Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21.09.2023 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte erstattet den Klägern die außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die teilweise Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum November 2020 bis April 2021.
Die 1973 geborene Klägerin zu 1 lebt zusammen mit ihren 2012 geborenen Söhnen, dem Kläger zu 2 und dem 2002 geborenen Kläger zu 3 im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Daneben lebte in der Wohnung noch der ehemalige Partner der Klägerin zu 1 und Vater des Klägers zu 3, B1, von dem sie nach eigenen Angaben seit Mai 2018 „getrennt von Tisch und Bett“ lebt. Außerdem lebt die 1997 geborene Tochter S1 mit im Haushalt, die monatlich ca. 950,00 € brutto, 756,44 € netto verdient und auf die Leistungen verzichtet hat. Die monatliche Miete beträgt 1.150 €, zuzüglich 50,00 € für eine Garage und 150,00 € Betriebskostenvorauszahlung, die Unterkunftskosten wurden zur Hälfte vom ehemaligen Partner der Klägerin zu 1 getragen.
Mit Bescheid vom 24.10.2018 bewilligte der Beklagte den Klägern erstmals vorläufig Leistungen. Für die Zeit bis Oktober 2020 berücksichtigte der Beklagte bei der Leistungsbewilligung zuletzt Kosten der Unterkunft für die Kläger und die Tochter S1 von monatlich 600,00 €, auf die Kläger entfielen jeweils 150,00 € (vgl. zuletzt Bewilligungsbescheid vom 17.04.2020).
Im Weiterbewilligungsantrag vom 16.09.2020 für den streitgegenständlichen Zeitraum gaben die Kläger eine Grundmiete von 650 € an und zudem als Heizkosten Öl nach entsprechendem Erwerb.
Mit Bescheid vom 25.09.2020 lehnte der Beklagte zunächst Leistungen ab, da B1 in die Bedarfsgemeinschaft aufgenommen werde und bedarfsdeckendes Einkommen erziele.
Am 16.10.2020 teilte die Klägerin zu 1 mit, mit B1 lediglich in einer Wohngemeinschaft zu leben; B1 suche nach einer anderen Wohnung.
Mit Bescheiden vom 20.10.2020 wurden den Klägern die Leistungen versagt, da Unterlagen zum Einkommen des B1 nicht eingereicht worden seien.
Am 19.10.2020 und 03.11.2020 erhoben die Kläger Widerspruch. Die Klägerin zu 1 und B1 hätten sich 2018 getrennt. B1 bemühe sich um einen Auszug.
Mit Bescheid vom 12.11.2020 gewährte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 01.11.2020 bis zum 30.04.2021 in Höhe von monatlich insgesamt 1.652,00 € u.a. unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft in Höhe von 975 € (862,50 € Grundmiete zzgl. 112,50 € Nebenkosten). Hierbei handelt es sich um die durch 4 geteilten Kosten von 1.150 €, wobei für S1 kein Anteil berücksichtigt wurde. B1 findet in dem Bescheid keine Berücksichtigung.
Mit Änderungsbescheid vom 21.11.2020 erfolgte die Anpassung der Bewilligungsentscheidung an die ab dem 01.01.2021 geänderten Regelbedarfssätze und die Berücksichtigung des erhöhten Kindergeldes, so dass sich für die Zeit von Januar bis April 2021 die Leistungen auf monatlich 1.649,00 € beliefen. Mit Änderungsbescheid vom 04.12.2020 wurde eine Beschäftigungsaufnahme der Klägerin zu 1 ab dem 01.01.2021 berücksichtigt, so dass sich die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit von Januar bis April 2021 auf 1.170,86 € beliefen. Mit Änderungsbescheid vom 15.04.2021 bewilligte der Beklagte den Klägern weitere Kosten der Unterkunft (Abfallgebühren) für März 2021 in Höhe von 235,34 €.
Mit Schreiben vom hörte der Beklagte die Kläger zu einer Überzahlung an. Es seien Änderungen bei den Kosten für Unterkunft und Heizung eingetreten, die sich mindernd auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung auswirkten. Im Rahmen der Abhilfeentscheidung vom 12.11.2020 sei B2 wieder aus der Bedarfsgemeinschaft herausgenommen worden. Dennoch sei ab dem 01.11.2020 die gesamte Miete in Höhe von 1.150,00 € als Bedarf berücksichtigt worden. Da B2 jedoch weiterhin nicht in der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt werde, könne die Miete für die Zeit ab dem 01.11.2020 weiterhin lediglich anteilig in Höhe von monatlich 650,00 € als Bedarf berücksichtigt werden.
Mit Bescheiden vom 18.06.2021 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27.09.2021 und 28.09.2021 nahm der Beklagte die für November 2020 bis April 2021 gewährten Kosten der Unterkunft teilweise zurück, für den Kläger zu 3 in Höhe von 877,85 €, für die Klägerin zu 1 in Höhe von 999,86 € und für den Kläger zu 2 in Höhe von 858,84 € und forderte die Kläger zur Erstattung auf. Der Verwaltungsakt sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, da B1 bei den Kosten der Unterkunft nicht berücksichtig worden sei. Es sei weiterhin so, dass die Kläger (einschließlich der Tochter S1) lediglich 650 € an Kosten der Unterkunft zahlten, den Rest zahle B1. Schon allein aufgrund des erheblich höheren Anteil an den Kosten der Unterkunft (in Höhe von 862,50 € + 347,85 € Nebenkosten) als in der Vergangenheit (in Höhe von 487,50 Euro) hätte die Kläger erkennen können, dass hier ein viel zu hoher Betrag angesetzt und deutlich mehr Leistungen bewilligt wurden als in der Vergangenheit worden seien, so dass sie sich nicht auf den Vertrauensschutz berufen könnten.
Hiergegen haben die Kläger am 29.10.2021 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG) erhoben. Sie hätten auf den Bestand der Bewilligungsbescheide vertraut und die Leistungen verbraucht. Darüber hinaus sei nicht erkennbar gewesen, dass die falschen Leistungen gewährt worden seien, schon aufgrund der Menge der Entscheidungen. Die in diesen Bescheiden angesetzte Grundmiete sei auch nicht erläutert worden. Eine Zurechnung etwaigen Verschuldens über § 1629 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) der Klägerin zu 1 zu Lasten des Klägers zu 3 scheide wegen Volljährigkeit aus.
Mit Urteil vom 21.09.2023 hat das SG der Klage stattgegeben. Eine Rücknahme und Erstattung nach §§ 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) scheide aus, da nach § 41a Abs. 3 SGB II eine endgültige Bewilligung vorgesehen sei und dies die speziellere Regelung darstelle.
Gegen das am 02.10.2023 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte am 29.10.2023 mit seiner Berufung. In der vorliegenden Konstellation der vorläufigen Bewilligung von Leistungen nach § 41a SGB II – im Anwendungsbereich der Sonderregelung des § 67 SGB II aufgrund der Corona-Pandemie – seien die §§ 45, 48, 50 SGB X bezüglich der rückwirkenden Aufhebung und Rückforderung auch nach Abschluss des Bewilligungszeitraumes anwendbar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21.09.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Für den weiteren Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten ist nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Die Bescheide des Beklagten vom 18.06.2021 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27.09.2021 und 28.09.2021 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten.
Eine Korrektur des Bescheids vom 12.11.2020 in der Fassung der Bescheide vom 21.11.2020, 07.10.2020, 04.12.2020 und 15.04.2021 konnte der Beklagte nicht auf §§ 45 ff. SGB X stützen (1.); § 67 SGB II führt nicht zu einer anderen Einschätzung (2.).
1.
Der Beklagte hatte Leistungen lediglich vorläufig nach § 41a SGB II bewilligt. In der Sache beurteilt sich somit die Rechtmäßigkeit der geänderten Leistungsbewilligung ausschließlich an den für die abschließende Entscheidung nach vorangegangener vorläufiger Bewilligung maßgebenden Vorschriften des § 41a Abs. 3 und 5 SGB II, für eine Anwendung von § 45 SGB X ist nach Ablauf des Bewilligungsabschnitts und damit mit Wirkung für die Vergangenheit insofern kein Raum (zur Vorgängerregelung in § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a SGB II a.F. i.V.m. § 328 Drittes Buch Sozialgesetzbuch [SGB III]: Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 29.04.2015, B 14 AS 31/14 R, juris, Rn. 17; Kemper, in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 41a Rn. 33; BeckOGK/Kallert, 3/2022, Rn. 131f.; Grote-Seifert, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II/, Stand 13.01.2023, Rn. 43; ebenso Fachliche Weisungen der BA zu § 41a, SGB II, Stand: 01.07.2023, Rn. 41a.21 zu Ziffer 3.3.2). Eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit kommt allein in Betracht, wenn dies zugunsten der leistungsberechtigten Person nach § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 bzw. nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X erfolgt (Kemper, a.a.O., Grote-Seifert a.a.O., Kallert, a.a.O., Rn. 133). Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, der eine Anwendung der §§ 45, 48 SGB X zu Ungunsten der leistungsberechtigten Person mit Wirkung für die Vergangenheit als nicht angezeigt sieht, da die vorläufige Entscheidung sich nicht im Wege der Aufhebung, sondern der abschließenden Entscheidung erledigt (BT-Drs. 18/8041, 53). Das Gesetz hält mit § 41a Abs. 6 SGB II ausdrücklich eine spezielle Regelung vor, um Überzahlungen „abzuschöpfen“, ohne auf den Grund der Überzahlung abzustellen, also unabhängig von dem Grund der anfänglichen Rechtswidrigkeit (Grote-Seifert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 41a [Stand: 05.04.2022], Rn. 43). Letztlich hat der Gesetzgeber auch mit § 41a Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II eine Spezialregelung vorgesehen, die es ermöglicht, eine endgültig gewordene vorläufige Entscheidung ohne dass es eines Antrags bedürfte, außerhalb der Jahresfrist zu korrigieren. Eine Korrektur erfolgt, wenn der Leistungsanspruch aus einem anderen als dem Grund der Vorläufigkeit nicht oder nur in geringerer Höhe als die vorläufigen Leistungen besteht und der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über den Leistungsanspruch innerhalb eines Jahres seit Kenntnis von diesen Tatsachen, spätestens aber nach Ablauf von zehn Jahren nach der Bekanntgabe der vorläufigen Entscheidung, abschließend entscheidet. Dieser Spezialregelung hätte es bei einer Anwendbarkeit von §§ 45, 48 SGB X nicht bedurft.
2.
An dieser Einschätzung vermag auch § 67 SGB II in der im streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Fassung (a.F.) nichts zu ändern. § 67 SGB II a.F. lautete wie folgt:
„§ 67 Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie; Verordnungsermächtigung
(1) Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. Juni 2020 beginnen, werden nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 erbracht.
(2) Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt. Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.
(3) § 22 Absatz 1 ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Nach Ablauf des Zeitraums nach Satz 1 ist § 22 Absatz 1 Satz 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass der Zeitraum nach Satz 1 nicht auf die in § 22 Absatz 1 Satz 3 genannte Frist anzurechnen ist. Satz 1 gilt nicht in den Fällen, in denen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt wurden.
(4) Sofern über die Leistungen nach § 41a Absatz 1 Satz 1 vorläufig zu entscheiden ist, ist über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abweichend von § 41 Absatz 3 Satz 1 und 2 für sechs Monate zu entscheiden. In den Fällen des Satzes 1 entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abweichend von § 41a Absatz 3 nur auf Antrag abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch.
(5) Für Leistungen nach diesem Buch, deren Bewilligungszeitraum in der Zeit vom 31. März 2020 bis vor dem 31. August 2020 endet, ist für deren Weiterbewilligung abweichend von § 37 kein erneuter Antrag erforderlich. Der zuletzt gestellte Antrag gilt insoweit einmalig für einen weiteren Bewilligungszeitraum fort. Die Leistungen werden unter Annahme unveränderter Verhältnisse für zwölf Monate weiterbewilligt. Soweit bereits die vorausgegangene Bewilligung nach § 41a vorläufig erfolgte, ergeht abweichend von Satz 3 auch die Weiterbewilligungsentscheidung nach § 41a aus demselben Grund für sechs Monate vorläufig. § 60 des Ersten Buches sowie die §§ 45, 48 und 50 des Zehnten Buches bleiben unberührt.
(6) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates den in Absatz 1 genannten Zeitraum längstens bis zum 31. Dezember 2020 zu verlängern.“
§ 67 Abs. 4 SGB II a.F. legte somit fest, dass eine abschließende Entscheidung nur auf Antrag der Betroffenen, nicht aber von Amts wegen zu erfolgen hatte. Damit entfällt nicht nur die Verpflichtung, sondern auch die Befugnis des Jobcenters, über den Leistungsanspruch von Amts wegen abschließend zu entscheiden (Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 67 1. Überarbeitung (Stand: 30.05.2022), Rn. 37). Einen solchen Antrag haben die Kläger nicht gestellt, so dass eine abschließende Entscheidung nicht in Betracht kam. Der vorläufige Bescheid, der Kosten der Unterkunft ohne die Berücksichtigung von B1 beinhaltete, wurde endgültig (§ 41a Abs. 5 SGB II). Zwar findet § 67 Abs. 4 in zeitlicher Hinsicht Anwendung, da der Bewilligungszeitraum vor dem 31.03.2021 begonnen hatte. Jedoch regelt die Vorschrift lediglich, dass eine endgültige Entscheidung nicht von Amts wegen erfolgen durfte. Weitere Regelungen sind dem Wortlaut des § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II nicht zu entnehmen.
Eine Regelung insbesondere dahingehend, dass auch die bislang weitgehend unbestrittene Systematik des § 41a SGB II (s.o.) geändert werden sollte, findet sich in den Gesetzgebungsmaterialien nicht, so dass, wie oben dargelegt, die Regelung zur abschließenden Entscheidung nach § 41a SGB II die Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X (Harich, in BeckOGK, 01.06.2021, SGB II § 67 Rn. 39) weiterhin verdrängt. Zwar scheint die Entlastung der Leistungsempfänger vor dem Risiko möglicher Erstattungsforderungen im Anschluss an eine vorläufige Entscheidung rechtlich nicht ganz unproblematisch, zumal damit das Vertrauen in eine vorläufige Regelung besser geschützt war, als in eine abschließende Bewilligung, bei deren Rechtswidrigkeit § 45 SGB X unstreitig zur Anwendung kam. Zweck der Regelung des § 67 Abs. 4 SGB II, der mehrfach verlängert wurde, war nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch eine möglichst schnelle und unbürokratische Leistungsbewilligung zu gewährleisten. Durch Satz 2 würden Leistungsberechtigte und Jobcenter von der normalerweise nach Ablauf des Bewilligungszeitraums durchzuführenden Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum entlastet werden. Dies gelte insbesondere auch dann, wenn sich die Einkommensverhältnisse besser als prognostiziert entwickelt hätten. Die betroffenen Leistungsberechtigten hätten damit die Sicherheit, für 6 Monate eine verlässliche Hilfe zum Lebensunterhalt zu erhalten. Habe sich die Einkommenslage im Bewilligungszeitraum hingegen schlechter als prognostiziert dargestellt, könnten die Leistungsberechtigten eine Prüfung und abschließende Entscheidung beantragen. In diesem Fall werde über den Leistungsanspruch nach Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum abschließend entschieden (BT-Drs. 19/18107, S. 26). Der Gesetzgeber hat damit in Kauf genommen, dass bei einer günstigen Entwicklung des Einkommens zu viel bezahlte Leistungen nicht zurückgefordert werden. Der Gesetzgeber hat jedoch auch bewusst geregelt, dass bei Leistungsberechtigten mit gleichbleibenden Einkommen, bei denen eine vorläufige Bewilligung nicht möglich war, bei unerwartet höherem Einkommen eine Korrektur über §§ 45, 48 SGB X hätte erfolgen können.
Insgesamt war Ziel der Regelung somit zum einen eine Verwaltungsvereinfachung. Dabei ging es, wie das SG zutreffend ausführt, von vorneherein nicht lediglich um die Vermeidung von Verwaltungsaufwand im Besonderen betreffend die Feststellung der Einkommensverhältnisse, sondern auch um die Vermeidung von Verwaltungsaufwand im Allgemeinen, der durch das Erfordernis der Prüfung, ob eine abschließende Entscheidung zu ergehen hat inklusive der dazu erforderlichen Ermittlungen von Amts wegen entsteht. Entsprechend ist in der Bundestagsdrucksache lediglich davon die Rede, dass die angestrebte Entlastung „insbesondere“ auch bei einer besseren Entwicklung der Einkommensverhältnisse als prognostiziert gelte bzw. eintrete. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber auf die Problematik der Rückabwicklung reagiert und § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II dahingehend geändert, eine Entscheidung von Amts wegen nur für Bewilligungszeiträume auszuschließen, die bis zum 31.03.2021 begonnen hatten. Dies geschah, da durch den Verzicht auf die abschließende Feststellung des Einkommens im Bewilligungszeitraum sich zahlreiche Rechtsfragen zur Anwendung der §§ 45, 48 SGB X ergeben hätten. Dies führe zu zusätzlichem Arbeitsaufwand der Jobcenter, der durch die Regelung eigentlich vermieden werden sollte (BT-Drs. 19/26542, S. 17). In diesem Sinne dürfte wohl auch auf einen Verweis auf § 41a Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 SGB II verzichtet worden sein, da auch eine Korrektur von Umständen, die aus anderen Gründen als denen, die zur vorläufigen Bewilligung führten, zu mehr Verwaltungsaufwand geführt hätte.
Daneben wollte der Gesetzgeber für die Dauer des „Pandemiezeitraums“ die Leistungsberechtigten in qualifizierter Weise schützen und ein „vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie“ – so die amtliche Überschrift der Norm – ohne weitere Einschränkungen schaffen (BSG, Urteil vom 14.12.2023 [veröffentlicht im April 2024], B 4 AS 4/23 R, juris, Rn. 26). So heißt es anderer Stelle, dass den Betroffenen „damit die Sorge vor einem Wegfall der oft noch immer nötigen Unterstützung genommen“ wird (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2023 [veröffentlicht im April 2024], B 4 AS 4/23 R, juris, unter Verweis auf die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 08.11.2021, BT-Drucks 20/15, S 36). Dieser vom BSG in seiner Entscheidung zu den Kosten der Unterkunft hervorgehobenen Zielsetzung des Gesetzgebers liefe es zuwider, durch eine erweiternde Auslegung des § 41a Abs. 2 SGB II i.V.m. § 67 SGB II, ohne Hinweise im Wortlaut, eine weitergehende Rückabwicklung der gewährten Leistungen zuzulassen.
Auch die seinerzeit geltende Durchschnittsberechnung zur Verteilung des Einkommens würde durch eine Anwendung der §§ 45, 48 SGB X unterlaufen, da bei deren Anwendung eine Berücksichtigung im jeweiligen Monat und gerade keine Durchschnittsberechnung zu erfolgen hat.
Soweit der 3. Senat des LSG Baden-Württemberg im Rahmen einer vorläufigen Bewilligung eine Anwendung von § 48 SGB X im Zusammenhang mit § 67 SGB II bejaht hat (Urteil vom 21.02.2024, L 3 AS 2081/23, juris), sieht der Senat hier keinen Widerspruch, da die Entscheidung des 3. Senats eine Konstellation betraf, in der nach § 67 Abs. 5 Satz 1 und 2 SGB II (a.F.) für die Weiterbewilligung abweichend von § 37 SGB II kein erneuter Antrag erforderlich war und der zuletzt gestellte Antrag insoweit einmalig für einen weiteren Bewilligungszeitraum fort galt. Vor diesem Hintergrund bestand, worauf der 3. Senat zu Recht hinweist, die Gefahr, dass das Jobcenter „sehenden Auges“ eine rechtswidrige Entscheidung zu treffen hatte.
Soweit in Rechtsprechung und Literatur den entstehungsgeschichtlichen Materialien (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks 19/18107, S 25 zu § 67 SGB II) teilweise entnommen wird, dass der Gesetzgeber während der Corona-Pandemie eine Schutz nur für die Regelungen im Bescheid gewollte hatte, die vom Grund der Vorläufigkeit umfasst waren (etwa LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.02.2024, L 3 AS 2081/23, juris; Groth in jurisPK-SGB II, § 67, Stand 30.05.2022, Rn. 43.1), hat sich ein solches Motiv im Normwortlaut des § 67 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht hinreichend niedergeschlagen. Eine Begrenzung hierauf findet sich nicht und wäre auch mit dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung kaum zu vereinbaren. Der Senat verkennt nicht, dass damit Anreize für Leistungsberechtigte bestehen konnten, durch falsche Angaben höhere Leistungen zu erhalten. Dies lässt sich angesichts der dies ermöglichenden gesetzlichen Regelungen, worauf das BSG bereits im Zusammenhang mit den Kosten der Unterkunft hingewiesen hatte (BSG, a.a.O.) allerdings nur nach Maßgabe des Rechtsmissbrauchsverbots verhindern.
Wie auch das BSG in seiner Entscheidung zu den Kosten der Unterkunft bei während der Pandemie neu angemieteten Wohnungen dargelegt hat (BSG, Urteil vom 14.12.2023 [veröffentlicht im April 2024], B 4 AS 4/23 R), gelten auch im Rahmen des § 41a Abs. 2 SGB II i.V.m. § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II die der Rechtsordnung innewohnenden allgemeinen Anspruchsbegrenzungen. Ein Ausschluss der Anwendung von §§ 45, 48 SGB X greift deshalb dann nicht, wenn ein Leistungsbezieher rechtsmissbräuchlich gehandelt hat. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]), der auch im öffentlichen Recht gilt (BSG, a.a.O. unter Verweis auf BSG, Urteile vom 02.11.2015, B 13 R 35/14 R und vom 17.12.2020, B 10 ÜG 1/19 beide juris), liegt Rechtsmissbrauch unter anderem vor, wenn jemand eine bloß formal bestehende Rechtsposition ohne schutzwürdiges Eigeninteresse ausnutzt (BSG, Urteil vom 14.12.2023 [veröffentlicht im April 2024], B 4 AS 4/23 R, juris). Dies kann im vorliegenden Kontext etwa dann der Fall sein, wenn vorsätzlich falsche Angaben gemacht wurden, um höhere Leistungen zu erhalten. Dafür, dass es sich im vorliegenden Fall so verhält, ergeben sich im vorliegenden Fall, in dem bereits die grobe Fahrlässigkeit fraglich sein könnte, keine Anhaltspunkte.
Vor diesem Hintergrund ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird im Hinblick auf das Verfahren B 7 AS 19/24 R zugelassen.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 2462/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 3040/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
Saved