L 2 R 2470/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 3040/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 2470/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juli 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die 1979 geborene Klägerin hat den Beruf der Apothekenhelferin erlernt und war seit längerem als Verkäuferin, dabei zeitweise versicherungspflichtig und immer wieder, so auch zuletzt, geringfügig, nicht versicherungspflichtig, beschäftigt. Seit Anfang Dezember 2018 ist sie arbeitsunfähig krank. Aktuell Iebt sie vom Einkommen ihres Ehemanns. Nach Auskunft der Beklagten sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig am 30.09.2019 erfüllt (vgl. Schreiben der Beklagten vom 27.02.2024 [Bl. 46 LSG-Akte] mit Verweis auf Wartezeitaufstellungen [Bl. 47 ff. und 49 ff. LSG-Akte] und den bereits zuvor vorgelegten Versicherungsverlauf [vgl. Schreiben der Beklagten vom 06.02.2024 plus Anlagen, Bl. 34 ff. LSG-Akte]).

Am 25.07.2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung führte sie u.a. aus, dass sie an den Folgen einer Brustkrebserkrankung im Jahr 2011 sowie an einer Depression und generalisierten Angststörung leide. Die Erwerbsminderung liege aus ihrer Sicht bereits seit März 2014 vor (Bl. 13 VA).

Die Beklagte zog daraufhin verschiedene medizinische Befundberichte bei (u.a. ein Bericht über einen stationären Aufenthalt im Gesundheitszentrum R1 gGmbH, Klinik S1, Station für Psychosomatische Medizin und Psychiatrie vom 20.09.2016 bis 02.11.2016 [Bl. 4 VA, med. Aktenteil] sowie einen Bericht über eine teilstationäre Behandlung vom 03.11.2016 bis 01.12.2016 im Zentrum für Psychische Gesundheit W1 [Bl. 10 VA, med. Aktenteil]) und lehnte danach den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 24.04.2020 (Bl. 87 VA) ab. Die Klägerin leide an einer behandelbaren akuten Depression und Angststörung mit zahlreichen offenen Therapieoptionen. Zudem bestehe ein Zustand nach (Z.n.) behandeltem Mammakarzinom. Die Einschränkungen, die sich aus diesen Krankheiten bzw. Behinderungen ergäben, führten nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die Klägerin könne noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Hiergegen erhob die Klägerin am 16.07.2020 Widerspruch (Bl. 90 VA). Sie trug u.a. vor, dieser sei ihr erst am 17.06.2020 zugestellt worden, da die Beklagte eine falsche Adresse von ihr gehabt habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2020 (Bl. 98 VA) wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Da eine (weitere) Begründung des Widerspruchs nicht erfolgt sei, sei eine Überprüfung nur nach der bekannten Sachlage möglich. Der Bescheid sei nicht zu beanstanden.
Am 27.11.2020 hat die Klägerin hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Mannheim erheben lassen und zur Begründung u.a. zunächst vorgetragen, dass die Erkrankungen und Leistungseinschränkungen der Klägerin nicht ausreichend gewürdigt worden seien und die Klägerin nicht begutachtet worden sei. Nach Akteneinsicht und mehrfacher Fristverlängerung ist mit Schreiben vom 30.06.2021 (Bl. 26 SG-Akte) ergänzend erklärt worden, dass die anhaltenden seelischen Störungen und depressiven Phasen im Verwaltungsverfahren nicht vollständig aufgeklärt worden seien. Mittlerweile habe sich der Zustand der Klägerin, was sämtliche Behinderungen und Erkrankungen angehe, wesentlich verschlimmert. Dies insbesondere auch deshalb, weil der Sohn der Klägerin Ende 2020 an Krebs erkrankt sei, was den aktuellen Krankheitszustand erheblich verstärkt habe.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt.

Die E1 hat am 08.09.2021 mitgeteilt, dass die Klägerin lediglich einmalig im Jahr 2019 bei ihr in Behandlung gewesen sei (Bl. 50 SG-Akte).

Die S2 hat am 23.09.2021 (Bl. 65 ff. SG-Akte) angegeben, dass das Leistungsvermögen der Klägerin stark eingeschränkt sei. Die Klägerin leide an einer Depression sowie Angststörung, was auch für die Beurteilung des Leistungsvermögens maßgeblich sei. Körperlich sei der Befund unauffällig. Es bestünde kein Hinweis auf ein Tumorrezidiv.

Die M1 hat am 29.09.2021 (Bl. 67 f. SG-Akte) der Klägerin eine mittelgradige depressive Störung attestiert. Die Leistungsfähigkeit könne sie nicht beurteilen. Dies müsse durch einen Arzt erfolgen.

Das SG hat sodann den N1 mit der Erstellung eines Gutachtens von Amts wegen beauftragt. Dieser hat die Klägerin am 29.04.2022 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 02.05.2022 (Bl. 85 ff. SG-Akte) folgende Diagnosen gestellt:
1. Angststörung, gemischt
2. Dysthymia
3. Gemischtes Kopfschmerzsyndrom
Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass sich im aktuellen psychiatrischen Untersuchungsbefund eine freundliche, offene und mitteilungsbereite Klägerin gezeigt habe, die ohne Zeichen mnestischer oder konzentrativer Defizite über ihren Werdegang und ihre Beschwerden berichtet habe. Die Auffassungsgabe und die geistige Spannkraft seien nicht beeinträchtigt, die Klägerin habe während der Untersuchung ruhig gewirkt und habe keine Zeichen einer vegetativen Anspannung, insbesondere auch keine Korrelate einer namhaften Angststörung erkennen lassen, ebenso wenig fänden sich Hinweise für eine Persönlichkeitsstörung, Zwangserkrankung oder eine Störung aus dem psychotischen Formenkreis. Die Stimmung sei leicht zum depressiv-dysthymen Pol hin verschoben, Hinweise für eine schwerergradige Depressivität, wie eine vitale Antriebs-, Freud- oder Interessereduktion, ließen sich in der hiesigen Untersuchung nicht feststellen. Die Schwingungsfähigkeit sei erhalten, die Auslenkung zum positiven Pol gelinge und die Beschwerdeschilderung erfolge durchaus lebhaft. Es bestehe ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem hier wenig beeinträchtigten psychiatrischen Untersuchungsbefund und dem als erheblich geschilderten Beschwerdebild, das streckenweise so ausgeprägt sei, dass die Klägerin kaum in der Lage sei, das Haus zu verlassen, so dass auch selbstlimitierende Tendenzen anzunehmen seien. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hinzuweisen, dass eine Diskrepanz zwischen der berichteten Beschwerdeintensität und der doch eher geringen Inanspruchnahme potenziell therapeutischer Möglichkeiten bestehe. So werde offenbar bereits seit 2019 keine antidepressiv medikamentöse Behandlung mehr durchgeführt, und auch eine fachärztlich psychiatrische oder neurologische Behandlung finde nicht statt. Es sei offenbar auch zumindest seit 2016 nicht mehr die Notwendigkeit einer stationär psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme gesehen worden. Diagnostisch sei von einem chronisch depressiven Syndrom im Sinne einer Dysthymia auszugehen, wobei die aktenkundig genannte Diagnose einer rezidivierend depressiven Störung angesichts der Tatsache, dass sich zumindest in den letzten Jahren keine isoliert abgrenzbaren depressiven Phasen mehr herausarbeiten ließen, nicht mehr sicher zu stellen sei.
Die Klägerin habe ihm gegenüber berichtet, dass sie zuletzt im Einzelhandel gearbeitet habe, zum Schluss geringfügig mit etwa 50 Monatsstunden, meist sei sie jedoch nur auf 30 Stunden gekommen. Sie habe mit der Zeit gemerkt, dass ihre Leistungsfähigkeit abgenommen habe, sie habe sich mehr verzettelt, habe es auch körperlich schlechter geschafft, und die Konzentrationsfähigkeit und das allgemeine Arbeitstempo hätten nachgelassen. Sie leide unter Kopfschmerzen, die sie sehr beeinträchtigten. Sie müsse fast täglich Schmerzmittel nehmen. Sie leide massiv unter Panikattacken, schon wenn das Telefon klingle, habe sie oft Herzrasen, Atemprobleme, ein Kloßgefühl im Hals und Druckgefühle in der Brust. Sie habe Angst, dass ihren Kindern, ihrem Mann oder der Familie etwas zugestoßen sei. Ihr werde dann oft schwindelig, und sie brauche einige Minuten, um sich zu beruhigen, selbst wenn alles in Ordnung sei. Diese Panikattacken würden sich durch den ganzen Tag ziehen, selbst Termine - wie beispielsweise einen Arzttermin zu vereinbaren - fielen ihr schwer. Oft könne sie das Haus nicht verlassen, müsse entsprechende Termine absagen, weil es ihr nicht möglich sei, rauszugehen. Derartige Angst- und Panikgefühle würden auch auftreten, wenn sie körperliche und äußerliche Veränderungen zu bewältigen habe, diese Ängste würden sich dann bis zu Todesangst und Sterbeszenarien steigern. Diese Gefühle habe sie auch, wenn scheinbar oder tatsächlich etwas bei ihren Kindern oder bei der Familie nicht stimme. Ständig habe sie Angst, ihre Familienangehörigen zu verlieren, außerdem empfinde sie es immer so, als sei es ihr Verschulden, wenn etwas passiere, ohne dass sie es hätte verhindern können. Sie habe diese Ängste immer schon gehabt, auch als Kind und Teenager, es werde jedoch immer schlimmer. Ab einem gewissen Punkt sei es dann so schlimm, dass sie sogar in Resignation und totale Erschöpfung falle, sie könne sich dann kaum noch aufraffen und habe Probleme, den Tag zu strukturieren. Letztes Jahr sei es ihr noch möglich gewesen, spontan z. B. mit dem Hund längere Wanderungen zu machen und so einfach für kürzere Zeit etwas auszublenden, dies gehe jedoch nicht mehr. Sie komme schnell körperlich an ihre Grenzen und habe sich oft überfordert. Sie empfinde sich als nutzlos und habe dies versucht zu kompensieren, aber dies funktioniere seit Ende letzten Jahres nicht mehr. Sie könne den Alltag ohne ständige Hilfe nicht führen, die Einkäufe müsse ihr Mann nach der Arbeit erledigen und übernehmen. Auch im Haushalt, z. B. beim Wäschemachen oder Putzen, brauche sie eigentlich tägliche Unterstützung, z. B. von Familienangehörigen oder Freunden.
Damit werde sie aus dem Bett gezwungen. Tagsüber sei sie oft sehr müde, habe jedoch aufgrund ihres älteren Sohnes, der nach seiner Krebsbehandlung zurzeit zu Hause sei, auch tagsüber keine Ruhephasen. Sie fühle sich permanent erschöpft. Auto fahren könne sie ohne Probleme immer weniger. Feste Termine würden sie so unter Druck setzen, dass es gar nicht mehr gehe. Sie habe auch spontane Durchfälle und starke Übelkeit, keinen Antrieb, müsse sich wahnsinnig motivieren, um überhaupt z. B. morgens duschen zu gehen. Es sei ihr aufgrund der Symptome und der Verschlechterung nicht einmal möglich gewesen, regelmäßig die Therapie zu besuchen, die auch aufgrund der Krebserkrankung ihres Sohnes, mit dem sie monatelang stationär im Krankenhaus gewesen sei, länger unterbrochen werden musste. Sie leide auch sehr unter den Sorgen, was ihren Sohn betreffe, dessen Erkrankung sei noch nicht vollständig zurückgegangen, und es gebe einen Restbefund. Sie lebe deswegen in ständiger Angst und Anspannung. Das sei noch schlimmer geworden, nachdem sie erfahren habe, dass ihr Mann Verdacht auf Darmkrebs habe, dies werde in den nächsten Wochen abgeklärt. Sie fühle sich total am Ende, sie könne nicht einmal mehrere Stunden aus dem Haus sein, das halte sie nicht mehr aus, sie fühle sich einfach nur hilflos. Gebeten, einen exemplarischen Tagesablauf zu beschreiben, habe die Klägerin ausgeführt, dass sie üblicherweise gegen 6.00 Uhr morgens zusammen mit ihrem Ehemann und dem jüngeren Sohn aufstünde. Ihr Mann sei Maler, angestellt bei der Stadt W1, der jüngere Sohn mache eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Ihr älterer, achtzehneinhalb Jahre alter Sohn werde im September eine Lehre zum Elektriker beginnen, zurzeit sei er noch zu Hause. Man lebe in einem gemieteten Haus in W1. Sie mache dann das Frühstück für ihren Sohn fertig und versuche dann irgendwie durch den Tag zu kommen. Oft schlafe sie im Wohnzimmer ein, da sie Angst habe, sich hinzulegen. Sie versuche, etwas mit ihrem kleinen Hund spazieren zu gehen und leichte Hausarbeiten zu machen, meist habe sie jedoch Hilfe von ihrer Mutter, Freundinnen oder den Familienangehörigen. Die Einkäufe würde meistens der Ehemann mitbringen. Mit dem Autofahren sei es schwierig, kürzere Strecken würden jedoch gehen. Sie sei zuletzt im Juni 2019 verreist. Früher sei sie gerne mit den Nordic Walking Stöcken spazieren gegangen, momentan puzzle sie ab und zu und höre dabei ein Hörbuch. Sie habe wenig soziale Kontakte, aber eine gute Freundin, die sie ab und zu treffe.
Nach alledem ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass aufgrund des anhaltend affektiv-ängstlichen Beschwerdebildes Arbeiten mit erhöhten Ansprüchen an die geistige und psychische Belastbarkeit, die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sowie geistige Flexibilität vorerst zu vermeiden seien, zudem seien Arbeiten im Schicht- und Nachtdienst sowie unter Akkordbedingungen ungeeignet. Die Wegefähigkeit sei nicht beeinträchtigt. Die Klägerin sei in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen und durchschnittliche Fußwegstrecken von etwa 500 Metern Länge viermal täglich in etwa jeweils zwanzig Minuten zurückzulegen. Die Klägerin sei in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig, d. h. acht Stunden täglich, erwerbstätig zu sein.

Das SG hat weiter auf Antrag der Klägerin ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei der H1 eingeholt. Diese hat die Klägerin am 03.02.2023 ambulant untersucht und in ihrem Gutachten vom 26.04.2023 (Bl. 139 ff. SG-Akte) folgende Diagnosen gestellt:
1. Mittelgradig depressive Episode
2. gesichert generalisierte Angststörung
3. Selbstunsichere Persönlichkeitszüge
4. V. a. anhaltende Belastungsreaktion bei wiederholten und schweren familiären Belastungssituationen
5. Essstörung (Binge-Eating), gesichert
6. Somatisierungsstörung (Kopfschmerz)
7. Alkoholgebrauch, Schmerzmittelgebrauch, problematisches Konsumverhalten
8. Karpaltunnelsyndrom bds.,
9. Gesichert neu: Hypothyreose Leukopenie
10. Fachfremd: Z.n. Mamma-CA mit bds. Brustamputation: ästhetisch unbefriedigendes OP-Ergebnis (deutliche Größendifferenz der Brüste, kein Brustwarzenaufbau), Z.n. Infekten der Brust; Defektheilung nach Gewebeentnahme am Gesäßbereich, narbige Heilung an Bauchdecke. Die Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass insgesamt eine komplexe psychische Symptomatik mit schweren Einschränkungen bestehe. Feststellbar seien hier eine selbstunsichere Persönlichkeitsakzentuierung und Angststörung, Panikattacken, reduziertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Kontrollverhalten und dysfunktionale „Kompensationsstrategien" (Essen, Kaufen, Alkohol) und Vermeidung. Es bestehe eine aktuell mittelgradig depressive Verstimmung mit Gedankenkreisen, katastrophisierende Gedanken, Schuldgefühlen, Rückzug, Somatisierung. Die Störungen würden durch anhaftende (realistische) familiäre erhebliche Belastungen und eigene gesundheitliche Probleme unterhalten und verstärkt bzw. verstärken sich selbst. Die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit seien erheblich reduziert, schon geringe Anforderungen führten zu Überlastung und Ängsten mit erneutem dysfunktionalem Verhalten und anschließenden Schuldgefühlen. Dadurch entstehe ein Teufelskreis aus weiter reduziertem Selbstwertgefühl, zunehmenden Ängsten, abnehmender Belastbarkeit. Die psychischen und körperlichen Ressourcen seien deutlich reduziert.
Die vorwiegenden Einschränkungen lägen im psychischen Bereich. Es sei aktuell davon auszugehen, dass durch die Schwere der psychischen Erkrankung das Leistungsvermögen erheblich reduziert sei. Dauerhaft nicht möglich seien Tätigkeiten an gefährdenden Maschinen, Akkord- oder Schichtarbeit, Tätigkeiten mit besonderer Verantwortung und geistiger Beanspruchung, Tätigkeiten, die Konzentrationsleistung oder hohes Arbeitstempo erfordern. Akkordarbeit oder Schichtarbeit sei ebenfalls nicht möglich genauso wie Tätigkeiten, die Anforderungen an die Flexibilität und Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit erforderten.
Des Weiteren seien Einschränkungen bezüglich der Brust zu beachten. Sollte dies von Relevanz sein, müsse eine gesonderte Einschätzung durch einen Facharzt erfolgen. Nach Erkenntnissen aus ähnlich gelagerten Fällen seien aber Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen und hoher Beanspruchung durch die Arme zu vermeiden. Tätigkeiten mit dem Risiko von Schlägen oder Traumata im Brustbereich seien ebenfalls zu vermeiden. Durch das Karpaltunnelsydrom seien dauerhaft Tätigkeiten mit hoher Belastung der Handgelenke (Montage, festes Halten oder Greifen) zu vermeiden.
Aktuell bestehe ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich für vollschichtige Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit leichter körperlicher Arbeit. Es sei jedoch die Überprüfung nach zwei Jahren sinnvoll, da die reine Gewährung einer Rente am Gesundheitszustand und Leistungsbild der Probandin nichts ändern werde. Die Umsetzung der Therapiemaßnahmen sei zumutbar, möglich und im Rahmen der Mitwirkungspflicht verpflichtend einzufordern. Die geschilderte Leistungsminderung bestehe hilfsweise seit Antragstellung. Es handele sich nicht um einen Dauerzustand. Es sei davon auszugehen, dass der Gesundheitszustand wieder gebessert werden könne bzw. die Leistungsfähigkeit wieder gesteigert werden könne.

Nachdem die Beklagte mit einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 11.05.2023 (Bl. 184 SG-Akte) dieser Einschätzung entgegengetreten ist, hat das SG zunächst eine ergänzende Stellungnahme bei N1 eingeholt. Dieser hat am 25.05.2023 (Bl. 185 ff. SG-Akte) ausgeführt, dass er die Kritik an seinem Gutachten durch die H1 hinsichtlich der von ihm durchgeführten Tests nicht nachvollziehen könne. Es bestehe vielmehr die Notwendigkeit, die sich auch in den psychiatrisch-gutachterlichen Leitlinien wiederfinde, eine ausführliche Beschwerdevalidierung durchzuführen. Den körperlichen Befund und die geklagten Beschwerden habe er entgegen der Ausführungen der Sachverständigen erhoben. Nicht zuletzt vermisse er in dem nun vorgelegten Gutachten die Auseinandersetzung mit der offensichtlichen Diskrepanz zwischen der Beschwerdeintensität und der doch eher geringen Inanspruchnahme potenziell therapeutischer Möglichkeiten. Insgesamt habe er den Eindruck, dass die Gutachterin sich vorrangig von den Angaben der Klägerin leiten lasse, ohne diese einer kritischen Evaluation und Prüfung zu unterziehen. Das Gutachten sei letztlich hinsichtlich der Leistungsbeurteilung aus seiner Sicht nicht plausibel.

Das SG hat im Anschluss diese ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen H1 ebenfalls zur ergänzenden Stellungnahme vorgelegt. Diese hat am 06.07.2023 hierzu ausgeführt (Bl. 204 f. SG-Akte), dass sie vier Tests zur Anstrengungsbereitschaft und nur zwei Tests zur Überprüfung der angegebenen Beschwerden nach wie vor für unverhältnismäßig halte. Eine Beschwerdevalidierung könne und müsse vielmehr auch außerhalb von Tests erfolgen. Diese Tests seien auch kritisch zu hinterfragen und die Aussagen der Tests seien unzuverlässig. Bei der Klägerin liege darüber hinaus mit dem Zustand nach einem entstellenden OP-Ergebnis ein solch massiver körperlicher Befund vor, dass dieser auch im Hinblick auf das psychische Befinden berücksichtigt werden und somit auch in die Beurteilung des quantitativen Leistungsvermögens einfließen müsse. Dass aktuell keine leitliniengerechte Therapie der psychiatrischen Erkrankung stattfinde, habe sie in ihrem Gutachten diskutiert.

Das SG hat die Klage mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung am 26.07.2023 (Bl. 207 ff. SG-Akte) abgewiesen. Die näher dargelegten Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Ein Absinken ihrer beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als sechs Stunden täglich lasse sich nicht belegen. Dies ergebe sich zur Überzeugung der Kammer aus dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen, insbesondere dem Sachverständigengutachten von N1. Nicht zu überzeugen vermöge dahingehend die sachverständige Zeugenaussage von S2 sowie das Sachverständigengutachten der Ärztin H1. Die Klägerin sei ohne unmittelbare Gefährdung ihrer Gesundheit noch in der Lage, mittelschwere körperliche Arbeiten ohne Akkord- oder Fließbandtätigkeiten durchzuführen. Aufgrund des anhaltend affektiv-ängstlichen Beschwerdebildes seien Arbeiten mit erhöhten Ansprüchen an die geistige und psychische Belastbarkeit, die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sowie geistige Flexibilität vorerst zu vermeiden, zudem seien Arbeiten im Schicht- und Nachtdienst nicht mehr Ieidensgerecht. Einschränkungen der Wegefähigkeit seien nicht gegeben. Die Klägerin könne 500 Meter viermal täglich in jeweils 20 Minuten zurücklegen und sie könne öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit benutzen.
Aufgrund der auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet vorhandenen Erkrankungen ergäben sich keine Einschränkung im rentenrechtlichen Ausmaß. Das Gericht folge insoweit dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten von N1. Von der Richtigkeit und Vollständigkeit der durch den Sachverständigen gestellten Diagnosen und der darauf gestützten Leistungsbeurteilung sei die Kammer überzeugt. Die gegenteilige Ausführung der behandelnden S2 überzeuge nicht. Im psychiatrischen Untersuchungsbefund von N1 werde die Klägerin als freundliche, offene und mittelungsbereite Person beschrieben. Ihre Auffassungsgabe und die geistige Spannkraft seien nicht beeinträchtigt. Während der Untersuchung sei die Klägerin ruhig gewesen und habe keine Anzeichen einer vegetativen Anspannung gezeigt, woraus sich insbesondere keine Korrelate einer namenhaften Angststörung feststellen ließen. Die Stimmung sei zwar leicht zum depressiv-dysthymen Pol hin verschoben, Hinweise für eine schwerergradige Depressivität, wie eine vitale Antriebs-, Freud- oder Interessereduktion, hätten sich in der Untersuchung des Sachverständigen N1 nicht feststellen lassen. Es bestehe ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem bei N1 wenig beeinträchtigten psychiatrischen Untersuchungsbefund und dem als erheblich geschilderten Beschwerdebild, so dass auch selbstlimitierende Tendenzen anzunehmen seien. Auffallend sei auch die Diskrepanz zwischen der berichteten Beschwerdeintensität und der doch eher geringen Inanspruchnahme potenziell therapeutischer Möglichkeiten. So werde offenbar bereits seit 2019 keine antidepressiv medikamentöse Behandlung mehr durchgeführt, und auch eine fachärztlich psychiatrische oder neurologische Behandlung finde nicht statt. Seit 2016 habe auch keine stationär psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme stattgefunden.
Das Sachverständigengutachten der H1 vermöge dagegen nicht zu überzeugen. Selbst wenn man der in deren Gutachten beschriebenen Leistungseinschränkung folgen würde, würde dies allerdings nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit führen. Somit könne eine Auseinandersetzung unterbleiben, denn beide Sachverständige gingen übereinstimmend davon aus, dass weder eine Ieitliniengerechte antidepressive medikamentös-anxiolytische Therapie noch eine Psychotherapie durchgeführt werde, obwohl dies der Klägerin zumutbar sei. Ein entsprechend hoher Leidensdruck der Klägerin könne daraus wohl nicht abgeleitet werden. Solange zumutbare Behandlungsmöglichkeiten auf psychischem bzw. psychiatrischem Gebiet noch nicht versucht bzw. noch nicht ausgeschöpft worden seien und noch ein entsprechend erfolgversprechendes Behandlungspotential bestehe, könne nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], welcher sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließe, eine dauerhafte quantitative Leistungsminderung nicht auf diese psychische Erkrankung gestützt werden (vgl. BSG, Urteil vom 12.09.1990 - 5 RJ 88/89 - und Urteil vom 29.03.2006 - B 13 RJ 31/05 R jeweils veröffentlicht bei juris).
Somit sei die Klägerin nach alldem nicht erwerbsgemindert, zumal auch die Zusammenschau der einzelnen Gesundheitsstörungen kein Leistungsvermögen von täglich weniger als sechs Stunden begründe. Auch sei zur Überzeugung der Kammer der Arbeitsmarkt der Klägerin nicht verschlossen.

Gegen das ihrem Bevollmächtigten gegen elektronisches Empfangsbekenntnis am 02.08.2023 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 25.08.2023 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erheben lassen. Zur Begründung ist vorgetragen worden (vgl. Bl. 43 ff. LSG-Akte), dass nach Auffassung der Klägerin dem Gutachten der H1 zu folgen sei, die von einem reduzierten quantitativen Leistungsvermögen ausgegangen sei. Soweit das SG weiter die Auffassung vertrete, dass auch deshalb kein Anspruch auf die begehrte Rente bestehe, weil die angegebenen Einschränkungen der Klägerin nicht zu den in Anspruch genommenen Behandlungsmöglichkeiten passten, gehe auch diese Auffassung fehl. Hierbei sei auch zu beachten, dass das LSG Baden-Württemberg an seiner Rechtsprechung nicht mehr festhalte, dass psychiatrische bzw. psychosomatische Krankheitsbilder in aller Regel eine Berentung erst dann rechtfertigten, wenn die leitliniengerechte Behandlung erfolglos ausgeschöpft worden sei (vgl. Urteil vom 01.07.2020 - L 5 R 1265/18 -). Die Frage der Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung sei vielmehr für die Frage, ob eine quantitative Leistungsreduzierung tatsächliche vorliege, eben nicht heranzuziehen. Sie sei nur für die Befristung und Dauer einer Rente von Bedeutung. Eine etwaig unterbliebene Behandlung führe daher nicht zu einem materiell-rechtlichen Ausschluss des Rentenanspruchs.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juli 2023 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte tritt dem Begehren der Klägerin entgegen und weist darauf hin, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen längstens bis zum 30.09.2019 erfüllt seien.

Der Senat hat mit den Beteiligten am 07.05.2024 einen Termin zur Erörterung des Sachverhaltes durchgeführt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Mit Schreiben vom 24.07.2024 (Bl. 63 ff. LSG-Akte) hat der Bevollmächtigte der Klägerin nochmals darauf hingewiesen, dass man davon ausgehe, dass der Leistungsfall hier vorliegend vor dem 30.09.2019 eingetreten sei. Dies ergebe sich auch eindeutig aus der Formulierung der Sachverständigen H1, die hierzu ausgeführt habe, dass ”die geschilderte Leistungsminderung […]  hilfsweise seit Antragstellung" bestehe (vgl. Seite 31 des Gutachtens). Die Formulierung sei insoweit eindeutig und unmissverständlich. Sollte das Gericht dieser Einschätzung nicht folgen, so rege man an, die Sachverständige hierzu nochmals zu hören.

Der Senat hat daraufhin die H1 um eine ergänzende Stellungnahme gebeten. Diese hat hierauf mit Schreiben vom 12.08.2024 (Bl. 67 f. LSG-Akte) ausgeführt, dass bei der Klägerin ein chronischer Krankheitszustand mit körperlichen und psychischen Beschwerden bestehe. 2018 sei es neben vielen anderen Problemen zu Komplikationen nach einer Operation bei Mamma-CA mit beidseitiger Mastektomie gekommen. Es habe sich eine schwere Infektion entwickelt, Folge seien entstellende Narben, ein Brustwarzenaufbau sei deshalb bisher nicht möglich. In der Folge der Krebserkrankung sei es auch zu Depressionen und Ängsten gekommen, eine Behandlung habe ab 2015 durchgehend stattgefunden (stationär und ambulant). Es handele sich um einen langen, vielschichtigen Krankheitsprozess, der sich Ende 2018 verschlechtert habe, daher habe auch ab November 2018 Arbeitsunfähigkeit bestanden. Der Antrag auf Minderung der Erwerbsfähigkeit sei dann etwa sieben Monate später gestellt worden. Es sei anhand der Unterlagen und der Erhebungen im Gutachten daher sicher festzustellen, dass bereits zum 25.07.2019, dem Tag der Antragstellung, das festgestellte reduzierte Leistungsvermögen bestanden habe.

Die Beklagte hat hierzu mit Schreiben vom 25.09.2024 (Bl. 71 ff. LSG-Akte) Stellung genommen und u.a. ausgeführt, dass die Sachverständige ausgeführt habe, dass die Klägerin sich wegen Depressionen und Ängsten seit 2015 durchgehend in stationärer und ambulanter Behandlung befunden habe. Diese Ausführungen seien jedoch nach erneuter dezidierter Aktenanalyse nicht korrekt. Von 09/2016 bis 11/2016 habe eine stationäre Behandlung wegen einer schwergradigen Depression stattgefunden. Die Entlassung sei in deutlich gebessertem Zustand mit Verordnung von Venlafaxin und Dipiperon erfolgt. Auch in der sich daran anschließenden teilstationären Behandlung sei eine weitere Befundverbesserung erreicht worden unter isolierter Weiterverordnung von Venlafaxin. Nach vorliegenden Auskünften der Krankenkasse endeten damit stationäre und teilstationäre Behandlungen der Klägerin auf psychiatrischer Fachebene. Danach sei eine einmalige Vorstellung bei E1 am 22.11.2019 aktenkundig. Bei der ärztlichen Psychologischen Psychotherapeutin seien im Zeitraum vom 31.01.2020 bis zum 20.07.2020 dann insgesamt 11 Sitzungen absolviert worden. Am 23.09.2021 sei dort eine nochmalige isolierte Konsultation erfolgt. Eine mögliche Fortsetzung der antidepressiven Medikation auf hausärztlicher Ebene sei auch nicht dokumentiert. Auf die bestehende Diskrepanz zwischen der berichteten Beschwerdeintensität und der doch eher geringen Inanspruchnahme potenziell therapeutischer Möglichkeiten habe bereits schon N1 hingewiesen. Die Analyse der verordneten Medikamente zeige nach Aktenlage keine konsequente Weiterführung der in der Klinik in 2016 begonnenen antidepressiven Therapieführung über Jahre, wobei der Fokus besonders ab 2019 bis jetzt zu setzen sei, da die § 109er Gutachterin 07/2019 als Leistungsfall terminiere. Man stimme mit der Gutachterin überein, dass die Erstdiagnose eines Mamma-Ca rechts in 2011 und Mastektomie beidseits mit kosmetisch unzufriedenem Wiederaufbauergebnis zu einem einschneidenden Erlebnis geführt habe. Zusätzlich dürften die Folgen von lokalen Infektionen in den Operationsbereichen mit zeitlich begrenzten, auch möglichen starken Schmerzbeeinträchtigungen assoziiert gewesen sein, was zu den klägerseitigen Äußerungen geführt haben könnte, dass sie zeitweilig nicht in der Lage gewesen sei, das Haus zu verlassen. Diese menschlich verständliche Reaktion sei jedoch mit einer überdauernden sozialmedizinisch bedeutsamen Leistungslimitation nicht synonym zu setzen. Unerwähnt sei durch die Sachverständige aktuell auch, dass nach 2011 die Klägerin aus onkologischer Sicht rezidivfrei sei, was prinzipiell als positives Moment der Leidensentwicklung angesehen werden könne. Rentenrelevanz besäßen nur definitiv überdauernde Einschränkungen, die trotz konsequenter Realisierung offener Behandlungsmöglichkeiten zu keiner nachhaltigen Besserung führten. In der Gesamtschau dürfe hier nach erneutem Studium der Aussagen der H1 festgestellt werden, dass sie eine sehr hohe Empfindsamkeit gegenüber den Beschwerdeschilderungen der Klägerin aufgebracht habe und dies zur entsprechenden sozialmedizinischen Bewertung entgegen derer von N1 beigetragen haben dürfte, ohne die Fachkompetenz der Gutachterin selbst in Frage stellen zu wollen. Somit könne aus sozialmedizinischer Sicht hier keine Korrektur der bisherigen Leistungsbewertung der Klägerin auf Grundlage des schlüssigen Gutachtens von N1 vom 29.04.2022 resultieren. Ergänzend sei der Hinweis gestattet, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig in 09/2019 als erfüllt betrachtet werden dürften.

Die Klägerin und die Beklagte haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Schreiben vom 08.11.2024, Bl. 76 LSG-Akte, bzw. Schreiben vom 04.10.2024, Bl. 74 LSG-Akte) erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten, der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Beklagten über den Kläger verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden konnte, ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 SGG).
Die Berufung ist unbegründet. Das angefochtene Urteil des SG Mannheim vom 26.07.2023 sowie der Bescheid der Beklagten vom 24.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2020 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Zumindest bis zum letztmöglichen Eintritt eines Leistungsfalles der Erwerbsminderung am 30.09.2019 hat die Klägerin nicht nachweisen können, dass eine rentenrelevante Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit eingetreten ist.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier von der Klägerin beanspruchten Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch [SGB VI]) dargelegt und zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller (wie von der Klägerin im gerichtlichen Verfahren allein beantragt) nicht besteht, weil die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig ist. Der Senat schließt sich dem nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück.

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Berufungsverfahren.
Vielmehr spricht auch nach Überzeugung des Senats vieles dafür, dass das Leistungsvermögen der Klägerin nicht rentenrelevant reduziert ist. Der Senat folgt hierbei - wie auch schon das SG - der Leistungseinschätzung im Gutachten von N1, der von einem mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen für zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeht. Bei der Klägerin stehen Gesundheitsstörungen auf neurologisch-/psychiatrischem Fachgebiet im Vordergrund, die qualitative Einschränkungen dahingehend bedingen, dass Arbeiten mit erhöhten Ansprüchen an die geistige und psychische Belastbarkeit, die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sowie geistige Flexibilität ebenso wie Arbeiten im Schicht- und Nachtdienst sowie unter Akkordbedingungen ungeeignet sind. Eine quantitative Leistungseinschränkung lässt sich aus den Erkrankungen gerade nicht ableiten. Die Ausführungen von N1 sind schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Der Gutachter hat den Krankheitsverlauf unter Auswertung der vorliegenden Befundunterlagen ausführlich geschildert, ist den Beschwerden nachgegangen und hat die Klägerin sorgfältig und umfassend untersucht. Er hat eine ausführliche Anamnese erhoben, hat die Klägerin umfassend zu ihren Beschwerden, ihrer Biographie und Krankheitsgeschichte, dem Tagesablauf und zur aktuellen Therapie befragt und einen umfassenden psychiatrischen sowie neurologischen Befund erhoben. Darüber hinaus sind neuropsychologische Zusatzuntersuchungen (EEG, Elektroneurographie) und testpsychologische Untersuchungen (Beschwerdevalidierungstest, Rey-Memory-Test [RMT], Test zur Überprüfung der Gedächtnisfähigkeit im Alltag [TÜGA], TÜGA-M, Test of Memory Malingering [TOMM], Hamilton-Depressions-Skala [HDS], Strukturierter Fragebogen Simulierter Symptome [SFSS], Freiburger Persönlichkeitsinventar [FPI-R]) durchgeführt worden. Der Senat hat keinen Anlass, an der Vollständigkeit der erhobenen Befunde, der ausführlichen Darstellung der Krankheitsgeschichte und des Tagesablaufs der Klägerin sowie an der Richtigkeit der daraus gefolgerten Leistungsbeurteilung von N1 zu zweifeln.

Das Gutachten der H1 führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Senat hat bereits erhebliche Zweifel an der von der Sachverständigen vorgenommenen Leistungseinschätzung, wonach das zeitliche Leistungsvermögen auf unter drei Stunden herabgesunken sei, denn auffällig ist hierbei, dass die Gutachterin sich bei ihrer Leistungseinschätzung wesentlich auf die subjektiven Angaben der Klägerin gestützt hat. Entscheidend für die erwerbsminderungsrechtlich relevante Leistungseinschätzung sind aber nicht das Benennen und Aufzählen von geklagten Beschwerden. Es kommt ausschließlich der Frage entscheidende Bedeutung zu, inwieweit in der Zusammenschau von Anamnese, klinischen Befunden und Aktenlage die geklagten Beschwerden und Beeinträchtigungen plausibel sind, d.h. im Rahmen von Gutachten müssen bei der Exploration geäußerte subjektive Beschwerden immer durch eine Konsistenzprüfung validiert werden (LSG Thüringen, Urteil vom 24.04.2012 - L 6 R 1227/11 - NZS 2012, 865; Sächsisches LSG, Beschluss vom 11.12.2017 - L 5 R 20/16 - juris, Rn. 48).

Letztlich kann der Senat aber offenlassen, ob inzwischen eine rentenrelevante Minderung des Leistungsvermögens eingetreten ist. Denn ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung besteht selbst dann nicht, wenn man dem Gutachten der H1 hinsichtlich der Einschätzung des Leistungsvermögens folgen würde, da die notwendigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente im Sinne des § 43 SGB VI, d.h. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung die Belegung von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit, sind bei der Klägerin längstens bis 30.09.2019 erfüllt gewesen (vgl. Schreiben der Beklagten vom 27.02.2024 [Bl. 46 LSG-Akte] mit Verweis auf Wartezeitaufstellungen [Bl. 47 ff. und 49 ff. LSG-Akte] und den bereits zuvor vorgelegten Versicherungsverlauf [vgl. Schreiben der Beklagten vom 06.02.2024 plus Anlagen, Bl. 34 ff. LSG-Akte]). Weitere rentenrechtliche Zeiten sind von der Klägerin weder vorgetragen worden noch sind diese ersichtlich. Auch bestreitet die Klägerin die von der Beklagten getroffenen Feststellungen zur den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auch nicht. Den Eintritt des Versicherungsfalles, d.h. dass spätestens bis zu diesem Zeitpunkt eine quantitative Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist, hat die Klägerin aber nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Für anspruchsbegründende Tatsachen, wie hier, trägt sie die objektive Darlegungs- und Beweislast (vgl. (Bayerisches LSG, Beschluss vom 17.01.12016 - L 19 R 968/12 -, juris Rn. 54 - 62). Ein solcher Nachweis ist ihr zur Überzeugung des Senats nicht geglückt.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Sachverständige H1 in ihrem ursprünglichen Gutachten vom 26.04.2023, dem eine ambulante Untersuchung am 03.02.2023 zugrunde gelegen hat, an mehreren Stellen ausdrücklich auf die „aktuelle“, d.h. zum Zeitpunkt der Begutachtung bestehende gesundheitliche Situation der Klägerin Bezug genommen und hierbei u.a. festgehalten hat, dass „aktuell davon auszugehen“ ist, „dass durch die Schwere der psychischen Erkrankungen das Leistungsvermögen erheblich reduziert“ sei. Weiter hat die Sachverständige erklärt, dass „aktuell“ ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden bestehe. Bei der Frage zum Beginn einer ggf. festgestellten Leistungsminderung ist dann auch nur angegeben worden, dass diese „hilfsweise seit Antragstellung“ anzunehmen sei. Hieraus lässt sich aber nur eine vage, nicht sicher festgestellte Einschätzung ableiten, aufgrund derer sich gerade nicht der Nachweis des Eintritts des Versicherungsfalles bis zum 30.09.2019 führen lässt.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus der nun vorliegenden ergänzenden Stellungnahme der H1, in der die Sachverständige nun (eindeutig) davon ausgegangen ist, dass bereits zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung am 25.07.2019 das von ihr festgestellte Leistungsvermögen bestanden habe. Diese Einschätzung ist nicht überzeugend, sie wird von der Sachverständigen in der ergänzenden Stellungnahme nicht nachvollziehbar begründet. Sie kann hiermit insbesondere nicht zur Überzeugung des Senats belegen, dass sie, obwohl sie die Klägerin erstmals im Februar 2023, mithin also fast vier Jahre später, untersucht hat, eine solche rentenrelevante Leistungsminderung zu einem so frühen Zeitpunkt feststellen kann. Für den Eintritt eines Leistungsfalls in der Vergangenheit gilt, dass der Beweiswert einer rückschauenden Leistungsbeurteilung umso größer ist, je genauer seitens des Sachverständigen differenziert wird zwischen den anlässlich der (eigenen) Untersuchung getroffenen aktuellen Feststellungen und der daraus bezogen auf diesen Zeitpunkt abgeleiteten Beurteilung einerseits sowie der hiervon ausgehend - unter Zuhilfenahme von geeigneten Anknüpfungspunkten der medizinischen Berichtswesen - entwickelten Einschätzung hinsichtlich der Vergangenheit andererseits (Hessisches LSG, Urteil vom 07.08.2018 - L 2 R 21/16 - juris, Rn. 83). Eine solche Differenzierung und nachvollziehbare Einschätzung lässt sich der ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen aber gerade nicht entnehmen.

Auch aus den vorliegenden weiteren Unterlagen - auch weil über Jahre keine adäquate Therapie und auch keine fachärztliche Behandlung stattgefunden hat - lässt sich nicht ableiten, dass durchgehend seit Antragstellung ein Absinken des Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden vorgelegen hat. Vielmehr ist auffällig, dass vorliegend zwar im Jahr 2016 eine stationäre/ teilstationäre Behandlung der damals bestehenden Depressionen erfolgte. Im Anschluss ist dann aber über Jahre keine fachärztliche Behandlung dokumentiert. Eine erneute und dann aber auch nur einmalige Vorstellung bei einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat dann im November 2019 stattgefunden, der sich Anfang 2020 eine etwa sechsmonatige Psychotherapie mit elf Sitzungen angeschlossen hat. Auch wenn dem Klägervertreter dahingehend zuzustimmen ist, dass das Vorliegen entsprechender Therapiebemühungen nicht allein ausschlaggebend für die Frage einer aus psychischen Erkrankungen resultierenden quantitativen Leistungsminderung sein kann, lässt sich aber umgekehrt, in Fällen wie dem vorliegenden, bei fehlenden Therapiemaßnahmen gerade nicht belegen, dass zum damaligen Zeitpunkt bereits eine rentenrelevante Minderung des Leistungsvermögens eingetreten ist. Zum einen spricht das Fehlen entsprechender Behandlungsversuche gegen einen erheblichen Leidensdruck. Zum anderen können mangels fachärztlicher Behandlung keine weiteren Ermittlungen zum damaligen Leistungsvermögen erfolgen. Nicht zuletzt fand bei der Klägerin erst wieder nach dem 30.09.2019 eine Behandlung auf psychiatrischem Fachgebiet/ eine Psychotherapie statt, was ebenfalls für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes erst nach dem letztmöglichen Eintritt des Versicherungsfalles spricht.

Soweit die Sachverständige H1 zur Begründung des von ihr angenommenen Eintritts der Erwerbsminderung ausgeführt hat, dass seit 2018 Arbeitsunfähigkeit bestanden habe, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn aus einzelnen, wenn auch längeren Phasen der Arbeitsunfähigkeit, lässt sich nicht das Vorliegen einer Erwerbsminderung ableiten, d.h. eines Absinkens des Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden für die Dauer von wenigstens sechs Monaten. Darüber hinaus kann auch selbst dann, wenn tatsächlich (dauerhaft) Arbeitsunfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bestanden hätte, nicht abgeleitet werden, dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen ist, zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr zu verrichten. Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit stammt aus dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Arbeitsfähigkeit beurteilt sich nach anderen Maßstäben, nämlich allein orientiert an der letzten ausgeübten Tätigkeit, als die Erwerbsfähigkeit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung.

Nicht zuletzt hat die Klägerin selbst im Rahmen des Gerichtsverfahrens eine immer weitere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes beschrieben und angegeben, dass gerade die schweren Erkrankungen ihres Sohnes (Ende 2020) und dann zusätzlich die ihres Mannes im Jahr 2022 (vgl. Angaben beim Gutachter N1) zu einer weiteren Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes und der bestehenden Ängste und Sorgen beigetragen haben. Sie hat weiter geschildert, dass es dadurch zu weiteren Einschränkungen im Tagesablauf gekommen sei, sie könne sich nicht mehr so gut ablenken, Spaziergänge mit dem Hund seien weniger geworden und auch komme sie leichter an ihre körperlichen Grenzen. Es ist nachvollziehbar, dass diese (erheblichen) Belastungen zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes geführt haben, was auch die H1 bestätigt, indem sie beschreibt, dass die Störungen durch anhaltende (realistische) familiäre erhebliche Belastungen und eigene gesundheitliche Probleme unterhalten und verstärkt würden. Die Erkrankungen des Sohnes und des Ehemannes sind allerdings (weit) nach dem letztmaligen Vorliegen der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eingetreten, so dass sich hiermit nicht der Eintritt eines Versicherungsfalles bereits zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung belegen lässt.

Nach alledem hat die Klägerin nicht zur Überzeugung des Senats nachweisen können, dass bereits bis zum 30.09.2019 die medizinischen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente vorlagen.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit besteht im streitigen Zeitraum schon deshalb nicht, weil die Klägerin 1979 und damit nach dem maßgeblichen Stichtag des § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI geboren ist.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.    


 

Rechtskraft
Aus
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