlichen pathologischen Befundes bei der Neurographie und der neurologischen Untersuchung angegeben. Schließlich bieten die übrigen von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgetragenen Beschwerden keine konkreten Hinweise auf für die Verrichtung leichter Tätigkeiten relevanter Funktionsbeeinträchtigungen. Eine Schwerhörigkeit kann durch eine Hörgeräteversorgung ausgeglichen werden und führt allenfalls zu qualitativen Einschränkungen in Bezug auf Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an das Hörvermögen. Anhaltspunkte für das Bestehen einer über eine leichte bzw. Stressinkontinenz hinausgehende Blaseninkontinenz ergeben sich aus den Ausführungen der Klägerin nicht. Die beschriebenen Beeinträchtigungen der Verdauungsorgane haben ersichtlich keinen Einfluss auf eine leichte berufliche Tätigkeit.
Zur Überzeugung des Senats steht danach fest, dass die Klägerin noch in der Lage ist, mindestens sechs Stunden arbeitstäglich jedenfalls eine körperlich leichte Tätigkeit unter Berücksichtigung der genannten qualitativen Einschränkungen zu verrichten.
Steht das krankheits- bzw. behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen fest, ist im nächsten Prüfungsschritt die Rechtsfrage zu klären, ob der Versicherte damit außerstande ist, „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts“ tätig zu sein (dazu BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris Rdnr. 17 ff. m.w.N.). Diese Frage ist hier zu verneinen. „Bedingungen“ sind dabei alle Faktoren, die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses sind. Hierzu gehört vor allem der rechtliche Normrahmen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche Bestimmungen und tarifvertragliche Vereinbarungen. Die Bedingungen sind „üblich“, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl. Der Arbeitsmarktbegriff erfasst alle denkbaren Tätigkeiten, für die es faktisch „Angebot“ und „Nachfrage“ gibt. Das Adjektiv „allgemein“ grenzt den ersten vom zweiten – öffentlich geförderten – Arbeitsmarkt, zu dem regelmäßig nur Leistungsempfänger nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) Zugang haben, sowie von Sonderbereichen ab, wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen und andere geschützte Einrichtungen.
Die Klägerin kann – wie dargelegt – an fünf Tagen in der Woche mindestens sechs Stunden arbeiten. Abgesehen davon, dass ihr infolge von Schlafstörungen Tätigkeiten in Nacht- und Wechselschicht nicht zumutbar sind, benötigt sie im Hinblick auf Dauer und Verteilung der Arbeitszeit keine Sonderbehandlung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unüblich wäre. Sie hat auch keinen erhöhten, betriebsunüblichen Pausen- oder Urlaubsbedarf und ist in einem Betrieb, also außerhalb geschützter Einrichtungen, einsetzbar. Dabei ist der Senat der Auffassung, dass die Klägerin über die für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit notwendigen kognitiven Grundfähigkeiten verfügt. Nach der Rechtsprechung des BSG werden unter den Begriff der üblichen Bedingungen „auch tatsächliche Umstände“ verstanden, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz, mithin ausschließlich kognitive Grundfähigkeiten (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R – juris Rdnr. 29). Wie dargelegt, liegt bei der Klägerin kein Leiden vor, das leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließt. Die angesprochenen kognitiven Grundfähigkeiten sind nicht betroffen.
Die gesundheitlichen Einschränkungen sind auch weder in ihrer Art noch in ihrer Summe geeignet, die Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu begründen (dazu BSG, a.a.O. Rdnr. 24 ff.). Im Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der nach seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch in der Lage ist, körperlich leichte und geistige einfache Tätigkeiten – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in ungelernten Tätigkeiten regelmäßig gefordert werden, wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. zuletzt Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 79/09 R – BSGE 109, 189; Urteil vom 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R – juris). Der Senat ist der Überzeugung, dass das Restleistungsvermögen der Klägerin es dieser erlaubt, die oben genannten Verrichtungen oder Tätigkeiten, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, auszuüben. Es liegt weder eine spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Weiter ist der Senat davon überzeugt, dass bei der Klägerin die erforderliche Wegefähigkeit vorliegt (beispielsweise BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 79/11 R - BSGE 110, 1). Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Wegefähigkeit, insbesondere Befunde, die die Klägerin am Zurücklegen einer Wegstrecke von mehr als 500 Metern in weniger als 20 Minuten viermal täglich und der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten hindern würden, ergeben sich weder aus den Gutachten noch aus den sachverständigen Zeugenaussagen oder den vorliegenden medizinischen Unterlagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2) liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 1116/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 3381/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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