S 10 P 180/23 LP

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 180/23 LP
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

 

T a t b e s t a n d :

Streitgegenständlich ist die rückwirkende Gewährung von Landespflegegeld.

Mit Antrag vom 02.04.2023, eingegangen beim Beklagten am 05.04.2023, wurde für die Klägerin Landespflegegeld nach dem Bayerischen Landespflegegeldgesetz rückwirkend ab 01.06.2019 beantragt, mit der Begründung, die Klägerin habe am 10.03.2023 ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Augsburg erhalten, wonach sie seit 01.06.2019 Anspruch auf Leistungen nach Pflegegrad 2 habe. Da die Pflegekasse zuvor keinen Pflegegrad anerkannt habe, könne der Antrag erst jetzt gestellt werden. Beigefügt war dem Antrag die Niederschrift zum Termin zur mündlichen Verhandlung vom 10.03.2023 vor dem SG Augsburg im dortigen Verfahren S 9 P 28/22, in der die dortige beklagte Pflegekasse unter anderem zur Leistungsgewährung nach Pflegegrad 2 ab 01.06.2019 verurteilt worden war. Die Klägerin war auch im dortigen Verfahren von ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten vertreten.

Mit Bescheid vom 30.05.2023 bewilligte der Beklagte der Klägerin Landespflegegeld ab dem Pflegejahr 2022/2023. Mit ergänzendem Schreiben vom 31.05.2023 führte der Beklagte aus, nach der gesetzlichen Regelung sei die Antragstellung für das Pflegegeldjahr 2018/2019 nur bis zum 31.12.2019 möglich gewesen, entsprechendes gelte für die Folgejahre. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei insoweit nicht beantragt oder möglich, die bloße Unwissenheit oder Unkenntnis der Voraussetzungen reiche hierfür nicht aus, auch wäre der Antrag innerhalb von 2 Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen gewesen.

Hiergegen wandte sich die bevollmächtigten Tochter der Klägerin mit Schreiben vom 05.06.2023, mit dem Vortrag, Grund für die verspätete Antragstellung sei ein langwieriger Rechtstreit mit der Pflegekasse gewesen, das Urteil bezüglich der Zuerkennung eines Pflegegrads sei erst im März 2023 ergangen. Der Beklagte legte das Vorbringen als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Antrag auf Gewährung von Landespflegegeld für die Pflegegeldjahre 2018/2019, 2019/2020, 2020/2021 und 2021/2022 aus, den er mit Bescheid vom 06.07.2023 ablehnte: Der Klägerin, die ja selbst vom Vorliegen eines entsprechenden Pflegegrads ausgegangen sei, wäre es möglich gewesen, den Antrag beim Beklagten zugleich mit dem Antrag bei der Pflegekasse zu stellen, das Verfahren beim Beklagten wäre dann bis zum Abschluss des Verfahren wegen des Pflegegrads ruhend gestellt worden.
Hiergegen wurde für die Klägerin mit Schreiben vom 11.07.2023 Widerspruch erhoben, mit dem Vortrag, eine frühere Antragstellung sei nicht möglich gewesen, da die Klägerin bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht gewusst habe, welcher Pflegegrad festgestellt würde. Mit Schreiben vom 20.07.2023 hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Zurückweisung des Widerspruchs an: Zwar werde im Antragsvordruck unter anderem der Bescheid zur Feststellung des Pflegegrads verlangt, es würden aber auch formlose Antragsschreiben oder unvollständige Anträge akzeptiert. Hätte die Klägerin beim Beklagten nachgefragt, wäre sie auch entsprechend informiert worden. Nachfolgend wurde der Widerspruch gegen den Bescheid vom 06.07.2023 mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.2023 als unbegründet zurückgewiesen.

Dagegen richtet sich die am 06.09.2023 zum Sozialgericht Augsburg erhobene Klage, zu deren Begründung vorgetragen worden ist, zwar sei aus formaljuristischer Sicht nach Art 3 Bayerisches Landespflegegeldgesetz (BayLPflGG) der Antrag bis spätestens zum 31.12. des laufenden Jahres zu stellen um für das vergangene Pflegegeldjahr Leistungen beanspruchen zu können. Aber gemäß Art. 2 BayLPflGG sei zwingende Voraussetzung der Nachweis, dass der Antragsteller an mindestens einem Tag des Pflegegeldjahres mindestens im Umfang von Pflegegrad 2 pflegebedürftig gewesen sei. Diesen Nachweis habe die Klägerin erst mit der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren wegen Pflegegeld führen können. Außerdem verweise Art 4 BayLPflGG auf die allgemeinen Voraussetzungen: Gemäß § 40 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) würden Ansprüche entstehen, sobald die gesetzlich bestimmten Voraussetzungen vorlägen, gemäß § 41 SGB I würden Ansprüche mit ihrem Entstehen fällig. Diese bundesrechtlichen Vorgaben hätten Vorrang vor den landesrechtlichen Bestimmungen, es sei daher Landespflegegeld auch rückwirkend ab dem Pflegegeldjahr 2018/2019 auszuzahlen.

Die Klägerin beantragt,
 
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06.07.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2023 zu verurteilen, der Klägerin Landespflegegeld nach dem Bayrischen Landespflegegeldgesetz rückwirkend ab dem Pflegegeldjahr 2018/2019 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

  die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Ansicht, der Klägerin wäre es möglich und zumutbar gewesen, den Antrag rechtzeitig zu stellen. Sie hätte bei Kontaktaufnahme mit dem Beklagten wie auch auf dessen Internetseite die Information erhalten, dass der Antrag zur Fristwahrung auch unvollständig eingereicht werden könne. Dass die Klägerin gerichtlich gegen die Einstufung durch die Pflegekasse vorgegangen sei, zeige, dass sie selbst mindestens vom Vorliegen des Pflegegrads 2 ausgegangen sei. Bis zur endgültigen Entscheidung über den Pflegegrad wäre dann das Verfahren beim Beklagten ruhend gestellt worden.

Für die Klägerin ist hiergegen eingewandt worden, der Anspruch auf Landespflegegeld sei aufgrund der Regelung in Art 2 Abs.1 BayLPflGG an die Vorlage des Leistungsbescheids der Pflegeversicherung geknüpft. Soweit gemäß Satz 2 der Regelung als maßgeblicher Zeitpunkt die Antragstellung benannt werde, betreffe dies nur Fälle der Wohnsitzverlagerung, im Umkehrschluss aber nicht den Nachweis des Pflegegrads. Hier habe die Klägerin erstmals mit der gerichtlichen Entscheidung und dem in der Folge ergangenen Leistungsbescheid der Pflegeversicherung nachweisen können, dass sie in den Pflegegrad 2 eingestuft sei. Auch durch die Regelung in Art 2 Abs. 3 BayLPflGG, wonach Landespflegegeld nur gewährt werde, wenn die Pflegebedürftigkeit nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Regelung von der Pflegekasse oder von einem Versicherungsunternehmen, das eine private Pflege-Pflichtversicherung durchführt oder von einem Träger der Sozialhilfe festgestellt ist, werde klargestellt, dass nur derjenige zur Antragstellung berechtigt sei, der einen entsprechenden Bescheid vorlegen könne. Die Verwaltung werde damit ausdrücklich an die Feststellung der Pflegeversicherung gebunden, diese Bindungswirkung sei nicht auf die Zeit ab Antragstellung beschränkt. Mit den gesetzlichen Regelungen solle gerade zum Ausdruck gebracht werden, dass nicht jede Person, die einen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt habe, auch zur Beantragung von Landespflegegeld berechtigt sei; ein solcher Antrag solle vielmehr erst mit positivem Leistungsbescheid gestellt werden.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Klage ist nicht begründet, der gegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Auszahlung des Landespflegegelds auch für Zeiträume vor dem Pflegegeldjahr 2022/2023.

Gemäß Art 1 Abs. 1 BayLPflGG in der Fassung vom 24.07.2018, geändert am 24.05.2019, hat Anspruch auf Landespflegegeld für das jeweilige Pflegegeldjahr, wer
1. den Vorgaben des Bundesmeldegesetzes (BMG) entsprechend mit seiner alleinigen Wohnung oder Hauptwohnung im Freistaat Bayern gemeldet ist und
2. nachweist, dass er an mindestens einem Tag des Pflegegeldjahres in einem Umfang von mindestens Pflegegrad 2 pflegebedürftig war.
Absatz 2 der Regelung legt als Pflegegeldjahr den Zeitraum vom 1. Oktober eines Jahres bis zum 30. September des Folgejahres fest. Gemäß Art 2 Abs. 3 BayLPflGG wird Landespflegegeld nur gewährt, wenn die Pflegebedürftigkeit nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Reglung von der Pflegekasse oder von einem Versicherungsunternehmen, das eine private Pflege-Pflichtversicherung durchführt, nach § 18 SGB XI oder von einem Träger der Sozialhilfe nach § 62 SGB XII festgestellt ist. Das Landespflegegeld beträgt 1 000 Euro pro Pflegegeldjahr, Art 2 Abs. 4 Satz 1 BayLPflGG.

Art. 3 Satz 1 BayLPflGG bestimmt, dass das Landespflegegeld schriftlich bis zum Ablauf von drei Monaten nach Ende des jeweiligen Pflegegeldjahres beim Landesamt für Pflege (Landesamt) zu beantragen ist. Die Regelung begründet nach ihrem klaren Wortlaut das Erfordernis der Antragstellung als Voraussetzung für den Leistungsbeginn. Eine abweichende Auslegung als (Umkehr-)schluss aus den Regelungen in Art. 2 des BayLPflGG, wie dies die Klägerin vornehmen möchte, kann keinesfalls entgegen der insoweit eindeutigen gesetzlichen Regelung in Art. 3 BayLPflGG erfolgen, ebenso wenig ein Rückgriff auf allgemeine Regelungen des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I), soweit diese bereits nach dem Wortlaut der klägerseits zitierten Regelung des Art. 4 Abs. 2 BayPflGG nur insoweit Anwendung finden können, als das BayLPflGG selbst keine ausdrückliche Regelung trifft. Eine solche ausdrückliche Regelung des Erfordernisses der Antragstellung ist aber in Art 3 BayLpflGG gerade erfolgt.

Zwar ist Voraussetzung für den Anspruch auf Gewährung von Landespflegegeld gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 2 BayLPflGG dann auch der Nachweis des entsprechenden Pflegegrads, dies hindert aber keinesfalls die rechtzeitige Antragstellung und gegebenenfalls Nachreichung der anspruchsbegründenden Unterlagen, wie dies allgemein und regelmäßig in Verwaltungsverfahren der Fall ist. Insoweit wird auch in der Gesetzesbegründung zum Bayerischen Landespflegegeldgesetz (LT-Drs. 17/22033, 2. Nachtragshaushalt, S.37) ausdrücklich ausgeführt, dass es für die Gewährung des Landespflegegeldes ausreiche, dass die Pflegebedürftigkeit erst nach Ablauf des Pflegejahres festgestellt werde, wenn der Antrag auf Landespflegegeld fristgerecht gestellt werde. Hier ging der Antrag auf Landespflegegeld erstmals am 05.04.2023 und damit erstmals im Pflegegeldjahr 2022/2023 beim Beklagten ein, zu Recht hat der Beklagte daher Landespflegegeld erstmals für das Pflegegeldjahr 2022/2023 gewährt und den weitergehenden Antrag auf Gewährung Landespflegegeld rückwirkend auch für die Pflegegeldjahre ab 2019 wegen der insoweit nicht rechtzeitigen Antragstellung abgelehnt.

Insoweit war der Klägerin auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 27 Abs. 1 SGB X ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ein Verschulden ist dem Beteiligten nicht vorzuwerfen, wenn er mit der Sorgfalt gehandelt hat, die einem gewissenhaft Handelnden nach den Umständen des Einzelfalls vernünftigerweise zuzumuten ist. Auch leichte Fahrlässigkeit genügt um Verschulden anzunehmen. Der Maßstab hierfür ist subjektiv, es kommt jedoch nicht auf die tatsächliche Rechtskenntnis an. Insoweit gilt, dass bei ausdrücklicher gesetzlicher Regelung einer Frist bei deren Versäumnis ein Verschulden grundsätzlich anzunehmen und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich dieser Frist ausgeschlossen ist (vgl. Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl., § 27 SGB X, Stand: 15.11.2023, Rn. 35 m.w.N.). Unterliegt der Beteiligte einem Rechtsirrtum, kommt es für die Wiedereinsetzung darauf an, ob dieser auch bei sorgfältiger Prüfung unvermeidbar war. Dies ist regelmäßig zu verneinen, weil es jedem zuzumuten ist, sich fachkundigen Rat einzuholen, insbesondere auch bei der entsprechenden Behörde nachzufragen (vgl. jurisPK, a.a.O.).

Hier ist die Klägerin selbst nach ihrem Klageantrag im Verfahren zum Az.: S 9 P 28/22 vom Vorliegen der Voraussetzungen des Pflegegrads 2 ausgegangen, die Klägerin hätte daher bereits mit Beantragung des Pflegegelds beim Beklagten die Gewährung auch von Landespflegegeld beantragen können. Der Umstand, dass zu dem Zeitpunkt noch nicht feststand, ob die Klägerin auch tatsächlich Leistungen nach Pflegegrad 2 erhält, hätte lediglich dazu geführt, dass das Antragsverfahren beim Beklagten zunächst ruhend gestellt worden wäre. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin auch bei Rückfrage beim Beklagten eine entsprechende Auskunft erhalten hätte, andernfalls hätte eine Falschberatung gegebenenfalls zu entsprechenden Ansprüchen der Klägerin geführt. Eine solche Rückfrage war der Klägerin, soweit sie selbst vom Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ausgegangen ist, jedenfalls zuzumuten.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB X der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen und die versäumte Handlung innerhalb der Antragsfrist nachzuholen ist, § 27 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Ausgehend vom Vortrag der Klägerin selbst wäre jedenfalls mit Entscheidung im Verfahren S 9 P 28/22 am 10.03.2023 das nach Meinung der Klägerin vorliegende Hindernis für die Antragstellung weggefallen, soweit dort der Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2 festgestellt worden war. Ab diesem Zeitpunkt wäre es der Klägerin auch nach ihrem Vortrag jedenfalls möglich gewesen, innerhalb von zwei Wochen sowohl einen Antrag auf Wiedereinsetzung als auch einen Antrag auf Landespflegegeld zu stellen. Der Antrag auf Landespflegegeld ging jedoch erst am 05.04.2020 beim Beklagten ein.

Ein weitergehender Anspruch der Klägerin ist daher insgesamt nicht begründet, die Klage war abzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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