Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 13. April 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die künftige Genehmigung der Versorgung des Klägers mit Cannabis und die Übernahme der dafür bereits in der Vergangenheit entstandenen Kosten.
Der am 00.00.000 geborene Kläger war seit ca. 0000 als selbständiger Fliesenleger tätig und bezieht derzeit Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Er ist bei der Beklagten seit dem Jahr 0000 krankenversichert. Zuvor war er seit dem Jahr 0000 privat krankenversichert. Er leidet unter anderem an Morbus Bechterew sowie einer Hüftdysplasie.
Am 30. März 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten zunächst mündlich, anschließend per E-Mail die Versorgung mit Medizinal-Cannabis in Blütenform. Er reichte mit der E-Mail unter anderem den Nachweis einer Erlaubniserteilung nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) vom 5. September 2016 und den diesbezüglichen Antrag auf Erlaubniserteilung durch den privatärztlich tätigen Herrn Q. vom 18. Juli 2016 ein.
Mit einer weiteren E-Mail vom 3. April 2017 reichte der Kläger einen von den Krankenkassen zur Verfügung gestellten, von E. (einem Vertragsarzt und Facharzt für Allgemeinmedizin) ausgefüllten und am 3. April 2017 unterzeichneten „Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V“ ein. Dieser teilte darin mit, dass die Hüftdysplasie beidseits und eine Coxa valga beidseits mit Cannabis behandelt werden sollen. Sämtliche Therapieverfahren seien bereits angewandt worden, aber wirkungslos gewesen. Medikamente seien zu stark gewesen oder es sei zu allergischen Reaktionen gekommen. Es finde eine Therapie durch Q. statt. Der Kläger verfüge im Zuge dieser Behandlung noch über eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG. Es sollte der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol 22% / Cannabidiol 1%, Handelsname Bedrocan / Pedanios 22/1, verordnet werden. Als Darreichungsform wurde die Inhalation angegeben. Die Einzeldosis betrage 0,4 g, die Tagesdosis 2,0 - 3,4 g und die Monatsdosis 80 - 109 g.
In einer E-Mail, deren Absendedatum in einer ausgedruckten Kopie in den Verwaltungsakten nicht abgebildet ist, teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie spätestens bis zum 8. Mai 2017 auf seinen Antrag zurückkommen werde.
Nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 24. April 2017 erläuterte der X. durch B. in seinem Gutachten vom 28. April 2017, dass es aus seiner Sicht bereits an einer schwerwiegenden Erkrankung fehle. Es sei ferner nicht plausibel, dass alle zugelassenen und zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien. Insbesondere sei kein orthopädisches Therapiekonzept unter Einbeziehung von physikalischer Therapie, Krankengymnastik, strukturierter nach World-Health-Organization (WHO)-Schema angelegter Schmerztherapie, ggf. unter Einbezug eines Schmerztherapeuten oder unter psychiatrischer/psychologischer Begleitung eingeleitet worden. Auch eine Medikamentenliste fehle.
Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers durch Bescheid vom 4. Mai 2017, einem Donnerstag, ab, der mit einfachem Brief an den Kläger versandt wurde. Ein „Ab-Vermerk“ ist in den Verwaltungsakten der Beklagten nicht enthalten.
Der Kläger legte dagegen mit einem nicht datierten Schreiben Widerspruch ein, der bei der Beklagten am 17. Mai 2017 einging. Das X.-Gutachten sei an mehreren Stellen unrichtig. Er habe Nachweise für weitere Behandlungen vorgelegt. Die bestehende Ausnahmegenehmigung nach dem BtMG werde nur erteilt, wenn man austherapiert sei. Er fügte außerdem seinem Widerspruchsschreiben unter anderem Rechnungen über manuelle Therapie bzw. Krankengymnastik, Medikamentenrechnungen, Arztberichte des Q. vom 10. April 2016 und 13. Juli 2016 sowie eine von ihm selbst erstellte Medikamentenliste bei. In dem Bericht vom 10. April 2016 führte Q. aus, dass sich der Kläger seit dem 10. April 2016 in seiner Behandlung befinde. Als Diagnosen seien ein chronisches Schmerzsyndrom, eine Hüftgelenksdysplasie links und ein Lendenwirbelsäulensyndrom zu stellen. Weiterhin führte er zur Behandlung, zu Medikamentennebenwirkungen und Unverträglichkeiten aus. Der Kläger konsumiere seit dem Jahr 2013 regelmäßig Cannabis. Es bestehe kein Anhalt für ein Compliance-Problem.
In einem zweiten von der Beklagten eingeholten X.-Gutachten vom 18. Juli 2017 führte V. aus, dass auch weiterhin nicht nachvollziehbar sei, warum es nicht zu einer strukturierten Therapie mit multimodalem Ansatz gekommen sei. Seit dem Jahr 2011 sei keine fachspezifische Behandlung der Hüftbeschwerden mehr erfolgt. Es lägen keine neuen medizinischen Erkenntnisse vor. Auch könne bisher keine erkennbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gesehen werden. Studien hätten bei diesem Krankheitsbild eine Überlegenheit der Cannabinoide nicht feststellen können.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 2017 als unbegründet zurück, der dem Kläger am 6. Dezember 2017 zugestellt wurde.
Dagegen hat der Kläger sich mit seiner Klage zum Sozialgericht Düsseldorf (SG) vom 5. Januar 2018 gewandt und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass er über eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 2 BtMG verfüge, welche allerdings nach der Gesetzesänderung zu § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) nicht mehr nutzbar sei. Durch die langjährige Einnahme von Cannabis sei bekannt, dass es gegen seine Schmerzen helfe. Er habe sämtliche konservativen Schmerzlinderungsmethoden ausprobiert. Diese hätten entweder zu keiner Schmerzlinderung geführt oder schwerwiegende Nebenwirkungen verursacht. Seit dem Jahr 2016 habe er mit seinem Vater eine Darlehensvereinbarung abgeschlossen, da er die Kosten der Cannabistherapie nicht habe zahlen können. Der Kläger hat Privatrezepte, die zunächst von Q. und sodann durch E. verordnet wurden, vorgelegt.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2017 zu verurteilen, ihm die beantragte Versorgung mit Bedrocan in einer Monatsdosis von 80 bis 100 g zu genehmigen sowie die Kosten für die bisher selbstbeschafften Arzneimittel auf Cannabisbasis ab Antragstellung zu erstatten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat auf ihre Bescheide und die eingeholten Gutachten des X. Bezug genommen.
Das SG hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt.
Der Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin Herr A. hat in einem Befundbericht vom 27. März 2019 mitgeteilt, dass der Kläger sich in den Jahren 2014 und 2015 drei Mal in seiner Behandlung befunden habe. Er leide seit Jahren unter Beschwerden der Lendenwirbelsäule (LWS) ohne eindeutige Veränderung. Es handele sich nicht um ein LWS-Syndrom, sondern um einen Bandscheibenprolaps im Bereich L5/S1. Er habe als Therapie eine Nervenwurzelbehandlung (PRT) und Wirbelkanalinjektion (PDI), systematisches Muskelaufbautraining, Krankengymnastik und ein minimalinvasives operatives Verfahren vorgeschlagen. Grundsätzlich sollten die konservativen Therapiemöglichkeiten durchgeführt werden, bevor eine reine Schmerztherapie in Erwägung gezogen werde.
Der Facharzt für Orthopädie Y. hat in einem Befundbericht vom 27. März 2019 mitgeteilt, dass er den Kläger in der Zeit von Juli 2009 bis Juli 2018 insgesamt fünf Mal behandelt habe. Eine durchgehende Therapie habe nicht stattgefunden.
E. hat in einem Befundbericht vom 26. März 2019 erklärt, dass sich der Kläger seit dem Jahr 2016 in seiner regelmäßigen Behandlung befinde. Als Therapiemöglichkeiten stünden grundsätzlich Medikamente im Rahmen einer symptomatischen Schmerztherapie und Physiotherapie zur Verfügung. Er sehe nach den angewandten Medikamenten und den diesbezüglichen (Miss-)Erfolgen und auch dem nicht erfolgreich versuchten, multimodalen Schmerztherapieschema nach WHO keine weiteren Therapieoptionen. Es seien zuletzt folgende Therapien durchgeführt worden: zunächst Novalminsulfon 500 mg bis zur Höchstdosis, Ibuprofen 4 x 400 mg, Arcoxia 60 mg (Höchstdosis), Tramadol 100 mg ret 1-0-0, zuletzt Cannabis 2,5 g in 6 Tagesdosen. Cannabis habe den besten Erfolg gehabt.
Q. hat in einem Befundbericht vom 28. April 2019 auf Vorbefunde und Anamnese Bezug genommen. Zu den grundsätzlichen Therapiekonzepten zählten neben Schmerzmitteln auch lokale Injektionen und Infiltrationen, ferner physikalische Therapie und Biologika. Weitere Therapieoptionen stünden nicht zur Verfügung. Das Schmerztherapieschema nach WHO sei nicht erfolgreich gewesen. Die verschiedenen nichtsteroidalen Antirheumatika (<NSAR>, Acetylsalizylsäure, Diclofenac, Ibuprofen, Paracetamol, Arcoxia <Etoricoxib>) seien unwirksam gewesen. Gegen Arcoxia habe der Kläger innerhalb von zwei Tagen eine allergische Reaktion entwickelt. Die lokalen Injektionen mit Xylocain hätten eine leichte Linderung gebracht, sie seien jedoch aufgrund des vergleichsweise ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses vom Arzt nicht weiter fortgeführt worden. Die Injektionen mit Diclofenac und Dexamethason hätten zu keiner relevanten Schmerzlinderung geführt. Tramadol habe eine leichte Linderung der Schmerzen bewirkt. Es seien jedoch Nebenwirkungen aufgetreten, darunter Übelkeit und Erbrechen, sodass das Präparat vom Arzt nach einer Woche abgesetzt worden sei. Ein Therapieversuch mit Targin (Wirkstoff: Oxycodon) habe bereits nach drei Tagen abgebrochen werden müssen. Die Schmerzen seien zwar gut gelindert worden, die Nebenwirkungen hätten jedoch denen von Tramadol mit zusätzlicher Müdigkeit und Konzentrationsstörungen entsprochen. Aufgrund der langjährigen Einnahme von Cannabis sei eine Toleranz bei dem Kläger entstanden, so dass höhere Dosen erforderlich seien.
In einem weiteren von der Beklagten eingereichten Gutachten vom 10. Januar 2020 hat der X. durch die Pharmakologin W. ausgeführt, dass verifizierbare Angaben zur Schmerzintensität, -häufigkeit und -lokalisation fehlten. Insofern könne keine Aussage getroffen werden, ob es sich bei der Schmerzerkrankung des Klägers um eine schwerwiegende Erkrankung handele. Hinsichtlich der bisherigen medikamentösen Therapie fehle es an detaillierten Angaben zu Wirkstoffart, Zeitraum der Behandlung, ggf. Kombinationen, teilweise zu der Dosierung sowie objektivierbaren Ergebnissen, insbesondere zu Nebenwirkungen. Auch bleibe unklar, wie sich die bisherige Medikamentengabe im Rahmen eines gesamttherapeutischen Konzepts gestaltet habe. Zudem seien die angegebenen Medikamente auch nicht anhand der Medikamentenliste der Beklagten nachvollziehbar, was sich auch nur teilweise dadurch erklären lasse, dass der Kläger in den Jahren von 0000 bis 00000 privat versichert gewesen sei. Hinsichtlich des nicht-medikamentösen Behandlungsansatzes ließen sich zwar Einzelleistungen (orthopädische Einlagen, Reizstrom, Krankengymnastik, Massage, Akkupunktur, etc.) erkennen, allerdings fehle auch hier ein Therapiekonzept. Teilweise seien die Behandlungen frühzeitig abgebrochen worden, ohne dass der Grund erkennbar sei. Es sei keine valide Beurteilung möglich, inwiefern noch nicht-medikamentöse Behandlungsansätze zur Verfügung stünden. Es sei ferner nicht ersichtlich, ob ein multimodales Therapiesetting zum Einsatz gekommen sei.
Das SG hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Orthopädie und spezielle Schmerzmedizin I. vom 17. Oktober 2020, das aufgrund einer ambulanten Untersuchung des Klägers vom 17. September 2020 erstellt wurde. Als Gesundheitsstörungen hat die Sachverständige bei dem Kläger u.a. Funktionsstörungen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule, einen Morbus Bechterew sowie eine geringgradige Funktionsbeeinträchtigung des linken Hüftgelenks genannt. Die Gesundheitsstörungen seien ohne Zweifel als schwerwiegende, aber nicht lebensbedrohliche Erkrankung einzuordnen. Eine medikamentöse Behandlung des Morbus Bechterew werde durch den Kläger wegen Nebenwirkungen abgelehnt. Er lehne zudem eine Operation der Hüftdysplasie ab. Auch sonst seien aus seiner Sicht alle Behandlungsoptionen ausgeschöpft. Aus Sicht der Sachverständigen sei der Kläger über Ausmaß, Intensität und Behandlungsmöglichkeiten seiner aktiven rheumatischen Erkrankung der Wirbelsäule nicht ausreichend informiert. Hinsichtlich des Morbus Bechterew sei primär eine entzündungshemmende Medikation zu beachten. Als Therapieoptionen kämen insoweit klassische nichtsteroidale Antirheumatika, teilweise Cortison, in Betracht. Spezifisch könnten auch am Immunsystem angreifende Medikamente (lang wirksame Antirheumatika), die die entzündungsfördernden Botenstoffe reduzieren, angewandt werden. Ein leitliniengerechtes Therapiekonzept sehe zunächst die Überwachung der Krankheitsaktivität durch Zuhilfenahme spezieller Fragebögen und Laboruntersuchungen vor. Es folge eine Kombination aus nichtpharmakologischen und pharmakologischen Maßnahmen, bei Erfolglosigkeit folge eine Therapie mit Biologika, welche bei Fortbestehen hoher entzündlicher Krankheitsaktivität genutzt werden könnten. Sowohl unter der Anwendung der Basistherapeutika als auch der Biologika könne eine Remission der Erkrankung erzielt werden. Eine weitere Schädigung der Wirbelsäule und der Kreuzdarmgelenke könne damit vermieden werden. Erst wenn der Einsatz dieser Präparate keinerlei Symptomkontrolle zeige und eine sehr schmerzhafte Entzündungsaktivität verbliebe, könne Cannabis angewandt werden. Allerdings seien ihr keine Studien bekannt, die eine tatsächliche Schmerzreduktion bei dieser Erkrankung wissenschaftlich nachgewiesen hätten. Der Kläger habe keine Kontraindikation bzgl. des Cannabiskonsums. Cannabis könne die Beschwerden zweifellos reduzieren; es wirke aber nicht auf die Folgen der Entzündungen an verschiedenen Gelenken (z.B. Gelenkversteifung); es sei daher auch nicht zum primären Einsatz der Behandlung dieser Erkrankung geeignet. Der leitliniengerechte Einsatz der stattdessen vorgesehenen Medikation habe bei dem Kläger aber nicht stattgefunden, sodass auch keine Aussagen zu etwaigen Nebenwirkungen bei ihm getroffen werden könnten. Die Diagnosen in den Arztberichten des Q. seien unvollständig. Die maßgebliche Erkrankung – Morbus Bechterew – fehle. Auch E. lasse die maßgebliche Diagnose außer Betracht. Die dort als schwerwiegend beschriebene Hüftdysplasie und die Fehlstellung beider Hüften habe sich nach ihren Funktionsbefunden nicht bestätigen lassen. Nicht nachvollziehbar sei auch seine Aussage, dass der Kläger medizinisch austherapiert sei. Nach den Unterlagen sei gerade keine längerfristige multimodale Schmerztherapie durchgeführt worden.
Der Kläger hat dazu ausgeführt, E. habe ihm mitgeteilt, dass die durch die Sachverständige angeregte Cortisontherapie nicht zielführend sei. Das Risiko einer dementsprechenden Dauertherapie stehe zum Nutzen außer Verhältnis. Auch die nichtsteroidalen Antirheumatika und/oder Coxibe seien bereits im Jahr 2016 frustran probiert worden. Auf die vom Kläger eingereichten Atteste des E. vom 19. Januar 2021 und 16. Februar 2021 wird verwiesen.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 6. Mai 2021 hat die Sachverständige ausgeführt, dass Aspirin, Novaminsulfon, Paracetamol, Opiate (Targin/Tramadol) und Injektionen mit Xylocain ungeeignet seien. Die Kombinationsinjektion aus Diclofenac und Dexamethason sei obsolet. Die Einnahme von Voltaren und Ibuprofen sowie Arcoxia sei möglich, aber ggf. nicht ausreichend. Zudem gehörten all diese Medikamente nicht zu einem leitliniengerechten Therapieansatz, wie sie ihn in ihrem Gutachten beschrieben habe. Der Kläger sollte sich in die Hand eines erfahrenen Rheumatologen begeben. Cannabis sei allenfalls ein „Add-on“, wenn die fachspezifische antirheumatische Therapie nicht greife.
Der Kläger hat daraufhin Stellungnahmen des Herrn Q. vom 10. und 31. Oktober 2021 zur aktuellen wissenschaftlichen Datenlage bei Cannabis und der Wirksamkeit bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen sowie den Langzeitnebenwirkungen von Biologika vorgelegt. Q. hat dabei ausgeführt, dass es zu dem Indikationskomplex chronisch-entzündliche Erkrankungen (lediglich) „erste kontrollierte klinische Studien“ gebe. Er hat eine Studie aus dem Jahr 2013 zu Morbus Crohn zitiert, woraus folge, dass Cannabis eine gute Alternative zu entzündungshemmenden Medikamenten darstellen könne. Zudem hat er auf Langzeitnebenwirkungen von Biologika hingewiesen. Auf die Stellungnahmen, auf die E. in einem Attest vom 11. November 2021 Bezug nimmt, wird im Übrigen verwiesen.
Mit Urteil vom 13. April 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein Anspruch nach § 31 Abs. 6 SGB V komme nicht in Betracht, weil es an einer begründeten Einschätzung eines Vertragsarztes mangele und eine Standardtherapie zur Verfügung stehe. Aus diesem Grund komme auch eine Kostenerstattung für die Vergangenheit nach § 13 Abs. 3 SGB V nicht in Betracht. Ein Kostenerstattungsanspruch komme auch nicht nach § 13 Abs. 3a SGB V in Frage. Zwar habe die Beklagte nicht innerhalb von Fünf Wochen entschieden (bei einer angenommenen Antragstellung am 30. März 2017). Die Beklagte habe den Kläger aber rechtzeitig darüber informiert, wann sie beabsichtige zu entscheiden und warum eine Entscheidung noch nicht möglich sei. Dieses Verfahren sei in § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V ausdrücklich vorgesehen und verhindere die Entstehung einer Genehmigungsfiktion.
Gegen das ihm am 12. Mai 2022 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 10. Juni 2022 eingelegten Berufung. Unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens trägt er ergänzend vor, dass Q. und E. plausibel dargestellt hätten, dass andere Behandlungsmethoden ausgeschöpft seien. Die Durchführung des geschilderten Therapiekonzepts sei ihm im Hinblick auf die schweren Nebenwirkungen nicht zumutbar. In der familiären Vorgeschichte fänden sich häufige Krebserkrankungen und Schlaganfälle. Mit Cannabis gehe es ihm gut, seine Schmerzen seien erträglich, seine Stimmungsschwankungen verschwunden. Erst durch die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) sei für einen Arzt nachvollziehbar geworden, wie genau er eine Verordnung begründen müsse. Insofern könne dies auch erst jetzt von ihm verlangt werden. Er habe zwischenzeitlich Termine bei einem Rheumatologen wahrgenommen. Dieser habe bestätigt, dass im Hinblick auf eine mögliche Behandlung des Morbus Bechterew keine Alternativen zu dem Medikament Hulio, einem Biologikum, existieren würden.
Zur weiteren Begründung seiner Berufung legt der Kläger Atteste von Q. und E. vor. Q. verweist in seinem Attest vom 10. Juni 2022 darauf, dass dem Kläger weder eine Langzeittherapie mit Cortison noch mit Biologika zumutbar sei. Entgegen der Ansicht der Sachverständigen bestätigten zwei Studien, dass THC und CBD auch entzündungshemmend seien. Er habe von der vorgeschlagenen Therapie mit Biologika wegen der teilweise tödlichen Nebenwirkungen abgeraten. E. erklärt in seinem Attest vom 11. Juli 2022, dass er ebenfalls von der Biologika-Gabe abrate.
Auf Nachfrage des Senats hat der Kläger erklärt, dass er keine Zugangsnachweise hinsichtlich des Bescheides vom 4. Mai 2017 gefunden habe und sich nicht erinnern könne, wann genau dieser Bescheid bei ihm eingegangen sei. Allerdings sei eine Bekanntgabefiktion nach § 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) wegen des fehlenden Ab-Vermerks nicht anzunehmen. Die Beklagte könne einen Zugang des Bescheides am 8. Mai 2017 oder davor nicht nachweisen. Er gehe davon aus, dass der Antrag bereits am 30. März 2017 gestellt worden sei. Aus den angehängten Dokumenten seien das begehrte Arzneimittel in Form von Cannabisblüten, der Wirkstoff, Angaben zur Dosis sowie die Verwendungsform ersichtlich gewesen. Auch seien durch die Vorlage von Behandlungsunterlagen Angaben zu der vorliegenden Erkrankung und deren Schwere gemacht worden.
Der Kläger hat die ihm entstandenen Kosten zuletzt auf 109.874,48 Euro beziffert. Auf die Medikamente entfallen nach seiner Kostenaufstellung 75.890,68 Euro, auf die geltend gemachten Zinsen 33.983,80 Euro. Auf die entsprechenden Apothekenrechnungen und sonstigen Kostennachweise wird Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 13. April 2022 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2017 zu verpflichten, die Genehmigung der vertragsärztlichen Versorgung mit Cannabisblüten der Sorte Bedrocan zu Inhalation bei einer Tagesdosis von 2,67 g zu erteilen und die Beklagte ferner zu verurteilen, ihm die bisher entstandenen Kosten in Höhe von 109.874,48 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Am 30. März 2017 habe der Kläger noch keine konkrete vertragsärztliche Verordnung bzw. eine Mitteilung über den Inhalt einer geplanten vertragsärztlichen Verordnung vorgelegt, demnach sei der Antrag zu diesem Zeitpunkt nicht hinreichend bestimmt gewesen. Der Arztfragebogen mit den inhaltlich konkreten Angaben zur geplanten vertragsärztlichen Verordnung des Herrn E. vom 3. April 2017 habe ihr an diesem Tag vorgelegen. Frühestens ab diesem Tag sei der Antrag hinreichend bestimmt gestellt worden. Nach der Dreitagesfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X sei der Bescheid vom 4. Mai 2017 dem Kläger spätestens am 8. Mai 2017 zugegangen. Der Bescheid sei an die der Beklagten bekannte Adresse des Klägers gesandt worden und darüber hinaus nicht von der J. als unzustellbar zurückgesandt worden. Der Eintritt der Genehmigungsfiktion sei demnach verhindert worden.
Auf Nachfrage des Senats zu den Umständen der Erstellung und Versendung des Bescheides vom 4. Mai 2017 und zu den üblichen Abläufen hinsichtlich der Versendung von Bescheiden hat die Beklagte – unter Vorlage eines Screenshots – mitgeteilt, dass die Entscheidung vom 4. Mai 2017 durch eine Mitarbeiterin aus der entsprechenden Fachabteilung morgens um 8:22 Uhr getroffen worden sei. Grundsätzlich könne der Ablauf in dieser Fachabteilung wie folgt beschrieben werden: Nach Erstellung werde der vorbereitete Bescheid in zweifacher Ausfertigung mit dem Umschlag für den Postversand dem Teamleiter vorgelegt. Nach Rücksprache habe der seinerzeit zuständige Teamleiter bestätigt, die ihm zur Prüfung vorgelegten vorbereiteten Bescheide zeitnah gesichtet und noch an demselben Tag zur Poststelle im Hause gegeben zu haben. Von dort aus würden die Poststücke ebenfalls an demselben Tag bis spätestens 15:30 Uhr an einen Kurier der J. übergeben, der die Post täglich bis zu diesem Zeitpunkt bei der Beklagten abgeholt habe. Der zuständige Teamleiter habe versichert, dass diese Verfahrensweise bei abgehenden Bescheiden absolute Priorität gehabt habe, um den Postabgang am Tag der Entscheidung über das Anliegen der Versicherten und der Erstellung der Bescheide an diese sicherzustellen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Beklagte ergänzt, dass Bescheide, für die § 13 Abs. 3a SGB V gelte, zeitnah nach dem Vier-Augen-Prinzip erstellt und nach Prüfung durch den Teamleiter noch am Tag der Erstellung zur Post gegeben würden. Über die Bedeutung und die Handhabung der Fristen nach § 13 Abs. 3a SGB V seien ihre Mitarbeiter seit Einführung der Norm und auch laufend informiert worden, es gebe auch Informationsveranstaltungen dazu in ihrem Hause. Dies sei auch schon im Jahr 2017 der Fall gewesen.
Die J. AG hat auf Nachfrage des Senats in E-Mails vom 24. und 25. Oktober 2024 zu den üblichen Postlaufzeiten und etwaigen Störungen im Zustellbezirk des Klägers im Streitzeitraum Folgendes mitgeteilt: In dem besagten Zeitraum vom 4. bis 8. Mai 2017 hätten keine Besonderheiten oder betrieblichen Störungen vorgelegen, sodass davon auszugehen sei, dass die reguläre Zustellung erfolgt sei. Die Zustellung erfolge an allen Tagen von Montag bis Samstag (ausgenommen Feiertage). Da der nachgefragte Zeitraum mehr als sieben Jahre zurückliege, seien Detailangaben nicht mehr möglich. Einzelne Störungen im Betriebsablauf – z. B. plötzliche Erkrankungen von Zustellkräften, Transportverspätungen oder sonstige, nicht zu beeinflussende Störungen – träten immer wieder auf. Störungen größeren Ausmaßes aus diesem Zeitraum gingen aus ihren Unterlagen nicht hervor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung.
Entscheidungsgründe:
A. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Diese ist zulässig, aber unbegründet.
I. Die Klage ist zulässig.
1. Für das auf (künftige) Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung sowie auf Kostenerstattung für das bereits selbstbeschaffte Medizinal-Cannabis gerichtete Begehren des Klägers ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (Genehmigung) sowie die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (Kostenerstattung) im Rahmen der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) statthaft (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 8). Kosten werden dabei in Höhe von insgesamt 109.874,48 Euro geltend gemacht.
2. Die Klage ist fristgerecht am 5. Januar 2018 binnen eines Monats nach der am 6. Dezember 2017 erfolgten Zustellung des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2017 erhoben worden (§ 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG).
II. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid vom 4. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2017 (§ 95 SGG) ist nicht rechtswidrig und beschwert den Kläger nicht. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf (künftige) Versorgung mit Cannabis (dazu 1.) noch auf Erstattung der bislang entstandenen Kosten (dazu 2.).
1. Ein Anspruch des Klägers auf Genehmigung nach der allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 31 Abs. 6 SGB V besteht nicht. Nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bei der ersten Verordnung für einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
a. Der Anspruch scheitert zunächst daran, dass noch eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (Standardtherapie) im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a) SGB V zur Verfügung steht. Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung, wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R – BSGE 96, 170, Rn. 31; BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R – BSGE 97, 190, Rn. 22) oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 2021 – B 1 KR 25/20 R – BSGE 132, 67, Rn. 42; BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 9/22 R – juris, Rn. 22).
Ob es zur Behandlung der Erkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Therapie überhaupt gibt, bestimmt sich nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin (Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 22. März 2022 – L 11 KR 3804/21 – juris, Rn. 27). Gibt es danach eine Standardtherapie, scheidet sie aus, wenn die Therapie bereits zu schwerwiegenden Nebenwirkungen im Sinne des Art. 1 Nr. 12 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (RL 2001/83/EG), wie etwa stationärer Behandlungsbedürftigkeit oder deren Verlängerung, geführt hat oder ein erhebliches Risiko solcher Nebenwirkungen im Fall des Patienten besteht (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R – BSGE 96, 170, Rn. 31; BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 23).
aa. Es stehen noch Therapien zur Behandlung des beim Kläger festgestellten Morbus Bechterew zur Verfügung. Nach dem Sachverständigengutachten von Frau I. kommen – unter Bezugnahme auf die S3-Leitlinie „Axiale Spondyloarthritis inklusive Morbus Bechterew und Frühformen“ (AWMF-Leitlinien Register-Nr.: 060/003, Version: 2019) – als leitliniengerechte Therapiekonzepte zum einen die Überwachung der Krankheitsaktivität durch Zuhilfenahme spezieller Fragebögen und Laboruntersuchungen und zum anderen eine Kombination aus nichtpharmakologischen und pharmakologischen Maßnahmen in Betracht. Das Mittel der ersten Wahl sind dabei nichtsteroidale Antirheumatika und/oder Coxibe; ggf. kann zusätzlich Cortison gegen die Entzündungen verabreicht werden. Anschließend erfolgt eine Behandlung mit Basistherapeutika, z.B. mit Sulfasalazin. Bei Erfolglosigkeit und dem Fortbestehen hoher entzündlicher Krankheitsaktivität kommt eine Therapie mit Biologika in Betracht. Erst wenn der Einsatz dieser Präparate keinerlei Symptomkontrolle zeigt und eine sehr schmerzhafte Entzündungsaktivität verbleibt, ist nach der Einschätzung der Sachverständigen, der sich der Senat anschließt, eine Cannabistherapie indiziert.
Die Standardtherapiemaßnahmen waren bei dem Kläger nicht erfolglos, denn sie wurden bei ihm zu einem wesentlichen Anteil noch nicht angewandt. Dem Sachverständigengutachten von Frau I. ist insoweit zu entnehmen, dass der Kläger die sog. Basistherapeutika nicht getestet hat, sodass auch keine Aussagen zu etwaigen Nebenwirkungen bei ihm getroffen werden können. Dem Vortrag des Klägers ist zudem zu entnehmen, dass auch Biologika noch nicht zum Einsatz kamen.
bb. Anders als der Kläger meint, ist ihm die Inanspruchnahme des oben genannten leitliniengerechten Therapiekonzepts nicht unzumutbar. Eine Therapievariante ist dem Versicherten dann nicht zumutbar, wenn er sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen. Die erstgenannte Variante ist unerheblich, da der Kläger sie nicht versucht hat. Die letztgenannte Variante ist auch nicht erfüllt. Sie liegt – wie oben angeführt – nur vor, wenn die Therapie bereits zu schwerwiegenden Nebenwirkungen im Sinne des Art. 1 Nr. 12 RL 2001/83/EG geführt hat oder ein erhebliches Risiko solcher Nebenwirkungen im Fall des Patienten besteht (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 23). Es bestehen nach den Ausführungen der Sachverständigen I. bisher keine objektivierbaren Anhaltspunkte dafür, dass abstrakt bzw. bezogen auf den Kläger ein erhebliches Risiko von schwerwiegenden Nebenwirkungen besteht, wenn das leitliniengerechte Therapiekonzept angewandt wird. Der Senat schließt sich dieser Einschätzung der Sachverständigen nach eigener Prüfung ausdrücklich an.
Der Senat kann dahinstehen lassen, ob die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Therapiealternativen letztlich (auch) eine Frage der begründeten vertragsärztlichen Einschätzung im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b) SGB V ist und insofern in ihrer Bewertung dem verordnenden Vertragsarzt obliegt. Dafür spricht, dass Krankenkassen und Gerichte nicht befugt sind, ggf. gutachterlich gestützt, die Anwendbarkeit einer Standardtherapie im Fall des Versicherten selbst abschließend zu beurteilen (vgl. BSG vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 37, 39). Auch in diesem Gesichtspunkt erreichen die zu bewertenden ärztlichen Stellungnahmen allerdings nicht die Erfordernisse einer begründeten Einschätzung (siehe dazu sogleich).
b. Die Voraussetzungen einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b) SGB V liegen nicht vor.
aa. Relevanter Austeller der begründeten Einschätzung kann nur der verordnende Vertragsarzt sein (BSG, Beschluss vom 3. April 2023 – B 1 KR 112/21 B – juris, Rn. 5 m.w.N.). Verordnende Ärzte sind nach Aktenlage Q. und E., wobei erstgenannter als allein privatärztlich tätiger Arzt keine begründete Einschätzung abgeben kann.
bb. Der gerichtliche Prüfungsmaßstab hinsichtlich der Bewertung einer begründeten Einschätzung ist dabei eingeschränkt. Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Insbesondere steht es Krankenkassen und Gerichten nicht zu, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Vertragsarztes zu setzen (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 37).
Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen einer begründeten vertragsärztlichen Einschätzung ist die letzte mündliche Verhandlung. Sie kann noch im gerichtlichen Verfahren ergänzt werden. Der Versicherte hat die begründete Einschätzung als Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs beizubringen. Das Gericht ist nicht verpflichtet, im Rahmen von § 103 SGG beim behandelnden Vertragsarzt eine begründete Einschätzung oder ihre Ergänzung um bisher nicht berücksichtigte Umstände anzufordern. Als Ergebnis eines ärztlichen Abwägungs- und Entscheidungsprozesses stellt sie keine Tatsache dar, die durch das Gericht mit den zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln erforscht werden könnte (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 39).
(1) Auch, wenn das Gesetz dem behandelnden Vertragsarzt eine Einschätzungsprärogative zugesteht, sind an die begründete Einschätzung hohe Anforderungen zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 24 ff.). Der notwendige Inhalt der begründeten Einschätzung bestimmt sich nach dem Wortlaut von § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V und den aus dem Betäubungsmittel- und Arzthaftungsrecht abzuleitenden Vorgaben (BSG, a.a.O., Rn. 32). Der Wortlaut der Norm gibt bereits vor, dass die zu erwartenden oder bereits aufgetretenen Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden, allgemein anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen und der Krankheitszustand darzustellen sind (BSG, a.a.O., Rn. 33). Dies ist dahin zu konkretisieren, dass der Krankheitszustand mit den bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf. unter Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte zu beschreiben ist. Hierzu gehört auch ein evtl. Suchtmittelgebrauch in der Vergangenheit sowie das Bestehen oder der Verdacht einer Suchtmittelabhängigkeit. Der Vertragsarzt muss die mit Cannabis zu behandelnde(n) Erkrankung(en), ihre Symptome und das angestrebte Behandlungsziel sowie die bereits angewendeten Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen benennen (BSG, a.a.O., Rn. 33). Der Vertragsarzt kann dazu auch seine Patientendokumentation und die Befunde anderer behandelnder Ärzte der begründeten Einschätzung beifügen und auf diese verweisen. Das Behandlungsziel muss entweder in einer Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome der Erkrankung bestehen (BSG, a.a.O., Rn. 33). Die Abwägung der Anwendbarkeit von Standardtherapien erfordert es, dass der Vertragsarzt überdies alle noch verfügbaren Standardtherapien benennt und deren zu erwartenden Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen darlegt. Im Ergebnis müssen sämtliche verfügbare Standardtherapien entweder durch den Vertragsarzt bereits erfolglos angewendet worden sein oder in die Abwägung einbezogen werden (BSG, a.a.O., Rn. 34). Auf der Grundlage der dargelegten Tatsachen ist die Abwägung der Nebenwirkungen der noch verfügbaren Standardtherapien mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis vorzunehmen (BSG, a.a.O., Rn. 35). In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen (BT-Drs. 18/8965, 24). Aus der Abwägung des Vertragsarztes muss hervorgehen, warum zu erwartende Nebenwirkungen bei dem beschriebenen Krankheitszustand des Patienten auch im Hinblick auf das mögliche Erreichen der angestrebten Behandlungsziele nicht tolerierbar sind oder warum keine hinreichende Aussicht auf Erreichen des Behandlungsziels besteht, weil etwa Arzneimittel mit vergleichbarem Wirkmechanismus erfolglos geblieben sind. Die Abwägung schließt ein, auch bei dem Krankheitszustand des Patienten mögliche schädliche Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis zu erfassen und mit den Nebenwirkungen einer Standardtherapie abzuwägen (BSG, a.a.O., Rn. 36; vgl. ferner die zusammenfassende Darstellung der Mindestinhalte einer begründeten ärztlichen Einschätzung bei: BSG, Urteil vom 29. August 2023 – B 1 KR 26/22 R – juris, Rn. 14):
Entgegen der Auffassung des Klägers gelten die voranstehenden Anforderungen nicht erst seit der Veröffentlichung der Urteile des BSG vom 10. November 2022 (B 1 KR 28/21 R, B 1 KR 21/21 R, B 1 KR 9/22 R und B 1 KR 19/22 R). Diese Vorgaben gelten für die begründete vertragsärztliche Versorgung bereits seit Inkrafttreten der Regelung und wurden nur zeitlich später vom BSG entsprechend definiert. Eine Beschränkung der Anwendung höchstrichterlicher Entscheidung auf die Zukunft kommt im Wesentlichen nur bei einer Änderung ihrer rechtlichen Grundlagen in Betracht; das ist hier jedoch nicht der Fall (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. April 1999 – B 9 V 16/98 R – juris, Rn. 21, m.w.N.).
(2) Die oben genannte Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer begründeten Einschätzung ist auch nicht durch das zum 1. April 2024 in Kraft getretene Cannabisgesetz (CanG) vom 27. März 2024 (BGBl. I, Nr. 109, S. 1 ff.) überholt. Mit Inkrafttreten des CanG sind Cannabis und Dronabinol – anders als Nabilon – keine Betäubungsmittel mehr. Die entsprechenden Positionen wurden aus der Anlage III des BtMG gestrichen (Art. 3 Nr. 8 CanG, BGBl. I, Nr. 109, S. 42). Dadurch unterfallen die gestrichenen Mittel weder § 13 Abs. 3 Satz 1 BtMG noch der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass die strengen Anforderungen an die begründete Einschätzung des Vertragsarztes abgesenkt oder modifiziert werden müssten (so auch: Müller-Götzmann, in: BeckOGK, SGB V, Stand: 15.11.2024, § 31, Rn. 144 ff.). Der Einführung des CanG liegt eine neue Risikobewertung durch den Gesetzgeber zugrunde (vgl. BT-Drs. 20/8704, 68, 74, 93, 108). Allerdings hat der Gesetzgeber den Tatbestand des § 31 Abs. 6 SGB V nicht geändert, sodass seine Risikobewertung im Hinblick auf die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter mit Cannabis unverändert geblieben ist (Müller-Götzmann, a.a.O., Rn. 145). Der Gesetzgeber hält ausdrücklich fest, dass die Regelungen im SGB V, die den Versicherten unter den dort genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln geben, unverändert blieben (BT-Drs. 20/8704, 2 f., 74; BT-Drs. 367/23, S. 2, 79). Für dieses Ergebnis spricht auch, dass das BSG im Rahmen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b) SGB V unter anderem Bezug nimmt auf die Anforderungen des Betäubungsmittelrechts und der Gesetzgeber sich bei der Bewertung von Cannabis zu medizinischen Zwecken weiterhin an den Regelungen des BtMG orientiert (vgl. BT-Drs. 20/8704, 151). Selbst wenn man die betäubungsmittelrechtliche Argumentation des BSG für überholt hielte, sind die strengen Anforderungen des BSG auf die weiteren Begründungselemente zu stützen, namentlich die fehlende Evidenz zur Wirksamkeit der Therapie und die Gründe des Patientenschutzes (Müller-Götzmann, a.a.O., Rn. 147).
(3) Unter Berücksichtigung der o.g. Grundsätze stellen die maßgeblichen Stellungnahmen des verordnenden Vertragsarztes E. keine begründete Einschätzung im Sinne des Gesetzes dar. Sie erfüllen weder einzeln noch in der Gesamtschau die vorgenannten Voraussetzungen. Das gilt auch dann, wenn E. sich die Einschätzungen des privatärztlich tätigen Q. zu eigen gemacht hätte und diese in die Prüfung einbezogen würden.
(a) Im Arztfragebogen des Herrn E. vom 3. April 2017 fehlt eine Dokumentation des klägerischen Krankheitszustandes. Er enthält eine nur unzureichende Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen. So findet sich lediglich der Hinweis auf die Hüftdysplasie und eine Coxa valga. Weiterhin enthält der Fragebogen eine nur unzureichende Darstellung der angewendeten Standardtherapien. Es finden sich pauschale Hinweise auf „sämtliche Therapieverfahren, die angewandt worden seien“ und dass Therapien wirkungslos oder Medikamente zu stark gewesen seien. Welche Therapieansätze und Medikamente dies waren, geht aus der Stellungnahme nicht hervor. Bei den Medikamenten fehlen Angaben zu Dauer, Dosierung, Erfolg und etwaigen Nebenwirkungen. Noch verfügbare Standardtherapien werden nicht aufgezeigt. Eine Abwägung fehlt.
(b) Im Befundbericht des E. vom 26. März 2019 fehlt weiterhin die Dokumentation des Krankheitszustandes, obgleich sich nunmehr eine Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen und ein Hinweis auf die rheumatische Erkrankung findet. Allerdings werden auch hier die angewendeten Standardtherapien unzureichend dargestellt. E. verweist nur auf „Medikamente im Rahmen der symptomatischen Schmerztherapie und Physiotherapie“ und das auch nur pauschal und zudem nicht leitliniengerecht bzgl. des Morbus Bechterew, wie sich aus einem Vergleich mit dem Sachverständigengutachten und der S3-Leitlinie ergibt. Weiterhin fehlen bei den Medikamenten Angaben zu Dauer, Intensität und Nebenwirkungen. Zum Erfolg werden nur pauschale Aussagen getroffen. Es fehlen der Hinweis zu noch verfügbaren Standardtherapien und die Abwägung.
(c) Im Rahmen des Attestes vom 19. Januar 2021 stellt E. allein auf abstrakte Nebenwirkungen einer Cortisontherapie im Hinblick auf das Sachverständigengutachten von Frau I. ab. Sämtliche oben genannten Anforderungen an eine begründete Einschätzung werden nicht erfüllt. Der Arzt hat die Sachverständige offenbar auch falsch verstanden. Cortison als eine Therapieoption soll nach den Ausführungen der Sachverständigen weniger gegen Schmerzen, sondern vielmehr gegen die Entzündungsaktivität wirken. Auch von einem dauerhaften Cortisoneinsatz spricht die Sachverständige nicht.
(d) In dem Attest vom 16. Februar 2021 findet sich der alleinige Hinweis des E., dass eine Therapie mit NSAR und Coxiben in 2016 frustran probiert worden sei. Die weitere Therapie halte er nicht für zielführend. Medikamentenangaben finden sich erneut ohne Angaben zu Dauer, Intensität, Erfolg und Nebenwirkungen. Auch die weiteren Voraussetzungen an eine begründete Einschätzung sind nicht erfüllt.
(e) In dem Attest vom 11. November 2021 nimmt E. Bezug auf die Stellungnahmen des Q. vom 10. und 31. Oktober 2021, soweit sie die Ausführungen zur Schmerztherapie und die Nebenwirkungen von Biologika betreffen. Auch wenn der Senat zugunsten des Klägers diese Stellungnahmen des Q. bei der Prüfung der begründeten vertragsärztlichen Einschätzung einbezieht, folgt daraus kein anderes Ergebnis.
In der Stellungnahme vom 10. Oktober 2021 finden sich abstrakte Ausführungen zu der wissenschaftlichen Datenlage bei Cannabis und dessen Wirksamkeit bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen ohne Bezugnahme auf die Situation des Klägers. Q. verweist selbst darauf, dass es zu dem Indikationskomplex chronisch-entzündlicher Erkrankungen lediglich „erste kontrollierte klinische Studien“ gebe; zitiert wird eine Studie aus dem Jahr 2013 zu Morbus Crohn. Daraus folgt für ihn indes, dass Cannabis eine gute Alternative zu entzündungshemmenden Medikamenten darstellen könne. In der Stellungnahme vom 31. Oktober 2021 referiert er zudem abstrakt über die Langzeitnebenwirkungen von Biologika, ohne auf die konkrete gesundheitliche Lage des Klägers einzugehen.
Diese Stellungnahmen erfüllen nicht die Anforderungen an eine begründete Einschätzung. Zunächst unterstellt Q. der Sachverständigen Aussagen, die diese nicht getätigt hat. Die Sachverständige hat sich nicht generell gegen den Einsatz von Cannabis ausgesprochen, sondern die Therapie als „Add-on“ bezeichnet. Q. geht ferner von Langzeitnebenwirkungen bei Biologika aus. Biologika sind nach dem vorgestellten Therapiekonzept allerdings nicht das erste Mittel der Wahl und werden nach der S3-Leitlinie stetig kontrolliert. Letztlich legt Q. eine andere Definition der relevanten Nebenwirkungen zu Grunde als die höchstrichterliche Rechtsprechung. Es bedarf danach des erheblichen Risikos von Nebenwirkungen im konkreten Fall des Patienten (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R – BSGE 135, 89, Rn. 23). Die Referierung eines abstrakten Risikos anhand des Arzneimittel-Beipackzettels ist ungenügend.
Daher fehlen im Hinblick auf die oben genannte Definition der begründeten Einschätzung die Dokumentation des Krankheitszustandes, eine ausreichende Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, eine ausreichende Darstellung der bei dem Kläger angewendeten Standardtherapien, eine ausreichende Darstellung der noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und ggf. auftretende Nebenwirkungen, sowie eine Abwägung u.a. mit dem Abwägungsaspekt „Nebenwirkung Cannabis“.
(f) In dem Attest vom 11. Juli 2022 nimmt E. erneut Bezug auf die Ausführungen von Q. und erläutert selbst nur pauschal, dass die Einnahme von Biologika zu einer erheblichen Reduktion der Lebensqualität führe. Er sehe zudem nicht ein, weshalb er eine aus seiner Sicht erfolgreiche Therapie umstellen solle.
In der in Bezug genommenen Stellungnahme vom 10. Juni 2022 setzt sich Q. nochmals mit abstrakten Nebenwirkungen einer Dauertherapie mit Cortison und/oder Biologika auseinander. Bei den aufgeführten Nebenwirkungen von Cortison findet sich stets der Hinweis „Häufigkeit nicht berichtet“, so dass das abstrakte Risiko bereits nicht einschätzbar und insofern aus seiner Sicht nicht zumutbar sei.
Hinzuweisen ist zunächst darauf, dass Q. die Nebenwirkungen der Biologika einem Beipackzettel eines einzigen Biologikums „Adalimumab“ entnimmt, so dass nicht erkennbar ist, inwieweit seine Aussagen repräsentativ sind. Dessen ungeachtet sind seine Aussagen bereits deshalb wenig überzeugend, da er sich fachfremd, punktuell und lediglich oberflächlich mit einem durch die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) und den beteiligten medizinisch-wissenschaftlichen (insgesamt zwölf) Fachgesellschaften entwickeltes, dem allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Therapiekonzept und den dort für die Behandlung der klägerischen Erkrankung zugelassenen Arzneimitteln kritisch beschäftigt. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei den Biologika um für die Erkrankung zugelassene Arzneimittel handelt und der Sinn einer Zulassung gerade darin besteht, die Gesundheit der Patienten wirksam zu schützen, fehlt es bei Q. an jeglicher Risikoanalyse in Bezug auf die bestehenden Erkrankungen des Klägers, bereits durchgeführte Therapien und aufgetretene Nebenwirkungen. Insofern hat er nicht einmal einen Status quo der Behandlung erhoben. Nähere Angaben zu gehäuften Krebserkrankungen oder Schlaganfällen in der Familienanamnese fehlen. Es wird bereits nicht mitgeteilt, um wie viele Fälle es sich handelt, welche Krebsart betroffen war, welcher Verwandtschaftsgrad vorlag und ob es eine wissenschaftliche fundierte Analyse der Risikoerhöhung bei dem Kläger durch diese Vorbelastung gibt. Dabei sind die fehlende Substantiierung der Nebenwirkungen erfolgter oder noch offener Standardtherapien nur ein Aspekt der begründeten Einschätzung, der fehlt.
c. Da der Anspruch bereits daran scheitert, dass die Standardtherapien nicht ausgeschöpft sind und eine begründete Einschätzung eines Vertragsarztes nicht vorliegt, kann der Senat dahinstehen lassen, ob der Kläger unter einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V leidet oder ob durch die Cannabistherapie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 SGB V).
2. Ein Kostenerstattungsanspruch für die in der Vergangenheit entstandenen Kosten kann weder auf § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V (dazu a.) noch auf § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V gestützt werden (dazu b.).
a. Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V besteht nicht. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Erstattung von Kosten für eine notwendige, selbstbeschaffte Leistung, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Variante 1) oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind (Variante 2). Ein Anspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V setzt in beiden Regelungsvarianten einen entsprechenden Primärleistungsanspruch voraus. Der Anspruch setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (st. Rspr., vgl. etwa BSG, Urteil vom 24. September 1996 – 1 RK 33/95 – BSGE 79, 125 – juris, Rn. 12; BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R – BSGE 97, 190 – juris, Rn. 11 m.w.N.). Ein Sachleistungsanspruch besteht, wie voranstehend erörtert, nicht. Auf die weiteren Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V kommt es daher nicht an.
b. Schließlich besteht auch kein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V. Nach § 13 Abs. 3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistung zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (Satz 1). Wenn die Krankenkasse eine gutachterliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu informieren (Satz 2). Kann die Beklagte Fristen u.a. nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 7).
Die Genehmigungsfiktion vermittelt dem Versicherten eine Rechtsposition sui generis. Diese erlaubt es ihm, sich die beantragte Leistung nach Fristablauf bei Gutgläubigkeit zu Lasten der Krankenkasse selbst zu beschaffen und verbietet es der Krankenkasse, nach erfolgter Selbstbeschaffung eine Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – BSGE 130, 200, Rn. 10 ff.; BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 6/21 R – juris, Rn. 12 f.).
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V setzt voraus, dass der Versicherte die Leistung hinreichend bestimmt beantragt hat (dazu aa.), die Krankenkasse über den Leistungsantrag nicht fristgerecht entschieden hat (dazu bb.), der Versicherte sich die beantragte Leistung nach Fristablauf selbst beschafft hat, ihm hierdurch Kosten entstanden sind, er im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von einem etwaigen Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs hatte (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – BSGE 130, 200, Rn. 22 ff.) und im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch noch nicht bindend entschieden wurde oder sich der Antrag anderweitig erledigt hat (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 27, 29 ff.) (dazu cc.).
aa. Ein hinreichend bestimmter Antrag lag erst am 3. April 2017 vor.
Im Zusammenhang mit der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V kommt dem Leistungsantrag eine Doppelfunktion als Verfahrenshandlung und als materiell-rechtliche Voraussetzung zu (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 18/18 R – juris, Rn. 19; BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 1/18 R – BSGE 126, 258, Rn. 17). Die Genehmigungsfiktion kann nur greifen, wenn der Antrag so bestimmt gestellt ist, dass die auf Grundlage des Antrages fingierte Genehmigung ihrerseits hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X ist. Die Anforderungen an die notwendige Bestimmtheit richten sich im Einzelnen nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts. Auch der Umfang des Kostenerstattungsanspruchs muss durch die fingierte Genehmigung hinreichend bestimmt umschrieben sein. Ein Antrag ist im Regelfall bereits dann hinreichend bestimmt, wenn das Behandlungsziel eindeutig ist, auch wenn mehrere Möglichkeiten zur Erfüllung der Leistungspflicht zur Verfügung stehen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – BSGE 123, 293 ff., Rn. 18).
Bei Anträgen nach § 13 Abs. 3a SGB V i.V.m. § 31 Abs. 6 SGB V ist die Angabe aller Verordnungsdaten erforderlich, die für eine bei einer Apotheke zu Lasten der Krankenkasse einlösbare Verordnung von Cannabis notwendig sind. Die danach mit dem Antrag bereits anzugebenden Verordnungsdaten ergeben sich aus § 13 Abs. 3 Satz 1 BtMG i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 3-5 BtMVV. Erforderlich sind insoweit die Arzneimittelbezeichnung, ggf. zusätzlich die Bezeichnung und Gewichtsmenge des enthaltenen Betäubungsmittels je Packungseinheit, bei abgeteilten Zubereitungen je abgeteilter Form sowie die Darreichungsform, die Menge des verschriebenen Arzneimittels in Gramm oder Milliliter, die Stückzahl der abgeteilten Form und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesangabe (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 9/22 R – juris, Rn. 36 f.).
(1) Der Antrag des Klägers vom 30. März 2017 enthält die Verordnungsdaten nicht. Soweit der Kläger auf den Antrag auf Erlaubniserteilung nach dem BtMG durch Q. vom 18. Juli 2016 Bezug nimmt, den er als Anlage seinem Antrag vom 30. März 2017 beigefügt hat, handelt es sich nicht um Verordnungsdaten im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V. Die ärztliche Stellungnahme ist nicht zwecks Beantragung einer Genehmigung der Verordnung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V erfolgt und steht damit weder zeitlich noch sachlich im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Begehren. Die ärztliche Stellungnahme vom 18. Juli 2016 diente vielmehr allein der Prüfung der Voraussetzungen der Erlaubniserteilung nach § 3 Abs. 2 BtMG.
(2) Der von E. am 3. April 2017 ausgefüllte und am selben Tag vom Kläger bei der Beklagten eingereichte Arztfragebogen genügt dagegen den an einen hinreichend bestimmten Antrag gestellten Anforderungen. Aus ihm ergibt sich die Arzneimittelbezeichnung, hier in Gestalt der Wirkstoffangabe (Tetrahydrocannabinol 22 %/ Cannabidiol 1 %), Handelsname (Bedrocan/ Pedanios 22/1), ferner die Darreichungsform (Inhalation) sowie die Angabe der Monats- (80 - 109 g), Tages- (2,0 - 3,4 g) und Einzeldosis (0,4 g).
bb. Der Kostenerstattungsanspruch scheitert indes daran, dass die Beklagte fristgerecht innerhalb der hier maßgeblichen fünfwöchigen Frist nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V über den Antrag entschieden hat. Die Fünfwochenfrist ist einschlägig, wenn – wie hier – eine gutachtliche Stellungnahme des X. eingeholt wird und die Leistungsberechtigten hierüber unverzüglich unterrichtet werden. Diese unverzügliche Unterrichtung erfolgte bereits mit E-Mail der Beklagten vom 3. April 2017. Einen Zugang dieser E-Mail hat der Kläger nicht bestritten. Auch sonst liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die E-Mail dem Kläger nicht zugegangen sein könnte.
Für den Fristbeginn ist stets der Tag maßgeblich, an dem der (hinreichend bestimmte) Antrag bei der Krankenkasse eingegangen ist (BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 9/22 R – juris, Rn. 32 ff., 42). Die Frist begann daher gemäß § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) am 4. April 2017 und endete gemäß § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB am 8. Mai 2017, einem Montag. Diese Frist hat die Beklagte gewahrt. Dies ergibt sich zwar nicht aus der Dreitagesfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X (dazu <1>), allerdings ist der Senat nach den Umständen des Einzelfalles von einer Bekanntgabe des Bescheides beim Kläger spätestens am 8. Mai 2017 überzeugt (dazu <2>). Maßgeblich für die Fristwahrung ist dabei der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides beim Adressaten (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – BSGE 123, 293, Rn. 29).
(1) Auf den Eintritt der Dreitagesfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X kann eine rechtzeitige Bekanntgabe des Bescheides vom 4. Mai 2017 nicht gestützt werden. Danach gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Dies gilt nach § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Der Anwendungsbereich der Bekanntgabefiktion ist erst eröffnet, wenn der Tag zur Aufgabe des Verwaltungsakts nachweisbar ist. Das geschieht regelmäßig dadurch, dass die Behördenakten einen Vermerk über die Aufgabe zur Post enthalten, durch den der Zeitpunkt, an dem der Verwaltungsakt zur Post gegeben wurde, dokumentiert wird. Fehlt ein entsprechender Vermerk über den Tag der Aufgabe des Schriftstückes zur Post, tritt grundsätzlich keine Bekanntgabefiktion ein (BSG, Urteil vom 28. November 2006 – B 2 U 33/05 R – BSGE 97, 279, Rn. 15; BSG, Urteil vom 3. März 2009 – B 4 AS 37/08 R – juris, Rn. 17). Erforderlich ist nach der Rechtsprechung ein sog. Ab-Vermerk, aus dem sich die Aufgabe zur Post ersehen lässt. Nicht ausreichend ist ein bloßes Handzeichen bzw. eine Paraphe des Sachbearbeiters (LSG Nordrhein-Westfalen <NRW>, Beschluss vom 15. November 2011 – L 7 AS 1382/11 B – juris Rn. 4; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2011 – L 10 AS 534/11 B – juris, Rn. 3). Bei fehlendem Ab-Vermerk muss die Behörde den Zugang nachweisen. Einen solchen Ab-Vermerk gibt es nicht. Dies hat die Beklagte ausdrücklich bestätigt. Soweit die Beklagte erklärt hat, dass Bescheide in der zuständigen Fachabteilung regelhaft noch am Tag der Erstellung zur Post gegeben würden, kann das den fehlenden Ab-Vermerk nicht ersetzen. Andernfalls würden die gesetzlichen Voraussetzungen und die Beweislastverteilung nach § 37 Abs. 2 Satz 1 und 3 SGB X umgangen.
Auch kann nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises davon ausgegangen werden, dass der Kläger den Bescheid noch bis zum 8. Mai 2017 erhalten haben muss, weil bei der Beklagten kein Postrücklauf zu verzeichnen war und nach statistischen Erhebungen mindestens 80 % der Briefe ihr Ziel bereits nach einem Werktag bzw. 95 % nach zwei Werktagen erreichen. Der fehlende Postrücklauf ist für den Zugang bis zum 8. Mai 2017 unerheblich. Es besteht ferner keine Vermutung für den rechtzeitigen Zugang eines mit einfachem Brief übersandten Schreibens. Auch wenn nach der Lebenserfahrung die weitaus größte Anzahl der abgesandten Briefe beim Empfänger innerhalb eines oder von zwei Werktagen ankommt, ist damit lediglich eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit für den rechtzeitigen Zugang einer Briefsendung gegeben. Der Anscheinsbeweis ist aber nicht schon dann geführt, wenn verschiedene Möglichkeiten eines Geschehensablaufs in Betracht zu ziehen sind, von denen die eine wahrscheinlicher ist als die andere. Denn die volle Überzeugung des Gerichts vom Zugang lässt sich auf eine – wenn auch große – Wahrscheinlichkeit grundsätzlich (allein) nicht gründen (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. August 2009 – L 1 AL 18/09 – juris, Rn. 23; LSG NRW, Beschluss vom 16. Juli 2020 – L 21 AS 574/20 B – juris, Rn. 11; vgl. auch Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 37 Rn. 34 m.w.N.; a.A. <unter Hinweis auf die geringen Verlustquoten bei der Post>: VG Minden, Urteil vom 30. Januar 2011 – 6 K 362/00 – juris, Rn. 28 f. m.w.N.).
(2) Liegen die Voraussetzungen der Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X damit nicht vor, hat im Streitfall das Gericht den Sachverhalt unter Berücksichtigung des Vortrages des Adressaten des Verwaltungsaktes aufzuklären und die festgestellten und unstreitigen Umstände im Wege freier Beweiswürdigung gegeneinander abzuwägen. Der der Behörde obliegende Beweis für die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes kann auf Indizien gestützt und im Wege freier Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) geführt werden (LSG NRW Beschluss vom 16. Juli 2020 – L 21 AS 574/20 B – juris, Rn. 11; LSG Hamburg, Urteil vom 22. November 2023 – L 2 AL 18/21 – juris, Rn. 28; Engelmann, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 37 Rn. 34).
Der Senat geht unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten und des Akteninhalts nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§§ 153 Abs. 1, 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) davon aus, dass der Bescheid vom 4. Mai 2017 dem Kläger bis zum 8. Mai 2017 zugegangen ist und damit bekanntgegeben wurde. Für dieses Ergebnis spricht zunächst die Darstellung der Beklagten zum Zeitpunkt der Erstellung des Bescheides vom 4. Mai 2017 und zu den gewöhnlichen Abläufen bzgl. der Erstellung eines Bescheides und seiner Übergabe an die Deutsche Post AG am jeweiligen Tag der Erstellung. Die Beklagte hat durch Vorlage eines Screenshots für den Senat hinreichend belegt, dass der Bescheid am Morgen des 4. Mai 2017 um 8:22 Uhr erstellt wurde. Der Senat geht infolgedessen davon aus, dass der Bescheid angesichts der üblichen Abläufe bei der Beklagten am selben Tag (4. Mai 2017) an die Deutsche Post übergeben wurde. Die Darstellung dieser Abläufe durch die Beklagte ist glaubhaft und lebensnah, weil die strenge Einhaltung der geschilderten Abläufe insbesondere vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V Sinn macht. Dass die Genehmigungsfiktion ein wesentliches Motiv für diese Abläufe ist, hat die Beklagte durch ihre Vertreterin im Termin zur mündlichen Verhandlung gegenüber dem Senat ausdrücklich bestätigt. Der Kläger hat Einwände gegen die Darstellung der Abläufe in der mündlichen Verhandlung nicht mehr aufrechterhalten.
Der Senat geht ferner davon aus, dass der am 4. Mai 2017 der Post übergebene Bescheid spätestens am 8. Mai 2017 dem Kläger zuging. Für diese Annahme spricht, dass nach § 2 Nr. 3 Satz 1 Postuniversaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vom 15. Dezember 1999 (in der hier maßgeblichen Fassung vom 7. Februar 2002 bis 18. Juli 2024) die Deutsche Post AG und andere Unternehmen, die Universaldienstleistungen im Briefverkehr anbieten, sicherstellen müssen, dass sie an Werktagen aufgegebene Inlandsendungen im gesamten Bundesgebiet im Jahresdurchschnitt mindestens zu 80 % am ersten und zu 95 % am zweiten Tag nach der Einlieferung ausliefern. Diese Quoten lassen die Einhaltung der Postlaufzeiten erwarten (Bundesgerichtshof <BGH>, Beschluss vom 20. Mai 2009 – IV ZB 2/08 – juris, Rn. 8; BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2010 – IX ZB 73/10 – juris, Rn. 15). Eine zu 95 % eingehaltene Postlaufzeit ist als übliche Postlaufzeit anzusehen. Die verbliebenen 5 % sind gerade diejenigen Abweichungen, die dem Konzept „regelmäßig/üblich/normal“ innewohnen und ihm nicht entgegenstehen (Bundesfinanzhof <BFH>, Zwischenurteil vom 27. Juli 2022 – II R 30/21 – juris, Rn. 12). Der Absender darf auf diese Postlaufzeit nur dann nicht mehr vertrauen, wenn er konkrete Anhaltspunkte dafür besitzt, dass sie nicht eingehalten werde (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2019 – VI ZB 19/19 – juris, Rn. 10). Das kann der Fall sein, wenn festzustellen ist, dass die Deutsche Post AG den allgemeinen Vorgaben der PUDLV strukturell nicht mehr genügt, oder wenn im konkreten Einzelfall Besonderheiten dem üblichen Lauf entgegenstehen (Streik, höhere Gewalt) (BFH, Zwischenurteil vom 27. Juli 2022 – II R 30/21 – juris, Rn. 13). Solche Anhaltspunkte sind vorliegend nicht ersichtlich. Die Deutsche Post AG hat auf Anfrage des Senats bestätigt, dass sie im Streitzeitraum sowohl samstags als auch montags Post zugestellt habe und für den angefragten Streitzeitraum keine größeren Störungen im Zustellbezirk des Klägers dokumentiert seien. Zudem lagen vorliegend zwischen der Aufgabe zur Post am 4. Mai 2017 und dem Fristende am 8. Mai 2017 drei Werktage (Freitag, Samstag und Montag), sodass mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom rechtzeitigen Zugang auszugehen ist (vgl. zu diesem Maßstab: BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R – BSGE 113, 205, Rn. 33; Hübschmann, in: BeckOGK, SGG, Stand: 01.11.2024, § 128, Rn. 24; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 128, Rn. 3b). Selbst wenn der Bescheid erst am Freitag, den 5. Mai 2017, von der Post weiterbefördert worden wäre, wovon der Senat nicht ausgeht, blieben mit dem Samstag und Montag zwei volle Werktage, innerhalb derer nach der o.g. statistischen Wahrscheinlichkeit von 95 % ein Zugang anzunehmen ist.
Für dieses Ergebnis spricht schließlich, dass der Kläger einen Zugang des Bescheides bis zum 8. Mai 2017 nicht in Abrede gestellt, sondern nur erklärt hat, sich nicht daran erinnern zu können, wann der Zugang erfolgte. Er hat daher nicht positiv behauptet, dass ihm der Bescheid nicht fristgerecht zugegangen sei. Angesichts der von der Beklagten in der E-Mail vom 3. April 2017 in Aussicht gestellten Entscheidung bis zum 8. Mai 2017 wäre zudem zu erwarten gewesen, dass der Kläger bei einem bis zu diesem Zeitpunkt nicht zugegangenen Bescheid Nachfrage bei der Beklagten hält, was nicht geschehen ist. Ferner ist zu berücksichtigen, dass der anwaltlich vertretene Kläger zu keinem Zeitpunkt während des laufenden Gerichtsverfahrens die Nichteinhaltung der Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V behauptet oder geltend gemacht hat. Erst durch die entsprechende Prüfung durch den Senat ist die Rechtsfrage ins Verfahren eingeführt und erörtert worden.
(3) Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V nicht einschlägig ist. Kann die Krankenkasse danach Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Die E-Mail der Beklagten vom 3. April 2017, in der sie auf den Antrag vom selben Tag eingegangen ist und auf das Fristende am 8. Mai 2017 hingewiesen hat, war keine Mitteilung über die Nichteinhaltung der Frist. Vielmehr hat sie dem Kläger die Einschaltung des Medizinischen Dienstes mitgeteilt, was die fünfwöchige Frist nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V in Gang gesetzt hat.
cc. Da der Anspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V bereits an einer fristgemäßen Entscheidung scheitert, kommt es auf die weiteren Anspruchsvoraussetzungen nicht an. Dazu gehören der Umfang und die Höhe der erstattungsfähigen Kosten, die Frage einer Vorfestlegung auf die Leistung und ihrer Auswirkungen auf den Anspruch sowie die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers von einem etwaigen Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
C. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), bestehen nicht