S 2 U 426/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Heilbronn (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 426/24
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Soweit eine Berufsgenossenschaft ausgeführt hat, geltend gemachte Gesundheitsstörungen könnten wegen des derzeit noch nicht vorliegenden medizinischen Erkenntnisstandes grundsätzlich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der anerkannten BK Nr. 3101 zugerechnet werden, ist dies jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr haltbar. Schließlich liegt zu den Folgen einer Covid 19 Erkrankung zwischenzeitlich die S1 Leitlinie zu Long/Post-Covid der AWMF (Stand Mai 2024) vor und in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur sind sogar bereits Erfahrungssätze zur MdE-Bewertung beim Vorliegen eines Post-Covid-Syndroms veröffentlicht worden (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 813f.).

 

Gericht:

Sozialgericht Heilbronn

 

Datum:

12.12.2024

 

Aktenzeichen:

S 2 U 426/24

 

Entscheidungsart:

Urteil

 

 

 

 

 

 

Normenkette:

§§ 9, 56 SGB VII

 

Titelzeile:

Die grundsätzlich vertretene Einschätzung einer Berufsgenossenschaft, wonach zu Folgen einer Covid‑19 Erkrankung allgemein keine ausreichenden medizinischen Erkenntnisse vorlägen, die für die Anerkennung von Folgen einer Berufskrankheit oder die Gewährung einer Verletztenrente ausreichend seien, trifft jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr zu.

 

Leitsatz:

Soweit eine Berufsgenossenschaft ausgeführt hat, geltend gemachte Gesundheitsstörungen könnten wegen des derzeit noch nicht vorliegenden medizinischen Erkenntnisstandes grundsätzlich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der anerkannten BK Nr. 3101 zugerechnet werden, ist dies jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr haltbar. Schließlich liegt zu den Folgen einer Covid‑19 Erkrankung zwischenzeitlich die S1 Leitlinie zu Long/Post-Covid der AWMF (Stand Mai 2024) vor und in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur sind sogar bereits Erfahrungssätze zur MdE-Bewertung beim Vorliegen eines Post-Covid-Syndroms veröffentlicht worden (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 813f.).

 

 

 

Tenor:

 

 

 

Der Bescheid vom 13.11.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.02.2024 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger aufgrund der anerkannten Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ab 22.03.2022 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % zu gewähren. Zudem wird die Beklagte verpflichtet, ein Post-Covid-Syndrom mit Fatigue-Syndrom und einer kognitiven Störung, sowie eine reaktiv ausgelöste depressive Störung als Folgen der anerkannten Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung festzustellen.

 

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente und die Feststellung weiterer Folgen einer anerkannten Berufskrankheit.

 

Der im Jahr 1963 geborene Kläger war beruflich zuletzt als Krankenpfleger im Klinikum X tätig. Am 27.12.2020 litt der Kläger unter grippeähnlichen Symptomen, mit PCR-Test vom 28.12.2020 wurde eine Covid-19-Erkrankung bestätigt.

 

Nach Mitteilung der Erkrankung gegenüber der Beklagten erkannte diese mit Bescheid vom 21.01.2021 das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) an, also von Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war (im Folgenden BK Nr. 3101). Zudem wurde die lebenslange Übernahme der Kosten für alle im Zusammenhang mit der Erkrankung stehenden medizinischen Behandlungen zugesagt. Bis 20.06.2021 erhielt der Kläger von der Beklagten Verletztengeld (vgl. die Verletztengeld-Endabrechnung vom 15.06.2021).

 

Seit Erkrankungsbeginn befand sich der Kläger aufgrund persistierender Beschwerden weiterhin in medizinischer Behandlung, bezüglich derer die Beklagte diverse medizinische Unterlagen beizog. Der Lungenfacharzt F gelangte in seinem Befundbericht vom 08.02.2021 zu dem Ergebnis, dass beim Kläger ein Post-Covid-19-Zustand vorliege. Es habe sich weder klinisch noch radiologisch oder Iungenfunktionstechnisch ein pathologischer Befund ergeben. Radiologisch hätten sich Restinfiltrate nach einer Covid-19-Pneumonie gezeigt. Vom 15.03.2021 bis 12.04.2021 absolvierte der Kläger eine Rehabilitationsmaßnahe in der Y-Klinik H. Unter anderem wurde im Entlassungsbericht vom 16.04.2021 ein Post-Covid-19-Syndrom diagnostiziert. Es bestünden trotz der hohen Motivation des Patienten limitierende Einschränkungen, insbesondere eine rasche Erschöpfbarkeit. Aktuell sei noch keine stufenweise Wiedereingliederung möglich. Weitere deutliche Einschränkungen bestünden im Bereich der kognitiven Fähigkeiten, insbesondere der Konzentration.

 

Im Juni 2021 wurde dennoch eine berufliche Wiedereingliederung begonnen. Ab 20.06.2021 war der Kläger wieder vollschichtig arbeitstätig (vgl. den Verlaufsbericht vom 15.06.2021)

 

Im Verlaufsbericht vom 26.11.2021 teilte der Durchgangsarzt Dr. R mit, dass seit Ende September/Anfang Oktober 2021 eine Verschlechterung der Post-Covid-Symptome mit Zunahme der Erschöpfung, Schläfrigkeit, Müdigkeit, Belastungsdyspnoe, Kopfschmerzen und Konzentrationsbeschwerden aufgetreten sei. Der Kläger sei wieder arbeitsunfähig. Per Ankreuzfeld wurde zu diesem Zeitpunkt mitgeteilt, dass keine Hinweise auf eine psychische Gesundheitsstörung bestünden.

 

Am 26.01.2022 teilte Dr. R der Beklagten telefonisch mit, dass der Kläger nun dringend psychologische Unterstützung benötige.

 

Im Entlassungsbericht einer vom 22.03.2022 bis 29.09.2022 durchgeführten ambulanten neurologischen Rehabilitationsmaßnahme der Reha-Einrichtung T vom 17.10.2022 berichtete die Neurologin C u.a. von nachstehenden Diagnosen: Post-Covid-Syndrom nach Covid-19-lnfektion, schwere kognitive Teilleistungsstörungen, mentale und physische Fatigue-Symptomatik und schwere depressive Episode. Die depressive Symptomatik sei im Rahmen der Krankheitsbewältigung aufgetreten. Eine valide neuropsychologische Diagnostik habe aufgrund einer ausgeprägten körperlichen Stressreaktion des Klägers während der Aufgabenbearbeitung nicht durchgeführt werden können.

 

In einem Bericht des Diplom-Psychologen/Neuropsychologen M vom 18.04.2023 wurde ausgeführt, dass beim Kläger in absehbarer Zeit keine Arbeitsfähigkeit bzgl. der letzten beruflichen Tätigkeit eintreten werde. Dies liege an einem Long-Covid-Syndrom nach Covid-19-lnfektion mit daraus resultierender Fatigue-Symptomatik (mental und körperlich), schweren kognitiven Störungen (in Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen sowie exekutiven Funktionen) und einer schweren depressiven Episode (mit Antriebs- und Interessenverlust, Niedergeschlagenheit, verringertem Appetit, Grübelneigung, formalgedanklicher Einengung und geringem Selbstwirksamkeitserleben).

 

Ein Gutachten oder eine beratungsärztliche Stellungnahme bezüglich der Folgen der BK Nr. 3101 bzw. zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurden von der Beklagten nicht eingeholt.

 

Mit Bescheid vom 13.11.2023 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund der anerkannten BK Nr. 3101 ab. Wesentliche Folgen der BK seien eine vorübergehende Müdigkeit, gelegentliche Konzentrationsstörungen und eine leicht reduzierte Belastbarkeit. Keine Folgen der BK seien folgende Gesundheitsstörungen: Hypertonie, LWS-Beschwerden, Aortenklappeninsuffizienz und eine depressive Episode. Es lägen zwar noch gewisse Einschränkungen aufgrund der Erkrankungsfolgen vor, diese begründeten jedoch keine MdE. Diese Einschätzung beruhe auf der Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen.

 

Der Kläger legte Widerspruch gegen diese Entscheidung ein. Er verwies auf einen Bericht des Durchgangsarztes Dr. R vom 28.11.2023, in welchem ausgeführt wurde, dass die Beklagte ihren Ablehnungsbescheid noch einmal überprüfen sollte. Die depressive Episode sei erst nach der Covid-19-Infektion aufgetreten. Des Weiteren nahm der Kläger auf einen Bericht des Diplom-Psychologen/Neuropsychologen M vom 19.12.2023 Bezug, in welchem schwere kognitive Beeinträchtigungen geschildert wurden. Diese seien (so Herr Maier) als Folge der Covid-19-Infektion anzusehen.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.02.2024 zurück. Weitere als die anerkannten Beschwerden könnten nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Infektion zurückgeführt werden. Im Hinblick auf eine Covid-19-Infektion würden von den Betroffenen vielfältige unterschiedliche Diagnosen und Beschwerden geschildert. Weder das Robert Koch-Institut, noch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hätten bisher valide Forschungsergebnisse veröffentlicht, wonach ein gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisstand über wesentliche Langzeitfolgen nach stattgehabter Infektion abgeleitet werden könne. Nach dem Befundbericht von Herrn F vom 08.02.2021 habe klinisch und radiologisch kein pathologischer Befund mehr vorgelegen. Passend zu Restinfiltraten nach Covid-19-Pneumonie sei eine vorübergehend leicht eingeschränkte Belastbarkeit anerkannt worden.


Der Kläger hat am 26.02.2024 Klage beim SG Heilbronn erhoben. Er verweist zur Begründung auf die Einschätzungen seiner Behandler, auf die er sich bereits im Widerspruchsverfahren bezogen hatte.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Bescheid vom 13.11.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.02.2024 abzuändern, die Beklagte zu verurteilen ihm aufgrund der anerkannten Berufskrankheit nach der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ab 22.03.2022 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30% zu gewähren und die Beklagte zusätzlich zu verpflichten nachstehende Gesundheitsstörungen als Folgen der genannten Berufskrankheit anzuerkennen: Post-Covid-Syndrom mit Fatigue-Syndrom und einer kognitiven Störung, sowie eine reaktiv ausgelöste depressive Störung.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die geltend gemachten Gesundheitsstörungen könnten wegen des derzeit noch nicht vorliegenden medizinischen Erkenntnisstandes nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der anerkannten BK zugerechnet werden. Ein organisch manifester Schaden habe zu keiner Zeit festgestellt werden können. Ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang ergebe sich nicht allein durch den Verweis auf einen zeitlichen Zusammenhang. Laut Vorerkrankungsverzeichnis seien beim Kläger zudem bereits in der Zeit von 2008 bis 2020 mehrfach die Diagnosen einer Neurasthenie und einer Anpassungsstörung gestellt worden.

 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens bei Dr. S, welches am 05.08.2024 erstellt worden ist. Der Sachverständige hat ein Post-Covid-Syndrom mit Fatigue-Syndrom und einer leichten kognitiven Störung, sowie eine reaktiv ausgelöste depressive Störung (gegenwärtig noch mittelschwer ausgeprägt) auf die anerkannte BK Nr. 3101 zurückgeführt. Das Post-Covid-Syndrom nach Covid-19-Infektion sei inzwischen allgemein als ein der BK Nr. 3101 zuzurechnendes Krankheitsbild anerkannt. Die MdE belaufe sich auf 30 %.

 

Die Beklagte ist bei ihrer Auffassung geblieben. Die im Rahmen der Begutachtung beabsichtigten Untersuchungen bzw. Testungen seien nicht bzw. nicht ausreichend durchgeführt wurden. Zum einen werde im Gutachten angegeben, dass die neurotechnische Untersuchung aufgrund einer Schmerz- und Geräuschempfindlichkeit des Klägers habe abgebrochen werden müssen. Zum anderen habe auch die orientierende neuropsychologische Testung nur unvollständig durchgeführt werden können. Weiterhin seien auch der Konzentrationsbelastungstest D2, sowie ein Durchstreichtest unter Zeitdruck nicht durchgeführt bzw. abgebrochen worden. In Anbetracht der doch vielfältig nicht durchgeführten bzw. abgebrochenen Untersuchungen und Testungen dürfte die Verwertbarkeit des Gutachtenergebnisses äußerst fraglich sein. Unter Berücksichtigung des anzuwendenden Beweismaßstabs sei eine hinreichende Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs weiterer Folgen der BK Nr. 3101 nicht gegeben. Ein pathophysiologischer Mechanismus, insbesondere für neurologische Beschwerden und Beschwerden aufgrund einer sogenannten Fatigue-Symptomatik habe im Zusammenhang mit einer Covid-19 Infektion noch nicht hinreichend geklärt werden können. Auch seien die bestehenden Vorerkrankungen nicht ausreichend bei der gutachterlichen Entscheidungsfindung berücksichtigt worden.

 

Entscheidungsgründe

 

1. Die gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthafte, kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage hinsichtlich der Anerkennung weiterer Folgen der anerkannten BK Nr. 3101 ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft. Der Kläger kann bei Geltendmachung eines Anspruches auf Feststellung weiterer Folgen eines Versicherungsfalls im Unfallversicherungsrecht zwischen einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage und einer kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage wählen (vgl. BSG vom 05.07.2011, B 2 U 17/10, Rn. 12 juris).

 

Bezüglich des geltend gemachten Anspruchs auf Verletztenrente ist gem. § 54 Abs. 4 SGG die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig.

 

2. Die Klage mit dem Ziel der Feststellung weiterer Unfallfolgen ist in vollem Umfang begründet.

 

a) Versicherte haben einen Anspruch auf Feststellung der Folge eines Versicherungsfalls, wenn ein Gesundheitsschaden durch den Gesundheitserstschaden eines Versicherungsfalls oder infolge des Vorliegens eines der Tatbestände des § 11 SGB VII rechtlich wesentlich verursacht wurde (BSG vom 06.09.2018, B 2 U 16/17 R, Rn. 13 juris).

 

Nach § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog. Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG vom 06.09.2018, B 2 U 13/17 R, juris Rn. 9) ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie, dass eine Krankheit vorliegt. Des Weiteren muss die Krankheit durch die Einwirkungen verursacht worden sein (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK.

 

Dabei müssen die „versicherte Tätigkeit“, die „Verrichtung“, die „Einwirkungen“ und die „Krankheit“ im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden (BSG vom 27.06.2017, B 2 U 17/15 R, juris Rn. 13).

 

b) Beim Kläger ist das Vorliegen einer BK Nr. 3101 mit Bescheid vom 21.01.2021 bestandskräftig anerkannt worden.

 

c) Als weitere Folgen der anerkannten BK Nr. 3101 sind die aus dem Tenor ersichtlichen Gesundheitsstörungen anzuerkennen, weil mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden.

 

Das Gericht stützt sich insoweit auf das überzeugende Sachverständigengutachten von Dr. S. Die Ehefrau des Klägers berichtete dem Sachverständigen, dass der Zustand des Klägers nach der stationären Reha in Heiligendamm nicht wirklich besser gewesen sei, als davor. Dennoch hätte der Kläger unbedingt wieder arbeiten gehen wollen. Die Betriebsärztin hätte ihn dann aus dem Betrieb nehmen müssen. Der Sachverständige hat weiterhin ausgeführt, dass sich die Exploration des Klägers außerordentlich schwierig gestaltete, weil der Kläger nicht in der Lage war, auf gestellte konkrete Fragen direkt zu antworten. Er holte jeweils weit aus, war in seinen Antworten außerordentlich sprunghaft, wirkte in der Konzentrationsfähigkeit deutlich beeinträchtigt und sichtlich erhöht ablenkbar. Er folgte jedem Gedanken der ihm kam und war nicht in der Lage, chronologisch über Erkrankungen oder die Erfahrungen in Rehabilitationseinrichtungen zu berichten. Die Untersuchung der frühen akustische evozierten Potentiale, bei welcher eine feine kleine dünne Nadel unter die Kopfhaut geschoben wird, musste wegen einer sehr hohen Schmerz- und Geräuschempfindlichkeit des Klägers abgebrochen werden. Der Blutdruck des Klägers betrug zum Zeitpunkt des Untersuchungsabbruchs 169/99 mmHg, der Puls lag bei 79/Min. Nach 10 Minuten Ausruhen lag der Blutdruck bei 148/83 mmHg, der Puls bei 62/Min. Als der Sachverständige den Kläger anschließend ansprach, sprang dieser sofort auf und begrüße ihn richtiggehend begeistert. Er ließ sich kaum beruhigen, wurde aber dann von einer Mitarbeiterin zu den orientierenden neuropsychologischen Untersuchungen mitgenommen. Auch diese Untersuchungen mussten wegen einer erneuten Stressreaktion des Klägers abgebrochen werden. Die direkte Konfrontation mit kognitiven Defiziten, wie z.B. bei einer neuropsychologischen Testung, vermied der Kläger laut Dr. S, indem er so sehr in Stress geriet, dass ein deutlicher Blutdruckanstieg auftrat als er sich überfordert fühlte und merkte, dass er grobe Fehler machte. Der Kläger vermied laut dem Sachverständigen unbewusst die direkte Konfrontation mit seinen Beeinträchtigungen, die für ihn eine schwere narzisstische Kränkung darstellten. Die erneute Kontaktaufnahme zum Sachverständigen (als dieser den Kläger zum ausführlichen explorativen Gespräch abholte) erfolgte wieder ausgesprochen überschwänglich, als wolle der Kläger Dr. S um den Hals fallen. Der Kläger wirkte während der gesamten etwa 1,5-stündigen Exploration einerseits fast hypervigil, auch lebhaft gestikulierend, zugleich aber angespannt, erschöpft und bedrückt. Er schien nahezu ausschließlich mit sich, seinen Beschwerden/Symptomen und der Tatsache, seit der Erkrankung ein anderer Mensch zu sein als davor, beschäftigt zu sein. Sehr wichtig war ihm anscheinend seine frühere Rolle als im Selbsterleben herausragender Pfleger. Laut Dr. S konnte und wollte er sich in seinem aktuellen Zustand nicht akzeptieren. Ständig musste er über sich, seine Vergangenheit und seine deprimierende Gegenwart nachgrübeln. Seinen Selbstwert schien der Kläger wesentlich aus der früher erlebten Anerkennung seiner Person als Krankenpfleger gezogen zu haben. Die Wut oder Trauer über den Verlust dieser Stütze versuchte der Kläger durch ausgeprägtes Reden und die Erinnerung an bessere Zeiten zu überspielen und zu verdrängen. Im Gespräch fielen deutliche Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Fähigkeit, sich auf ein Gegenüber einzustellen, auf. Das formale Denken des Klägers war unstrukturiert, sprunghaft, teilweise inkohärent und auch weitschweifig. Die Stimmungslage des Klägers war außerordentlich schwankend, mal überschwänglich freundlich, fast euphorisiert, dann wieder niedergeschlagen bis zu Tränen, insgesamt eher depressiv. Schwingungs- und Resonanzfähigkeit waren erhalten. Das Antriebsverhalten war stark eingeengt, das motivationale Verhalten, sich mit der entstandenen Lebenssituation konstruktiv und zukunftsorientiert auseinanderzusetzen, imponierte zum Untersuchungszeitpunkt stark beeinträchtigt.

 

Die bestehende Symptomatik des Klägers erfüllt laut Dr. S die Konsensuskriterien für eine Fatigue nach der S1 Leitlinie zu Long/Post-Covid der AWMF (Stand Mai 2024). Die Fatigue-Symptomatik ist nach den schlüssigen Ausführungen von Dr. S unter Anwendung der Kriterien der Leitlinie als mittelschwer einzuschätzen, der funktionelle Zustand auf 70% der Norm reduziert. Die Ergebnisse eines Demenztests sind laut Dr. S nicht plausibel gewesen. Sie sind nach Einschätzung des Sachverständigen einerseits Ausdruck tatsächlich vorhandener Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite und einer eingeschränkten kognitiven Ausdauer, zugleich aber auch Ausdruck einer depressiven Antriebs- und Motivationsstörung, sowie andererseits auch einer eingeschränkter Mitarbeitsbereitschaft/-fähigkeit, wohl im Zusammenhang mit einer derzeit noch bestehenden weitgehenden Unfähigkeit, die vorhandenen kognitiven und körperlichen Einschränkungen zu akzeptieren. Eine deutliche Beeinträchtigung von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit wie auch eine Beeinträchtigung der Merkfähigkeit und des Arbeitsgedächtnisses sind laut den überzeugenden Ausführungen von Dr. S dennoch durch den psychiatrischen Befund und die Vorbefunde belegt. Die depressive Symptomatik ist laut Dr. S Ausdruck der schweren narzisstischen Kränkung, die die bestehende Long-Covid-Symptomatik für den Kläger darstellt. Diese depressive Reaktion geht unter anderem mit einer erhöhten Stressanfälligkeit einher, sowie mit einer psychosomatischen Symptomatik wie der Blutdruckerhöhung in Stresssituationen. Zwar hat der Kläger laut der nachvollziehbaren Bewertung von Dr. S an psychischen Vorerkrankungen gelitten, war wegen dieser aber nur in geringem Umfang krankgeschrieben. Die derzeitige Symptomatik ist mit der Covid-19-Infektion neu aufgetreten und mit keiner der Vorerkrankungen in Zusammenhang zu bringen. Insbesondere der letztlich misslungene berufliche Wiedereinstieg hat zu der ausgeprägten depressiven Symptomatik geführt, die als Ausdruck einer schweren narzisstischen Kränkung des Untersuchten angesehen werden kann.

 

Im Hinblick auf die von Dr. S ausführlich beschriebenen Befunde und deren überzeugende Interpretation durch den Sachverständigen ist dessen Bewertung zu den Folgen der anerkannten BK Nr. 3101 überzeugend. Sie deckt sich mit der Einschätzung aller behandelnden Ärzte/Psychologen des Klägers und entspricht dem aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft. Das vorliegende Fatigue-Syndrom und die beschriebenen kognitiven Störungen stellen typische häufig bis sehr häufig auftretende Symptome im Rahmen eines Post-Covid-Syndroms dar (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 811). Auch die Herleitung einer reaktiven depressiven Erkrankung auf dem Boden dieser Gesundheitsstörungen und deren Folgen für das Leben des Klägers durch Dr. S ist plausibel. Die von der Beklagten vorgebrachten Argumente ändern daran nichts.

 

Soweit die Beklagte ausgeführt hat, die geltend gemachten Gesundheitsstörungen könnten wegen des derzeit noch nicht vorliegenden medizinischen Erkenntnisstandes grundsätzlich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der anerkannten BK Nr. 3101 zugerechnet werden, ist dies jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr haltbar. Schließlich liegt zu den Folgen einer Covid‑19 Erkrankung zwischenzeitlich die S1 Leitlinie zu Long/Post-Covid der AWMF (Stand Mai 2024) vor und in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur sind sogar bereits Erfahrungssätze zur MdE-Bewertung beim Vorliegen eines Post-Covid-Syndroms veröffentlicht worden (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 813f.). Der S1-Leitlinie liegt bezüglich der persitierenden Symptome bei Long/Post-Covid eine ausführliche Zusammenstellung der hierzu vorliegenden Literatur zu Grunde (so Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 812). Bei dieser Sachlage ist die generelle Behauptung der Beklagten zum Nichtvorliegen wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Post-Covid-Syndromen nicht (mehr) nachvollziehbar. Vielmehr überzeugt die Bewertung des Sachverständigen, wonach das Post-Covid-Syndrom nach Covid-19-Infektion inzwischen medizinisch allgemein als ein der BK Nr. 3101 zuzurechnendes Krankheitsbild anerkannt ist.

 

Soweit von Dr. S mitgeteilt worden ist, dass der Kläger diverse Tests nicht erfolgreich absolvieren konnte, führt dies im vorliegenden Fall entgegen der Einschätzung der Beklagten nicht zur fehlenden Verwertbarkeit des Gutachtens. Dr. S hat schließlich nachvollziehbar ausgeführt, dass der Kläger diese Tests gesundheitsbedingt nicht durchführen konnte, was insbesondere unter Berücksichtigung der mitgeteilten Stressreaktion, die durch die gemessenen Blutdruckwerte objektiviert wurde, überzeugend ist. Die erhobenen Befunde tragen die Bewertung des Sachverständigen auch ohne die nicht durchgeführten Tests. Dass die laut Vorerkrankungsverzeichnis bestehenden psychischen Vorerkrankungen der auf die anerkannte BK zurückzuführenden Verursachung auch der von Dr. S beschriebenen psychischen Symptomatik nicht entgegenstehen, hat der Sachverständige entgegen der Ausführungen der Beklagten ausführlich und schlüssig begründet. Auch insoweit entspricht seine Bewertung im Übrigen jener der behandelnden Ärzte. Eine entgegenstehende medizinisch begründete Einschätzung liegt nicht vor.

 

3. Aus vorliegenden Folgen der anerkannten BK Nr. 3101 ergibt sich ein Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 % ab dem 22.03.2022. Die darauf gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet.

 

a) Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 % gemindert ist, haben gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII.

 

b) Die Bemessung der MdE bei Bewertung der länger andauernden Folgen eines Versicherungsfalls hängt von zwei Faktoren ab: Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 155f). Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der individuell vorliegende Funktionsverlust. Die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall ist mittels Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles zu schätzen (vgl. BSG vom 02.05.2001, B 2 U 24/00 R, Rn. 20 juris). Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (vgl. zum Ganzen BSG vom 22.06.2004, B 2 U 14/03 R, Rn. 12 juris).

 

c) Nach den einschlägigen Erfahrungssätzen, die im Rahmen vom Post-Covid-Syndromen noch in begrenztem Umfang vorliegen, ist eine im Zusammenhang mit dieser Erkrankung auftretende Fatigue-Symptomatik mit einer MdE von 10 % bis 30 % zu bewerten (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024, S. 814). Als Folgen eines Versicherungsfalls auftretende depressive Störungen entsprechend mittelgradigen depressiven Episoden bedingen nach den vorliegenden Erfahrungssätzen eine MdE bis 40 % (Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, S. 215). Im Zusammenhang mit Hirnschäden rechtfertigen leichte kognitive Leistungsstörungen den Ansatz einer MdE bis 30 % (Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, S. 238), was hier sinngemäß ebenfalls zu geltend hat.

 

Ausgehend von den genannten Erfahrungssätzen ist der Ansatz einer MdE von 30 % durch den Sachverständigen bei Zusammenschau aller Aspekte nachvollziehbar. Die Ausprägung der Fatigue-Symptomatik mit einer verbliebenen Leistungsfähigkeit im Umfang von 70 % der Norm spricht bezüglich dieses Aspekts für einen niedrigen Ansatz im vorgeschlagenen MdE-Bereich von 10 % bis 30 %. Schließlich wäre ein besonders stark ausgeprägtes Fatigue-Syndrom mit einer MdE von 30 % zu bewerten und eines mit mittelgradigen Auswirkungen mit einer MdE von 20 %. Der Kläger ist bezüglich dieser Symptomatik im Vergleich zu beiden beschriebenen Konstellationen bessergestellt. Die zusätzlich vorliegenden kognitiven Defizite sind stark genug ausgeprägt, um erhöhend berücksichtigt zu werden, rechtfertigen im Hinblick auf ihren Schweregrad aber nur eine geringfügige Erhöhung. Zusätzlich ist ab der erstmaligen Diagnose am 22.03.2022 aber auch die mittelgradig ausgeprägte depressive Erkrankung zu berücksichtigen. Insoweit erscheint ein Ansatz im mittleren Bemessungsrahmen (von bis zu 40 %) angebracht. Unter Berücksichtigung aller genannten Unfallfolgen ist der Ansatz einer MdE von 30 % gerechtfertigt.

 

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

 

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